Pablo Larrain über "El Club"

"Bilder im Kopf sind viel gefährlicher"

Der chilenische Filmregisseur Pablo Larrain hält am 14.02.2015 in Berlin während der 65. Internationalen Filmfestspiele den Silbernen Bären - Großer Preis der Jury - in der Hand. Er wurde für seinen Film "El Club" ausgezeichnet.
Der chilenische Filmregisseur Pablo Larrain hält während der 65. Internationalen Filmfestspiele den Silbernen Bären - Großer Preis der Jury - in der Hand. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
31.10.2015
Auf eine eigenwillige und verstörende Weise thematisiert der Spielfilm "El Club" sexuellen Missbrauch in der chilenischen Kirche. Im Gespräch berichtet Regisseur Pablo Larrain von seiner traurigen Recherche für den preisgekrönten Film.
Susanne Burg: "El Club" – so heißt ein Film, der bei der Berlinale im Februar den Silbernen Bären, den Großen Preis der Jury gewann und ein brisantes Thema auf sehr eigenwillige und verstörende Art und Weise aufgreift: sexuellen Missbrauch in der chilenischen Kirche. "El Club" kommt nun bei uns am Donnerstag in die Kinos. Er spielt in einem Haus in einem kleinen Ort an der Küste. Hier leben vier Männer. Abgeschieden von der Welt, beaufsichtigt von der sanften Schwester Monica. Sie arbeiten, beten und singen.
Und ich begrüße jetzt ganz herzlich den Regisseur des Films, Pablo Larrain: Welcome!
Pablo Larrain: Hello, thank you, thanks for the invitation.
Burg: Fangen wir doch mal am Anfang des Films an: Da muss man sich erst mal so ein bisschen zusammenreimen, was das für ein Haus ist, was für eine Wohngemeinschaft. Die Mitglieder sind bei einem Windhundrennen, freuen sich, dass sie gewonnen haben, dann erfährt man aber im Laufe der ersten Minuten, dass es sehr strenge Regeln in diesem Haus gibt: Kein Geld, keine Handys, mit keinem draußen dürfen sie sprechen. Welchen Ton wollten Sie am Anfang des Films setzen?
Larrain: Es handelt sich eben um ein sehr besonderes Haus, und es gibt Menschen, die müssen dort miteinander leben, können aber dieses Haus eigentlich auch verlassen, wann immer sie möchten. Es ist ein Gefängnis, aber ein ganz spezielles Gefängnis, weil dort einerseits sehr strenge Regeln gelten. Zu gewissen Uhrzeiten müssen die Bewohner dieses Hauses zusammenbleiben, können aber dann auch wieder das Haus verlassen – wie von dem erwähnten Windhundrennen, da können sie dran teilnehmen. Dann gibt es aber eben Zeiten, wo sie im Haus zu sein haben, und man darf sie in dem Ort, in dem sie leben, auch nicht sehen. Und das Ganze bleibt ein wenig unklar, bis dann plötzlich jemand auftaucht.
Alle Priester sind gefallene Priester
Burg: Genau, ein Priester kommt, der auch irgendwas gemacht hat. Alle dieser Priester sind gefallene Priester, viele von ihnen haben sexuellen Missbrauch getan. Er kommt, und dann geht es auch schon bald rund. Einer der eindrucksvollsten Szenen ist die: Ein Obdachloser taucht dann vor dem Haus auf und erzählt sehr ausführlich und in allergrößten Details, wie er von eben jenem Priester missbraucht wurde. Film arbeitet ja bei Gewalt häufig mit Bildern – warum haben Sie hier vor allem mit Sprache gearbeitet, nicht mit Bildern, und wie explizit muss und durfte die Sprache sein?
Larrain: Bei der Recherche zum Film, als ich mit sehr vielen Betroffenen sprach, ist mir eben aufgefallen, dass diejenigen, die jahrelang und systematisch missbraucht worden sind, darüber sehr ausführlich reden, sehr minutiös reden und auch in einer sehr bildhaften Darstellung das beschreiben. Sie können ganz genau sagen, was ihnen angetan wurde, und sind dabei wirklich sehr ausführlich, so als würde ein Fußballfan ein Fußballspiel beschreiben oder würde man ganz ausführlich sich ein Kochrezept erzählen, was man da genau an Zutaten zu benutzen hat und in welcher Reihenfolge. Also das ist etwas, was mir eben sehr auffiel, diese sehr bildhafte, sehr minutiöse verbale Darstellung von all den Opfern, die eben jahrelang sexuellen Missbrauch erleiden mussten. Und dadurch habe ich dann beschlossen, dass ich auf keinen Fall Bilder in meinem Film verwenden würde, sondern mich genau daran halte, wie es die Opfer selber sehen und wie sie das selber beschreiben. Und so entstehen dann beim Betrachter Bilder im Kopf, die letztendlich sehr viel gefährlicher sind als Bilder, die man inszenieren könnte.
