Ornithologie

Von Stadt-Nachtigallen und fiesen Enten

Fühlt sich wohl in der Stadt: die Krähe.
Fühlt sich wohl in der Stadt: die Krähe. © dpa / Wolfgang Runge
Moderation: Britta Bürger · 07.05.2014
Stille auf Feld und Flur, Gezwitscher in den Großstädten: Für viele Vogelarten ist das Leben in der Natur heute härter als zwischen Betonschluchten. Warum das so ist, und wie fies Enten seien können, erklärt der Zoologe Josef Reichholf.
Britta Bürger: Kann man ja verstehen, dass Störche, Stare und Schwalben den Winter lieber am Mittelmeer verbringen, angezogen vom milden Klima und ausreichend Kost. Amsel, Drossel, Fink und Star – tatsächlich müssten sie jetzt langsam alle wieder da sein. Vor allem in den Städten merken wir das, denn die sind mittlerweile für viele Vogelarten ein besserer Lebensraum als Feld und Flur. Warum das so ist, beschreibt der Zoologe Josef Reichholf in seinem neuen Buch "Ornis. Das Leben der Vögel". 36 Jahre lang hat Reichholf die Ornithologie der Zoologischen Staatssammlung in München geleitet. Ich grüße Sie, Herr Reichholf!
Josef Reichholf: Ich grüße Sie auch!
Bürger: In dieser Woche startet der Naturschutzbund NABU ja seine große Mitmachaktion, bei der jeder aufgerufen ist, die Vielfalt der Gartenvögel zu beobachten. Der Begriff Ornis bezeichnet ja die Vogelwelt im Allgemeinen. Ist der Name Ornis aus Ihrem Mund aber auch so eine Art Kosename für alle Vogelverrückten?
Reichholf: Ja, nicht nur aus meinem, das ist ein inzwischen international üblich gewordener Ausdruck für die Ornithologen, und zwar primär für jenen sehr großen Bereich von Ornithologen, die aus dem Amateursektor kommen. Also nicht professionell jetzt im Sinne, dass sie das dienstlich, wissenschaftlich machen würden – hinter der Vogelwelt her sind, sie beobachten, registrieren und dafür sorgen, dass wir über nichts in der Natur so gut informiert sind wie über Vorkommen und Häufigkeit unserer Vögel.
Bürger: Sind Ornis vor allem Abenteurer, die mit Fernglas und Wetterjacke wirklich immer draußen unterwegs sind? Oder sind sie doch eher, ja, so eine Art Buchhalter, die in Listen und Tagebüchern zählen, registrieren, notieren, die mittlerweile auch überwiegend am Computer hocken, vernetzt mit globalen Birdwatchers?
1000 Nachtigallen singen in Berlin
Reichholf: Das gibt es alles. Es gibt sozusagen den klassischen Ornithologen früherer Prägung, der mit dem Fernglas und mit nichts weiter als guter Gesinnung hinauszieht in Feld und Flur und feststellt, dass es dort fast nichts mehr zu hören und zu sehen gibt, und sich dann umdreht und lieber in den Stadtpark geht, weil da die Vögel singen wie beispielsweise in Berlin. Großer Neid aus Bayern: Wenn dort wie zurzeit üblich um die 1000 Nachtigallen singen, dann hat man schon Gründe, auf die Hauptstadt zu schielen. So etwas gibt es hierzulande nicht mehr. Das ist die eine Gruppe, also jene Menschen, die das Erlebnis suchen. Und da bietet die Vogelwelt natürlich ganz besonders viel, mit Stimmen, mit Beobachtung, mit wunderbaren Verhaltensweisen.
Die zweite Gruppe, das sind die Listenmacher, die, angefangen von ihrer örtlichen Liste, genau wissen wollen, welche Vogelart sie wann gesehen haben. Sie haben sie abgehakt und dann jagen sie der nächsten nach. Und im Extremfall sind sie weltweit unterwegs und versuchen, so viel wie möglich von den rund 10.000 Vogelarten, die es auf der Erde gibt, selbst gesehen zu haben.
Und die dritte Gruppe, das ist der kleinere Bereich, das sind diejenigen, die sozusagen die Grundlagen für die Wissenschaft ermitteln, das sind die Zähler, die eifrigst unter Hintanstellung aller ihrer persönlichen sonstigen Wünsche bei jedem Wetter draußen sind, zu den vereinbarten Zeiten etwa die Wasservögel zählen oder auch singende Männchen jetzt in dieser Jahreszeit, um die Daten zusammenzubekommen, die uns sagen: Wie sind die Bestände der verschiedenen Arten in unserem Land gegenwärtig und wie entwickeln sie sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten? Also das ist die Grundlagenforschung auch für den Naturschutz, für den Vogelschutz.
