Parlamentswahl mit Anhang

Von Michael Frantzen · 11.10.2012
Am kommenden Sonntag wird in Litauen gewählt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Regierungschef Kubilius die Quittung für seinen Sparkurs präsentiert bekommt, ist hoch. Zugleich entscheiden die Litauer auch über den Bau eines neuen Atomkraftwerks in Visaginas, für den sich Kubilius stark gemacht hat.
Auto-Mechaniker, Bankkauffrau, Sekretärin: Wer sich in der litauischen Retortenstadt Visaginas ausbilden lassen will, ist bei Laima Rakavieskine an der richtigen Adresse. Die Frau im lila Blazer und den farblich abgestimmten Fingernägeln ist stellvertretende Leiterin der Berufsschule hier. Bis nach Vilnius, in die Hauptstadt, sind es gut 160 Kilometer, nach Weißrussland keine zwanzig. An der Garderobe ihres Büros künden goldene Krawatten samt eingravierter Jahreszahlen von diversen Abschlussfeiern. Ist hier so Tradition. Vom Fenster aus fällt der Blick auf zwei Gebäude, die hinter Planen auf Vordermann gebracht werden – und Fichten und Kiefern, die dem nicht enden wollenden Nieselregen zu trotzen versuchen. Trübe sind auch die Aussichten für die Berufsschule.
"Unser Budget ist gekürzt worden. Die Finanzkrise, wissen Sie'! Entlassen haben wir noch niemanden, aber die Lehrer bekommen Überstunden nicht mehr bezahlt. Wir sind auch Opfer der demografischen Krise. Vor fünf Jahren hatten wir noch fast tausend Schüler, heute sind es 760. Das liegt aber nicht nur daran, dass junge Litauer immer weniger Kinder bekommen, sondern auch an Ignalina. Ende 2009 wurde ja der letzte Reaktor unseres Atomkraftwerks abgeschaltet. Viele der 3000 Entlassenen sind weggegangen, deren Kinder fehlen uns. Statt gut 30.000 Menschen leben jetzt nur noch etwas mehr als 22.000 bei uns."

Visaginas und das Atomkraftwerk Ignalina: Jahrzehnte lang war das ein und das selbe. Als Laima Rakavieskine 1989 hierher kam, lag Visaginas noch in der "Sowjetrepublik Litauen" und war eine hermetisch abgeriegelte Stadt, die ein Jahrzehnt zuvor für die 5000, meist russischen Atom-Experten aus dem sumpfigen Boden gestampft worden war. Groß, größer, Ignalina: Allein Block Zwei zählte mit einer Kapazität von 1320 Megawatt zu den leistungsstärksten Atommeilern weltweit. Alles Geschichte! Erst zerbrach die Sowjetunion, fast zwei Jahrzehnte später kam das Aus für Ignalina. Silvester 2009 zog die litauische Regierung auf EU-Druck den Stecker. Zu gefährlich. Die späte Erkenntnis: Die zwei Meiler waren baugleich mit dem Tschernobyl-Unglücksreaktor. Zurück blieb ein Ort, dem die Daseinsberechtigung abhanden gekommen war. Doch seit Ende Juni keimt wieder Hoffnung auf.

Ein neues, fünf Milliarden teures Atomkraftwerk, anvisierte Inbetriebnahme 2020, in: Visaginas, unweit der zwei alten Meiler. Natürlich hat auch Berufsschülerin Iva Martinkianike von den Plänen von Ministerpräsident Andrius Kubilius gehört. Billigen Strom verspricht der Konservative, der bei der Parlamentswahl am kommenden Sonntag um seine Wiederwahl bangen muss. Das Ziel: der größte der drei Balten-Staaten will sich aus der "energiepolitischen Umklammerung Russlands" lösen. Seit Ignalina abgeschaltet ist, bezieht Litauen, ähnlich wie Lettland und Estland, einen Großteil seiner Energie vom östlichen Nachbarn – zu überhöhten Preisen. Haben sie letztens im Wirtschaftsunterricht besprochen. Erkärt Iva – bevor die 18jährige über den ellenlangen Flur der Berufsschule hastet, zum Psychologie-Unterricht. Wie üblich findet er zwei-sprachig statt: Auf Litauisch und Russisch. Die gebürtige Russin im grauen Kapuzen-Shirt zuckt die Schultern: Sie kann beides.