Burg: Es ist ja auch vielleicht so, dass die Leute sich einfach innerlich abgeschottet haben und es einfach losgelöst haben von ihren Gefühlen und deswegen auch mit einer gewissen Sachlichkeit und Kühle davon erzählen können.
Larrain: Ich weiß, was Sie meinen, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen, aber ich bin nicht wirklich mit Ihnen einverstanden. Ich würde nicht sagen, dass sie sich abschotten, ich würde nur sagen, sie haben es absorbiert – und da sind schon Gefühle dabei. Also dieses Opfer beispielsweise, was Sie da erwähnt haben im Film, der Mann redet ja sehr leidenschaftlich, fast sogar mit Liebe über das, was ihm geschehen ist. Das Problem ist nur, es ist eine Form des Realitätsverlustes eingetreten, es ist eine Verfremdung, also er hat ein gestörtes Verhältnis zur Realität. Und genau das fand ich eben so interessiert, dass jemand, der systematisch so gelitten hat und so missbraucht worden ist, dann diesen Realitätsverlust erleidet. Das ist eben etwas, was man nicht sieht, aber was man eben immer wieder hört und wovon er redet.
Burg: Der Priester, der den jetzt Obdachlosen damals missbraucht hat, ist selber auch verstört, als er den Obdachlosen vor seiner Tür sieht, und bringt sich um. Dieser Todesfall des Priesters ruft dann einen Kircheninspektor auf den Plan, aber es ist eben eine kircheneigene Untersuchung, die da gestartet wird. Wie sehr ist dieser Priester, dieser Inspektor wirklich an Aufklärung interessiert und wie sehr auch nur dann wieder Ruhe herzustellen?
Larrain: Also ich glaube wirklich, dass dieser Mann das Problem lösen möchte. Er hat gute Absichten, aber er steht dann plötzlich vor einem Berg voller Probleme, und er erkennt natürlich die Unmoral, die dort herrscht, und er möchte es lösen. Aber neben diesen guten Absichten – und damit steht er als ein Vertreter der neuen Kirche, dieser neuen Visionen der Kirche –, aber diese guten Absichten kollidieren mit den alten Kirchenvorstellungen, mit dieser Vorstellung von Kirche, einer alten Kirche, die seit 2000 Jahren an der Macht ist und die immer noch sehr stark ist. Und es wird noch eine Weile dauern, bis die Vertreter dieser neuen Richtung innerhalb der katholischen Kirche sich durchsetzen können. Das geht eben nicht so schnell. Und wenn man so will, wenn wir das auf die heutige Zeit übertragen, dann ist Papst Franziskus schon jemand, der Probleme lösen möchte, sich aber permanent Vertretern der alten Kirche gegenübersieht. So ist Franziskus ja beispielsweise immerhin bereit, jenen, die eine Abtreibung machen, zu verzeihen – das ist ja schon sensationell, wenn man sich die Geschichte der Kirche anschaut –, und damit hat er eben auch die Konservativen seiner Kirche stark verärgert, und es gibt gerade eben diese innerkirchlichen Kämpfe. In meinem Film ist es dann eben so, dass ich diese alte Kirche, die Vertreter der alten Kirche, die eben noch stärker sind, noch mächtiger sind, dass die sich am Ende durchsetzen.
"In Chile gab es ganz interessante Reaktionen"
Burg: Und am Ende greift er zu genau den gleichen Mitteln, die auch sonst schon innerhalb dieser Wohngemeinschaft herrschen, nämlich Sadismus und, ja, Gewalt, die zumindest verbal ausgetragen wird. Ist das, was Sie auch mit der katholischen Kirche verbinden?
Larrain: Wir fanden es interessant, den Film eben so zu enden. Da ist eben jemand, der eigentlich etwas verändern möchte, der aber scheitert und dadurch fast schlimmer wird als die, die er verändern möchte, und das ist ja öfter auch so. Ich verurteile diese Figur aber nicht, ich bin eher der Meinung, das Publikum soll reagieren, das Publikum soll sich eine Meinung bilden, und deswegen habe ich meine Figuren moralisch auch nicht verurteilt. Ich möchte nicht dem Publikum sagen, was es zu denken, was es zu fühlen hat, und das finde ich das Interessante. Ich habe Figuren auf die große Leinwand gebracht, und ist es am Betrachter, Entscheidungen zu treffen, wie er diese Figuren und diese Personen und ihre Handlungen einschätzt.
