Pädophile Priester – ganz normal?

Von Jens Rosbach · 17.08.2013
Nur jeder sechste Geistliche, der sich an Kindern vergriffen oder Kinderpornografie genutzt hat, hat eine gestörte Sexualität. So lautet das Ergebnis einer Studie von Hans-Ludwig Kröber, Forensiker an der Berliner Charité. Andere Pädophilie-Forscher zeigen sich irritiert.
Die Studie kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Nur zwölf Prozent der auffällig gewordenen Priester sind tatsächlich pädophil, weitere vier Prozent ephebophil – neigen also zu pubertierenden Jungen. Autor Hans-Ludwig Kröber bilanziert, dass lediglich jeder sechste Geistliche, der Minderjährige missbraucht beziehungsweise Kinderpornografie konsumiert haben soll, eine gestörte Sexualität zeigt:

"Es ist so, dass die große Mehrheit der Täter nicht sexuell pervers ist, irgendwie abweichend auf Kinder gepolt. Sondern Männer sind, die durchaus eine normale erwachsene Sexualität haben, die aber - auch aus ihrer sozialen Situation heraus - dann gegenüber überwiegend pubertären Kindern übergriffig geworden sind und die früher auch durchaus mit erwachsenen Personen sexuelle Kontakte gehabt haben."

Kröber, Leiter der Forensischen Psychiatrie der Berliner Charité, kommt zu dem Schluss, dass sich die meisten Priester "ersatzweise" an Ministranten oder Jugendleitern vergriffen haben. Hintergrund sei oft eine berufliche Überbelastung, gepaart mit einer Einsamkeit der Geistlichen.

"Insofern korrespondiert das natürlich mit dem Zölibat, dass man in einem Ort eine Respektsperson ist, aber zu der eigentlich andere nur selten eine engere Beziehung aufbauen. Emotionale Bedürfnisse bleiben bei manchen dann doch auf der Strecke. Und dann werden Personen gesucht, zu denen man eine größere Nähe herstellen kann."

Warum suchten sich die Kapläne und Pfarrer ausgerechnet Kinder, um sie zu streicheln, zu küssen oder zum Sex zu nötigen? Kröbers Erklärung: Weil die Vergehen "verharmlost" werden können und Kinder weniger Widerstand zeigen als Erwachsene. Zudem stellen die Kleinen keine Partnerschaftsansprüche. Laut dem Psychiater resultiert die Hinwendung zu Minderjährigen auch häufig aus einer nicht ausgelebten Homosexualität - 37 Prozent der untersuchten Priester sind schwul, weitere neun Prozent bisexuell.

"Und ich vermute, dass für die Priester die Vorstellung, schwul zu sein, allemal schlimmer war als die Vorstellung, mit Kindern irgendwas Sexuelles zu machen. Schwul war wahrscheinlich das Allerschlimmste. Die haben dann halt mit Jungs 'Körperkultur' gemacht, in welcher Weise auch immer, 'Körperertüchtigung' – weiß der Teufel was."

Kröbers Untersuchung, die zusammen mit dem Essener Psychiater Norbert Leygraf und dem Ulmer Psychotherapeuten Friedemann Pfäfflin entstand, sorgt für heftige Kritik. Vor allem das Ergebnis, dass nur jeder sechste auffällige Priester pädo- oder ephebophil sei, führt bei Sexualwissenschaftlern zu Kopfschütteln. Etwa beim renommierten Pädophilie-Forscher Klaus Beier. Der Berliner Professor betont: Befriedigen sich Hetero- oder Homosexuelle – nebenher – an Kindern, handele es sich ebenfalls um Pädophilie. Nur eben um einen nicht-ausschließlichen Typus:

"Und wir wissen klinisch, dass eine solche nicht-ausschließliche Pädophilie auch nicht weggeht. Das hat ja Auswirkungen. Wenn Sie eine in der Präferenzstruktur eingelagerte Ansprechbarkeit auf den kindlichen Körper nicht finden, dann tragen Sie ja mit dazu bei, dass sich der Betroffene in Sicherheit wiegt und nicht darauf achtet, sein Verhalten zu kontrollieren."

Nach Ansicht von Beier müsste die Pädophilie-Quote in der Untersuchung auch aus einem weiteren Grund viel höher sein - und zwar wegen der Kinderpornografie-Nutzung. Die Metastudie hatte Missbrauchsabbildungen, die bei jedem zweiten Geistlichen gefunden wurden, nicht als Beleg für eine pädophile Störung gewertet. Doch warum sollte sich jemand Kinderpornos anschauen, wenn er sich damit nicht erregen will? - fragt der Wissenschaftler.

"Ich kann hier nur argumentieren von den Erfahrungen, die wir im sogenannten Dunkelfeld machen, das heißt von nicht-justizbekannten Tätern. Wo wir genau wissen, dass der allergrößte Teil - bereits im ersten Schritt – Missbrauchsabbildungen nutzt, bevor es zu Übergriffen auf Kinder kommt. Und nun ist ja das Problem bei den Missbrauchsabbildungen, dass sie dort dann sich richtig hineinmodulieren in die Vorstellung, dass diese Kontakte zwischen Kindern und Erwachsene kein Problem darstellen."