"Es wäre natürlich super, wenn das neue Atomkraftwerk gebaut würde. Angeblich sollen ja 6000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Ohne Atomkraft hat unsere Stadt doch keine Überlebenschance. Meine Mutter arbeitet noch im stillgelegten Block, aber die Abrissarbeiten werden ja irgendwann abgeschlossen sein. Und dann? Es wäre wirklich schade um Visaginas. Wenn meine Cousinen aus Vilnius uns besuchen, sind sie jedes Mal aufs Neue begeistert: Wow! Ihr braucht wirklich nur zwei Minuten bis in den Wald?! Und den See habt ihr auch direkt vor der Haustür?! Klasse! Ohne das neue AKW sehe ich schwarz. Ohne Nuklear-Energie wird unsere Stadt früher oder später sterben."

Atomkraft – Ja, Danke! Was in Deutschland Stirnrunzeln hervorruft, gehört in Visaginas zum guten Ton. Selbst ernannter "Lautsprecher" der Pro-Atom-Bewegung ist Dalia Shtraupaite. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Die Bürgermeisterin von der liberalen Zentrumsunion ist nicht gerade eine Frau der leisen Töne – sei es, wenn sie vom Besprechungstisch ihres Riesen-Büros aus einem ihrer drei anwesenden Mitarbeitern unmissverständlich zu verstehen gibt, dass er jetzt besser mal sofort an ihr wie wild klingelndes, weißes Iphone geht, das sie auf dem Schreibtisch vergessen hat; sei es bei ihrem Lieblingsthema.

"Es war ein Riesen-Fehler, Ignalina abzuschalten. Was hat unsere Regierung denn schon für die entlassenen Atom-Spezialisten getan' Sie hat es sich einfach gemacht – und ihnen eine Abfindung in die Hand gedrückt. Aber langfristig'! Kein einziger ist umgeschult worden. Dann die Versprechungen, neue Betriebe anzusiedeln. Gut: Ikea hat eine Möbelfabrik auf gemacht, aber: Glauben Sie wirklich, hoch qualifizierte Ingenieure würden sich dafür hergeben, aus Holz irgendwelche 'Billy'-Regale zu basteln?! Ich bitte Sie. Wir propagieren schon seit Jahren, bei uns eine Freihandelszone einzurichten, um nationale und internationale Unternehmen anzulocken. Aber ein entsprechendes Gesetz liegt im Parlament auf Eis. Warum auch immer."
E: Litauisch

Von 3,9 Prozent 2008 ist die Arbeitslosigkeit in Visaginas auf 13,2 Prozent gestiegen, im umliegenden Bezirk sind es sogar fast zwanzig. Nirgendwo sonst in dem Dreimillionen-Land sind mehr Menschen ohne Arbeit. Bürgermeisterin Shtraupaite schüttelt die blond gefärbte Mähne: Nicht ihre Schuld! Die Fußgängerzone wird gerade generalüberholt, am See ein neues Sportstadion gebaut. Wenn hier einer Jobs schafft, dann sie. Sie springt auf und geht mit Riesen-Schritten zur Vitrine mit den durchsichtigen Glasfiguren. Sie greift sich eine: "Hier", meint sie: "Unser Zukunft!" In dem massiven Klotz mit der Aufschrift "Visaginas" schimmern fünf weiße Kügelchen, die mit blauen Bändern verbunden sind. Eine Kugel für Visaginas, zwei für die Atom-Reaktoren, die in Ignalina in Betrieb waren, die restliche zwei für die, die geplant waren, aber nach Tschernobyl nicht mehr gebaut wurden. Von dem Modell hat sie noch einige auf Lager. Shtraupaites Augen funkeln. Vielleicht kann sie die ja bald an den Mann und die Frau bringen. Vorzugsweise in der Saeima, dem Parlament von Vilnius. Dorthin will die Vize-Vorsitzende der liberalen Zentrumsunion einziehen – nach der Parlamentswahl am Sonntag, bei der die Litauer gleichzeitig in einem Referendum über den Bau des neuen AKWs abstimmen sollen.