Burg: Die Ästhetik passt ja auch unglaublich gut zum Film, Sie haben den Bildern quasi alles Schöne ausgetrieben. Es ist eigentlich die ganze Zeit düster, der Himmel ist immer wolkenverhangen, außer dem ausgewaschenen Gelb des Hauses scheint es keine wirklichen Farben zu geben. Wie sind Sie vorgegangen, diese Ästhetik zu schaffen?
Larrain: Also wir haben zum Beispiel ganz bewusst nur mit natürlichem Licht gearbeitet. Wir haben öfter sehr früh am Tag gedreht oder sehr spät, aber selten eigentlich in der Nacht, und wir wollten eine Art Textur für das Kino schaffen, uns ein bisschen absetzen von diesen tollen Bildern, die man heute überall im Fernsehen sehen kann, wo sich die Fernseher so verbessert haben, technisch, und wir wollten ein anderes Bild dagegensetzen, eben ganz bewusst ein Kinobild, was in einem Kinoraum nur entstehen kann und was besser auch zur Geschichte und zu den Figuren letztendlich passt, zu dem Tonfall, der dadurch von den Figuren und von der Geschichte ausgeht. Da passen jetzt keine schreienden Farben, da passen kein schön ausgeleuchteten satten Farben hinein für so eine Geschichte – dann wäre es zu einem Zusammenprall quasi mit der Story gekommen. Wir wollten einfach eine andere Visualität. Ich verstehe, was Sie meinen, wenn Sie sagen, wir hätten den Bildern die gesamte Schönheit ausgetrieben, aber da bin ich noch nicht mal mit einverstanden, weil man braucht auch das Dunkle, damit man das Licht erkennen kann. Nicht umsonst haben wir unserem Film ein Zitat aus der Bibel vorangestellt, aus der Genesis, in der es heißt, Gott schuf das Licht und die Dunkelheit, und er schuf eben beides, das ist sehr, sehr wichtig.
Burg: Der Film hatte seine Premiere bei der Berlinale in diesem Jahr und wurde dort mit dem Großen Preis der Jury geehrt. Jetzt kommt er hier ins Kino, alle Kritiker sind begeistert – wie ist er denn eigentlich in Chile aufgenommen worden?
Larrain: Nun, in Chile gab es ganz interessante Reaktionen. Man möchte ja vielleicht annehmen oder man würde ja vielleicht zunächst annehmen, dass die Kirche sich sehr feindlich diesem Film gegenüber verhalten hat und nichts von ihm wissen wollte, ihn am liebsten ignoriert hätte – das stimmt aber nicht. Es gab sehr viele Kirchenvertreter, sehr viele Priester, die sich den Film angeschaut haben, und was wir geschafft haben, war eine Debatte. Natürlich ist der Film irgendwo düster, aber er ermöglicht eine Reflexion und er stellt Fragen nach Schuld, er stellt Fragen nach der Gerichtsbarkeit, er stellt Fragen danach, dass viele Leute niemals verurteilt worden sind und ob das etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Es ist eben ein Film, der nicht unbedingt etwas verändert, weil ich glaube nicht, dass das Kino etwas verändern kann. Was das Kino jedoch kann, ist eben, Reflexionen anzustoßen und Diskussionen anzustoßen. Und das ist in diesem Fall geschehen, weil zunächst die chilenische Kirche behauptet hat, solche Häuser, wo diese Priester leben, gebe es gar nicht, und wir wissen natürlich, dass das nicht stimmt, wir wissen, diese Häuser gibt es hier auch in Deutschland, die gibt es überall auf der Welt. Wichtig ist einfach nur, zu sagen, dass Priester, die etwas Strafbares tun, die etwas Illegales tun, die ein Verbrechen begehen, dass sie sich auch vor der ganz normalen Justiz zu verantworten haben, nicht nur vor Gott, sondern dass sie so verurteilt werden müssen wie jeder andere auch.
Burg: Ein Film, der sich wirklich lohnt anzusehen: "El Club". Er kommt am Donnerstag in die Kinos. Der Regisseur ist Pablo Larrain und herzlichen Dank, dass Sie da waren. Vielen Dank, thank you very much!
Larrain: Thank you!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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