Beier, Psychotherapeut und Mediziner, leitet in Berlin ein großes Forschungsprojekt mit pädophilen Männern. Studienautor Kröber, der als Psychiater Gerichtsgutachten erstellt, hat hingegen andere Erfahrungen gemacht als sein Charité-Kollege:

"Ich kenne keinen Einzigen, der jetzt längere Zeit Internetpornografie von Kindern benutzt hätte und dann auf die Straße gegangen wäre und Delikte mit direktem Körperkontakt begangen hätte – so nach dem Sinne Einstiegsdroge oder sonst was, da war keiner dabei."

Auch die Methodik der Missbrauchsstudie sorgt für Meinungsverschiedenheiten. Denn die Untersuchung beschäftigt sich lediglich mit 78 verdächtigen Geistlichen. Ihre Missbrauchs-Taten liegen teilweise Jahrzehnte zurück. Als Daten-Grundlage dienten forensische Gutachten, die Kirchenbehörden in den Jahren 2000 bis 2010 in Auftrag gegeben haben. Allerdings waren nur 21 der 27 Bistümer bereit, die Akten zur Verfügung zu stellen. Pädophilie-Forscher Klaus Beier geht zudem davon aus, dass die mutmaßlichen Täter nicht offen über Intimes gesprochen haben.

"Wir wissen aus der Begutachtung von Männern, die ein problematisches Sexualverhalten zeigen, dass sie – wenn sie in der Optik der Justiz sind oder der Kirchenbehörde – dazu neigen, ihre Phantasien abzuschirmen. Oder eben geschönt Auskunft zu geben - in der Sorge, dass sich für sie negative Konsequenzen ergeben könnten, wenn sie wahrheitsgemäß berichten, was sie sexuell erregt."

Trotz der geringen Fallzahl, trotz der vielen "Altfälle" und trotz des Boykotts von sechs Bistümern formulieren die Autoren weitreichende Schlussfolgerungen: Nur eine Minderheit der untersuchten Geistlichen sei pädophil beziehungsweise hebephil – und zeige deswegen, "keine bedeutsamen Unterschiede zu Erhebungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung". So das Fazit einer Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz. Der Regensburger Psychiater Michael Osterheider, ebenfalls ein scharfer Kritiker der Missbrauchsstudie, resümiert:

"Es ist sicherlich etwas, was der katholischen Kirche eher entgegenkommt, wenn daraus abgelesen werden kann – aus meiner Sicht fälschlicherweise abgelesen werden kann – dass alles halb so schlimm sei, weil es genauso sei wie in der Allgemeinbevölkerung. Das ist aber nicht so. Und ich glaube, wenn man diese Studie methodisch noch anders anlegen würde, dass man auch belastbares Zahlenmaterial hätte."

Osterheider ist Forensiker und nahm am staatlichen Runden Tisch gegen Kindesmissbrauch teil. Der Professor verweist auf ein brisantes Detail der Metastudie: Bei 47 Prozent der Priester, die übergriffig geworden sein sollen beziehungsweise Kinderpornos genutzt haben sollen, gab es keine Bedenken gegen einen weiteren Einsatz in der Kirche.

"Das ist skandalös! Wobei mir ein bisschen fehlt, dass das nicht so kritisch hinterfragt wird. Sondern einfach mal deskriptiv beschrieben wird: Das ist halt so, die sind halt wieder eingesetzt worden in den Gemeinden."

Gerichts-Gutachter Hans-Ludwig Kröber verteidigt allerdings den Wiedereinsatz auffällig gewordener Priester. Eine konsequente Entlassung, wie sie etwa in den USA praktiziert wird, sei häufig ungerecht:

"Das ist häufig völlig inadäquat, hart in Bezug auf das, was sie tatsächlich verschuldet haben. Die völlige Zerstörung der sozialen Existenz von Leuten, die halt Kindern verwerflicherweise zwischen die Beine gegriffen haben oder so etwas gemacht haben, ist eigentlich 'ne inadäquate Maßnahme, die wohl bei uns so nicht vorkommen wird."

Während die Autoren der Missbrauchsstudie hoffen, einen Beitrag dafür geschaffen zu haben, "die bislang zuweilen etwas zu emotional gefärbt und teils auch vorurteilsbehaftet erscheinende Diskussion auf einer wissenschaftlich-sachlichen Basis fortzuführen", konstatieren ihre Kritiker das Gegenteil: ungenaue Methoden, überzogene Interpretationen und - indirekt- eine Verharmlosung der Gefahr durch Geistliche. Der Regensburger Professor Michael Osterheider vermutet, dass die umstrittene Studie insgesamt weniger eine wissenschaftliche, als eine kirchenpolitische Funktion erfüllen soll.

"Ich glaube, dass daraus die Kirche möglicherweise PR-technisch versucht, einen Vorteil zu ziehen."
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