"Das Referendum ist eine einzige Farce. Schauen Sie: 1997 hat die litauische Regierung ein Gesetz verabschiedet, nach dem Litauen ein Atom-Staat ist. Zivil, nicht militärisch. Das Gesetz gilt immer noch. Dummerweise ist jetzt eine kleine Gruppe von Parlamentariern auf die wirklich dumme Idee gekommen, das Volk über das neue Atomkraftwerk abstimmen zu lassen. Aber sei es drum: Die Volksabstimmung ist ja nicht bindend, sondern nur beratend. Ich versichere Ihnen: Falls ich ins Parlament komme, werde ich alles dafür tun, dass Hitachi, der japanische Kraftwerks-Betreiber, grünes Licht für Visaginas bekommt. Das ist meine Mission."

Wenn aus der "Mission" mal keine "Mission impossible" wird: Letzten Umfragen zufolge droht ihre Partei an der Fünfprozent-Hürde zu scheitern.

Ab und zu schickt die Bürgermeisterin von Visaginas Besucher nach Ignalina, zwecks "Anschauungs-Unterricht": Noch immer halten dort knapp 2000 Menschen die Sicherheitssysteme der Meiler am Laufen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Stilllegungsarbeiten nicht richtig vorankommen – und die Kosten explodieren. Vier Jahre Verzug – lautete das vernichtende Urteil einer EU-Delegation nach einer Inspektion im August. Ob Brüssel, wie von der litauischen Regierung gewünscht, zusätzlich zu den bereits gezahlten 1,4 Milliarden Euro noch einmal 700 Millionen drauf legt, ist fraglich. Die Stimmung könnte also besser sein – im Informationszentrum des Kraftwerkskoloss, das per Kamera mit der Reaktorhalle verbunden ist. In den Plattenbau verirrt sich kaum noch jemand: Ina Dukschieva hält das aber nicht davon ab, unbeirrt ihre Arbeit zu verrichten - wie in den letzten 16 Jahren. Gibt natürlich weniger zu tun, meint die Frau im grauen Baumwollrock, die, ähnlich wie das Zentrum, wie ein Relikt aus den 90ern wirkt. Anders als der Bürgermeisterin macht ihr die Sache mit dem Referendum zu schaffen.

"Ich bin etwas pessimistisch, ob eine Mehrheit für das Atomkraftwerk zu Stande kommt. Natürlich wäre es für unsere Stadt ein Segen. Aber Atomkraft hat in Litauen keinen leichten Stand mehr: Nach Fukushima. Vorher war die große Mehrheit der Bevölkerung pro Atom, jetzt ist es genau umgekehrt. Und zu allem Überfluss setzt uns die russische Regierung auch noch unter Druck – mit ihren Plänen, nicht nur in Kaliningrad, der russischen Exklave, sondern auch gegenüber von unserer Grenze, in Weißrussland, ein Atomkraftwerk bauen zu lassen. Das wären im Umkreis von ein paar hundert Kilometern ganz schön viele Atomkraftwerke, die ganz schön viel Strom produzierten. Wer soll den bloß alles abnehmen? Ehrlich gesagt: So ganz genau weiß ich auch noch nicht, wie ich am Sonntag beim Referendum abstimmen soll."

