Parcours der Schicksalsschläge

07.05.2008
Die ersten 20 Jahre eines Menschen sind die entscheidende Zeit der Prägungen, der Selbstfindung und der Welt-Orientierung. Wilbur, der jugendliche Held von Rolf Lapperts außergewöhnlichem Roman "Nach Hause schwimmen" hat es da ein wenig schwerer als die meisten anderen.
Als wollte der Autor beweisen, dass die Biografie eines Zwanzigjährigen bereits mehr bittere Lebensfracht aufgenommen haben kann als die Vita eines Senioren, belädt er Wilburs Lebenskahn aufs Äußerste, um ihn dann in ein existentielles Bermuda-Dreieck zwischen Irland, Schweden und den Vereinigten Staaten zu schicken, in dem zahlreiche Hoffnungen spurlos verschwinden und viele gutwillige Menschen Schiffbruch erleiden.

Wilburs Leben beginnt im Zeichen der schuldlosen Schuld: Die irische Mutter stirbt bei der Geburt des Jungen in Philadelphia, Pennsylvania, im Jahr 1980. Sein Vater erträgt den Verlust nicht und verschwindet bis auf Weiteres, was heißt: bis zum Finale des Romans, wo der sensible Mann und autodidaktische Cellobauer am Ende einer von Sehnsuchts- und Hassgefühlen angetriebenen Vatersuche endlich von Wilbur wiedergefunden wird: als Wrack, von Alkohol und einem Schlaganfall gezeichnet.

Die Frauen, die den verlassenen Säugling zunächst umsorgen, entscheiden sich bald wieder für ein anderes Leben, und als sich endlich eine verlässliche, adoptionswillige Ersatzmutter gefunden hat, wird Wilbur von den Großeltern nach Irland geholt. Der Großvater, der seine eigene Lebenstragödie nicht bewältigen konnte, verfällt im Folgenden jedoch zusehends. Und die innig geliebte Großmutter Orla stirbt bei einem Autounfall, den Wilburs bester Freund Conor, seinerseits ein Beinahe-Vatermörder, zu verantworten hat.

Hinzu kommen alltägliche Quälereien. Der kleinwüchsige, schmächtige, im konkreten wie metaphorischen Sinn sehr wasserscheue Wilbur wird von Mitschülern gemobbt, von Sportlehrern gequält und von allzu wohlmeinenden Ersatzeltern eingeengt. Zugleich entwickelt er frühes Genie, lernt ohne Mühe und brilliert auf dem Cello. Aber immer wieder enttäuscht und brüskiert er seine Förderer, immer wieder zwingt ihn ein dunkler Sog des Selbsthasses zu unberechenbaren Taten: Selbstmordversuchen und Brandstiftungen.

Die Jugendstrafanstalt ist ihm bald ebenso vertraut wie eine moderne Klinik für chronisch Suizidgefährdete. Schließlich verschlägt es ihn in die Vereinigten Staaten; er jobbt in einem Hotel für alte Männer, trinkt zuviel und schreibt die Biografie des allen Feinden und Todesgefahren trotzenden Bruce Willis, der in diesem Roman zu ungewohnten literarischen Ehren kommt - als Idol eines Jungen, der viel Grund hat, von Stärke und Mut zu träumen.

Schon bei dieser verkürzten Darstellung der überbordenden Handlung mag man sich die Frage stellen, ob der Autor nicht ein bisschen viel auf einmal will. Kann das gut gehen? Es kann, denn Lappert erzählt so überwältigend sinnlich, anschaulich und fesselnd, dass man ihm (fast) alles abnimmt, die merkwürdigsten Lebenswendungen und die böswilligsten Zufälle. Er baut seinem Helden einen Parcours der Schicksalsschläge, um daraus ein großes Buch der verspielten Möglichkeiten und der zweiten oder dritten Chance zu entwickeln. Nur im letzten Drittel unternimmt er dabei vielleicht ein paar Umwege zu viel.

Regelmäßig wechselt der Roman von der Ich-Perspektive zum Er-Bericht. In den Ich-Kapiteln erzählt der adoleszente Wilbur von den Monaten nach seinem letzten Selbstmordversuch. In den Er-Kapiteln wird die Biografie des Jungen seit seiner Geburt sowie die Vorgeschichte seiner Eltern und Großeltern aufgerollt, bis hin zu jenem fatalen Entschluss Wilburs, im Atlantik zu ertrinken. So laufen die beiden Erzählstränge spannungsträchtig aufeinander zu - und kollidieren schließlich sogar in einem etwas mutwilligen Happy End.

Das Mitreißende dieses Buches verdankt sich nicht nur der spannenden Handlung, dem kühnen Einfallsreichtum und den Beschreibungsqualitäten, wobei die Palette von der meditativen Schilderung meerumbrandeter irischer Landschaften bis zu actionfilmgeschulten Verfolgungsfahrten durch New Yorker Straßenschluchten reicht. Es verdankt sich vor allem Lapperts eindringlicher Menschendarstellung.

Ohne dass er eines philosophischen Apparates bedürfte (es bleibt bei einer kleinen Sartre-Hommage), betreibt er eine existentielle Erzählkunst, packt seine Figuren beim Herzen, bei ihrem entscheidenden Schicksalsknoten, in ihrer seelischen Substanz. Keine Nebengestalt ist ihm zu gering, um ihr nicht ein Päckchen (oder ein ganzes Paket) an Lebenstragik aufzuladen. Es sind alles Strauchelnde, Fallende, die sich wieder hochrappeln, weiter kämpfen, weiter scheitern. Kein Glück, das nicht eine Menge Unglück im Schlepptau hätte, kein Leben, das nicht früher oder später (oft früher) vom Tod zunichte gemacht würde.

Und doch zieht sich eine Spur der Hoffnung durch den Roman. Denn Lapperts Menschen sind nicht nur Leidende, sondern auch groß im Mitleiden, Kümmern, Anteilnehmen. Wilburs Lebensdrama ist reich besetzt mit Helfer- und Mentorengestalten, mit Freunden und Vertrauten. Zwar hat deren Wirken selten das gewünschte Ergebnis, aber die Grundstimmung des Romans wird dadurch merkwürdig gehoben. "Nach Hause schwimmen" ist ein pessimistisches und doch auch sehr menschenfreundliches Buch, voller Desillusion, aber auch voller Empathie. Eine Konstellation, die im übrigen für reichlich Situationskomik und Humor sorgt.

Rolf Lappert, der in diesem Jahr fünfzig Jahre alt wird und seit langem in Irland lebt, hat zuletzt 1995 einen mäßig beachteten Roman vorgelegt ("Die Gesänge der Verlierer"). Dann schrieb er Drehbücher fürs Schweizer Fernsehen und trieb sich weltneugierig auf mehreren Kontinenten herum. Inzwischen konnte in aller Geduld dieser Roman reifen - ein Buch, das an den angloamerikanischen Epikern geschult ist und dessen Plot den deutschen Sprachraum weit umgeht. Und zugleich eine überraschende Bereicherung für ihn ist.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Rolf Lappert: Nach Hause schwimmen
Roman. Hanser Verlag 2008
543 Seiten. 21,50 Euro