Pariser Anschläge

"Es war ein generalstabsmäßg durchgeführter Angriff"

Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin.
Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin. © imago/IPON
Herfried Münkler im Gespräch mit Ute Welty · 14.11.2015
Im Hintergrund der Pariser Anschläge müsse eine "sehr handlungsfähige Organisation stehen", sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Es sei beunruhigend, dass ein Anschlag von solchem Ausmaß trotz der Vorbeugungsmaßnahmen durchgeführt werden konnte
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler von der Berliner Humboldt-Universität bewertet die Anschläge von Paris als ein neues Stadium des Terrorismus.
Man habe es mit Akteuren zu tun, die offenbar so "geschickt" seien, dass sie sich den französischen Überwachungs- und Vorbeugungsmaßnahmen entziehen konnten, sagte Münkler im Deutschlandradio Kultur:
"Und gleichzeitig haben wir es jetzt auch mit Leuten zu tun, die sich nicht mal so ein bisschen im Internet radikalisiert und dann in die Luft gesprengt haben. Sondern es war ein quasi generalstabsmäßig durchgeführter Angriff."
Im Hintergrund der Anschläge müsse eine "sehr handlungsfähige Organisation stehen", die man zunächst einmal identifizieren müsse, äußerte Münkler. Je komplexer Terroranschläge vorbereitet werden würden, desto wahrscheinlicher sei eigentlich die Chance, dass sie bereits im Vorfeld von den Sicherheitsbehörden aufgedeckt werden könnten, äußerte Münkler:
"Und das ist das eigentlich Beunruhigende daran. Man hat mit einem solchen Anschlag ja immer gerechnet. Aber dass er dann so unvorbereitet eintrifft und dass man eigentlich in der Struktur der Überwachung durch die Geheimdienste und die Polizei (...) offenbar keine Hinweise gehabt hat, das ist das eigentlich Aufregende daran."
Die Sicherheit westlicher Gesellschaften
Man müsse jetzt "ruhig und gelassen" darüber nachdenken, was dieser Terroranschlag für die Herstellung von Sicherheit in westlichen Gesellschaften bedeute, so Münkler:
"Dass unsere Gesellschaften als offene und freie Gesellschaften ungeheuer verwundbar sind, das wussten wir eigentlich."
Rückt die Gesellschaft jetzt zusammen?
Münkler sprach auch über die Folgen eines Terroranschlags von solchem Ausmaß. Auf die Frage, ob jetzt ein Ruck nach rechts zu befürchten sei, entgegnete er:
"In diesem Zusammenhang kann es auch sein, dass eine Gesellschaft zusammenrückt. Dass gerade nicht dieser Prozess von Polarisierung nach rechts oder (...) nach links stattfindet. Dass es nicht zu einem Outburst von Fremdenfeindlichkeit kommen wird, sondern dass eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit begreift, dass dieser Angriff ihr und ihrer Lebensform gilt."
Jetzt müsse man darüber nachdenken, welche "Möglichkeiten der Sicherung im Inneren" möglich seien, betonte Münkler:
"Und inwieweit man im globalen Maßstab Organisationen, die solche Anschläge durchführen, verfolgen und zerschlagen kann."


Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Mehr als 120 Tote nach den Attentaten von Paris. Frankreich und wohl auch Europa haben eine solche Anschlagsserie in dieser form noch nicht erlebt, dieses konzertierte Vorgehen an mehreren Orten. Und die Attentate scheinen vieles in Frage zu stellen, von dem wir glaubten, es sei sicher: Reisefreiheit, offene Grenzen oder ganz banal ohne Furcht ein Restaurant, ein Konzert, ein Fußballspiel besuchen zu können. Die Vorstellung, dass das nicht mehr, dass das niemals mehr so sein kann, die jagt Angst ein. Wo steht Europa nach dieser Nacht? Das ist die Frage, die wir jetzt zusammen mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler erörtern wollen, guten Morgen, Herr Münkler!
Herfried Münkler: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Kann es tatsächlich sein, dass sich das Europa, was wir kennen und schätzen, vielleicht auch lieben gelernt haben, dass sich dieses Europa in einer Endphase befindet?
Münkler: Das kann man nicht ausschließlich. Natürlich hängt viel davon ab, wie das jetzt weitergeht. Ob vergleichbare Anschläge in anderen europäischen Hauptstädten oder noch einmal in Paris durchgeführt werden. Oder ob es sich um einen auf längere Zeit einmaligen, besonders herausgehobenen Vorgang handelt. Und da haben unsere Gesellschaften ja durchaus Mechanismen dazu, dies dann nach einiger Zeit zu verdrängen und zu vergessen.
Aber man kann schon sagen, dass die terroristischen Akteure das gelernt haben, dass sie begriffen haben, dass sie, was man vielleicht sequenzialisieren nennen kann, dass sie das müssen, wenn sie auf Dauer die europäischen Gesellschaften tiefgreifend aus dem Gleichgewicht bringen wollen oder wenn sie dort ihre politischen Botschaften platzieren wollen. Das heißt, dass es nicht bei einem Anschlag bleibt, sondern eine Fülle, das hat gestern ja in gewisser Hinsicht in Paris auch stattgefunden. Von all diesen Unwägbarkeiten hängt das letzten Endes ab, wie sehr dieser Angriff in das Europa, das wir mögen und in dem wir leben und die ganze Zeit gut gelebt haben, eingreift.
Terroranschläge von "geschickten Akteuren"
Welty: Nichtsdestotrotz, auch wenn viele Unwägbarkeiten derzeit noch existieren: Es muss ja Konsequenzen geben aus den Anschlägen von Paris, politisch, intellektuell, emotional. Was also muss sich ändern?
Münkler: Das Erstaunliche ist ja, dass die französischen Behörden nicht unvorbereitet waren, dass sie nach den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" und dann die gescheiterten Attentatsversuche, auf den Talys und anderes, eigentlich gewarnt waren und eben entsprechend mit Sicherheit vorbereitet waren. Wir haben es also hier mit Akteuren zu tun, die offenbar so geschickt gewesen sind, dass sie sich diesen Überwachungs- und Vorbeugungsmaßnahmen entziehen konnten.
Und gleichzeitig haben wir es hier jetzt doch erkennbar nicht zu tun mit Leuten, die sich mal irgendwie ein bisschen im Internet radikalisiert haben und dann in die Luft gesprengt haben, sondern es war eine quasi generalstabsmäßig durchgeführter Angriff. Und den hätte man im Prinzip, jedenfalls ist das eigentlich die Annahme die ganze Zeit gewesen der Sicherheitsbehörden: Je komplexer solche Operationen sind, desto größer wird die Chance, dass man sie vorher aufdeckt.
Und das ist das eigentlich Beunruhigende daran, denn man hat mit einem solchen Anschlag ja immer gerechnet. Aber dass er dann so unvorbereitet eintrifft und dass man eigentlich in der Struktur der Überwachung durch Geheimdienste und die Polizei und was da alles mit beschäftigt ist, keine Hinweise offenbar gehabt, das ist das eigentlich Aufregende daran. Und da muss man sehr ruhig und gelassen darüber nachdenken, was das für die Herstellung von Sicherheit heißt. Dass unsere Gesellschaften als offene und freie Gesellschaften ungeheuer verwundbar sind, das wussten wir eigentlich. Dass es so funktioniert, das ist neu.
Wird es in Frankreich einen Rechts-Ruck geben?
Welty: Fürchten Sie, dass sich das jetzt noch potenziert, was ohnehin zu beobachten ist, nämlich dass es einen Ruck von rechts beziehungsweise nach rechts gibt, der ja in Frankreich auch schon zu verzeichnen ist?
Münkler: Ja, das kann man nicht ausschließen. Aber es ist ja doch auffällig, dass es nicht Leute waren, die diesen Anschlag durchgeführt haben, die jetzt im Rahmen der Flüchtlingsbewegung gekommen sind und frustriert oder traumatisiert sind, sondern dass hier eine sehr handlungsfähige Organisation im Hintergrund stehen muss, die man zunächst einmal identifizieren muss.
Und in diesem Zusammenhang kann es auch sein, dass eine Gesellschaft zusammenrückt, dass gerade nicht dieser Prozess von Polarisierung nach rechts oder von mir aus auch nach links, aber in diesem Fall wohl nach rechts, stattfindet. Dass es nicht zu einem Outburst von Fremdenfeindlichkeit kommen wird, sondern dass eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit begreift, dass dieser Angriff ihr und ihrer Lebensform gilt. Das muss man auch sehen.
Verschiebungen im Parteien-Spektrum sind möglich
Ich würde natürlich nicht ausschließen, dass es dabei zu Verschiebungen oder möglicherweise auch zu dramatischen Verschiebungen im Parteienspektrum kommt, aber zunächst einmal ist das ja eigentlich nicht die naheliegende Reaktion, sondern naheliegend ist, darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten der Sicherung im Innern, also der Unterbindung der Wiederholung dessen, möglich sind. Und inwieweit man im globalen Maßstab Organisationen, die solche Anschläge durchführen, verfolgen und zerschlagen kann.
Welty: Es bleibt also auch da die Hoffnung auf ein Zusammenstehen, auf ein Zusammenrücken. Wo stehen Deutschland und Europa nach den Anschlägen von Paris. Eine Standortbestimmung dazu von Politikwissenschaftler Herfried Münkler, für die ich herzlich danke!
Münkler: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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