Zwanzig Minuten – länger braucht Ina Dukschieva nicht von der Arbeit nach Hause. Immer die holprige Verbindungsstraße durch den Wald gerade aus, am Ortseingang links, in die "Taikos-Allee", die "Friedens-Allee" - schon ist sie da. Die Mutter von vier Jungs parkt vor einem der neunstöckigen roten Klinkerbauten, wie es sie in Visaginas zu Hauf gibt. Zwar kein Luxus, meint sie beim Aussteigen und zeigt nach rechts, aber immer noch besser als "das da": Die grauen, vergammelten Plattenbauten auf der anderen Straßenseite.

"Wir haben eine dieser typischen Wohnungen hier. Ganz schön klein, ich weiß. Das Zimmer da mit der offenen Tür: Das ist das Schlafzimmer unserer Zwillinge und unseres Fünfjährigen. Sehen Sie das Hochbett' Mein Mann und ich sagen immer Scherzes halber: Die zwei Kleinen schlafen im ersten Stock, der Fünfjährige im zweiten. Nur unser 19-Jähriger hat sein eigenes Zimmer. Wir haben schon überlegt, in ein größeres Apartment zu ziehen, aber: Die Heizkosten sind seit der Stilllegung von Ignalina so unglaublich in die Höhe geschossen - das wäre viel zu teuer."

Von den hohen Heizkosten kann auch Valerius Kozineskis vom Jugendzentrum um die Ecke ein Lied singen. Vor zweieinhalb Jahren ging er wie Tausende Andere in Visaginas aus Protest auf die Straße, nachdem die Strompreise um 463 Prozent gestiegen waren.

"Wenn es kalt wird, muss ich manchmal 700 Litas Miete für meine Wohnung zahlen, 200 Euro. Wegen der Heizkosten. Ich mein: Ich verdiene monatlich gerade einmal 1000 Litas. Vorher hatten wir unseren billigen Atomstrom. Diese astronomischen Strom-Rechnungen jetzt sind der Wahnsinn. Im Winter versuchen wir nur, irgendwie über die Runden zu kommen. Da leben wir nicht, da überleben wir."

Der 27-Jährige hat gerade alle Hände voll zu tun. Erst vor einem halben Jahr ist sein Jugendzentrum in die leer stehende Grundschule am Rande des Fichtenwaldes gezogen. Ein Riesen-Komplex, mit unzähligen Gebäuden und Räumen. Hier muss dringend einiges renoviert werden. Das meiste machen Valerius und seine Kollegen zusammen mit den Jugendlichen selbst: Wände anstreichen, das improvisierte Musikstudio mit dem Nötigsten ausrüsten.

"Viele meiner Freunde sind nach England gegangen. Meine Schwester auch. Sie wohnt in Newcastle, sie hat da zwei Jobs. Sie verdient viel mehr als in Litauen. Ich habe sie ein paar Mal besucht. Natürlich habe ich auch schon überlegt, auszuwandern. Aber: Eigentlich möchte ich in Visaginas bleiben. Meine Eltern leben hier, alles ist klein und überschaubar. Ich bin heil-froh, meinen Arbeitsplatz im Jugendzentrum ergattert zu haben. Sie haben hier ja nicht gerade die Qual der Wahl. Denn eines ist klar: Ohne einen Job müsste ich früher oder später in eine Großstadt oder direkt ins Ausland."

Der Jugendbetreuer steigt die Treppe hoch, in den ersten Stock, wo sich eine Pädagogin um sogenannte "Problemkinder" kümmert, die die Schule schwänzen oder zu Hause Stress haben. Es werden immer mehr, meint Valerius. Und auch eine Etage höher herrscht kurz vor halb sieben reger Andrang – mag es draußen auch schon langsam dunkel werden und Bindfäden regnen.
Englischunterricht für Fünf-Jährige: Im Jugendzentrum werden auch schon die Kleinsten für alle Eventualitäten gewappnet – falls auch sie sich später einen Job in England suchen müssen. Aber vielleicht wird es ja doch noch was – mit dem Traum vom atomaren Job-Wunderland in Visaginas.
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