Bürger: Was ist denn bei der Vogelbestimmung eigentlich wichtiger, ein gutes Gehör, mit dem man den Vogel am Ruf, am Gesang erkennt, oder ein gutes Auge, das aller-, allerkleinste Details erkennt im Federkleid oder an der Schnabelform?
Auch Vögel haben regionale Dialekte
Reichholf: Man braucht beides, aber das gute Auge kann man heutzutage technisch ersetzen mit hervorragenden Fernrohren, oft sogar kombiniert mit der Möglichkeit, das Gesehene sofort digital zu fotografieren, um es dann in Ruhe zu Hause und im Vergleich mit anderen Vogelbildern auswerten zu können. Das Gehör ist insofern autonomer. Es muss geschult werden, bei manchen Menschen oft jedes Jahr aufs Neue wieder, bis vor allem die selteneren Vogelstimmen sitzen und man dann eben aus dem Dickicht heraus ganz klar hören kann, wer da singt, wie viele es sind und ob sich vielleicht sogar – auch das gibt es ja in der Vogelwelt – regionale Dialekte zeigen.
Bürger: Sie beschreiben ja viele dieser Vogelrufe im Buch. Ich fand das beim Lesen sehr schwierig, wenn da nur steht "zilp, zalp" oder so, mir fehlte da im Grunde Ihre Stimme. Können Sie das nachmachen mittlerweile, Vögel?
Reichholf: Ja, ich kann leider diese hohen Töne nicht nachmachen, da ist die menschliche Stimme nicht geeignet dafür. Und mit diesem Problem schlagen sich auch die Musiker herum. Beim Versuch, die Vogelstimmen in Noten zu fassen, kommt auch nur eigentlich ein Kompromiss zustande, der vielleicht für das musikalisch besonders geschulte Ohr dann irgendwie besser wirkt als so eine mit Worten getätigte Umschreibung. Aber wir sind einfach nicht in der Lage, die Bandbreite der Töne, die ja bei den Vogelstimmen – vor allen Dingen bei den Singvögeln – sehr viel höher hinaufgehen in Bereiche, die wir vielleicht gerade noch oder schon nicht mehr hören können, entsprechend mit Worten zu beschreiben. Da muss man sich einhören.
Bürger: Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit einem der renommiertesten Ornis Deutschlands, dem Zoologen Josef Reichholf, "Ornis. Das Leben der Vögel", so heißt sein neues Buch, in dem er schreibt, gemeinsam sei den Ornis, dass sie die Vögel nicht verlieren möchten. Damit sind nicht nur die derzeit 1200 Vogelarten gemeint, die vom Aussterben bedroht sind, sondern eben auch Veränderungen, die wir alle beobachten können. Sie haben das, Herr Reichholf, eben schon angedeutet: Die Vögel ziehen immer mehr in die Städte. Berlin ist Weltmetropole für die Vögel. Woran liegt das, dass Feld und Flur für die Vögel immer weniger lebenswert werden?
"Ja, wo sollen die Vögel leben?"
Reichholf: Nun, die Entwicklungen, die kennen wir alle. Die moderne Agrartechnik hat aus der Landwirtschaft eine hochindustrialisierte Tätigkeit gemacht mit großen Flächen, die vereinheitlicht, einige oder einige wenige Dinge produzieren wie Mais vor allen Dingen. Der ist mit über zwei Millionen Hektar an Baufläche in Deutschland inzwischen die Nummer eins. Aber auch mit Raps und den herkömmlichen Getreidesorten oder Rübenfeldern bis zum Horizont. Und auf diesen Flächen soll ja aus der Sicht der Landwirtschaft nichts anderes wachsen und gedeihen als das, was sie ernten wollten. Das ist ein verständliches Ziel, und in der Konkurrenzsituation, in der sich die Landwirtschaft befindet, auch fast nicht vermeidbar, dass dieses Ziel verfolgt wird.
Allerdings – und da klopft eben dann der Orni oder klopfen die vielen Ornis an das Gewissen: Eine Landwirtschaft, die hochgradig subventioniert ist von der Allgemeinheit, sollte auch in gebührendem Maße die Interessen dieser Allgemeinheit beachten und dafür sorgen, dass eben die Lärchen nicht verschwinden, dass die Rebhühner sich nicht in den Fernen Osten zurückziehen. Und das gilt natürlich auch für die Hasen und für viele andere Tiere, für die Schmetterlinge auf den Fluren, für die die Vögel mit ihren – weil sie gut erfasst sind – gut dokumentierten Rückgängen eben die großen Anzeiger sind für die Veränderungen in der Flur. Und die sind dermaßen negativ, dass wir – hätten wir nicht mehr als zehn Prozent bebaute Fläche, Städte, Industrieanlagen – in Deutschland fast keine Vögel mehr hätten.
Denn auch die Wälder sind ja großenteils als Holzplantagen letztlich dazu ausersehen, Holz zu produzieren. Eine Waldfläche, die der Natur nach altern kann, in sich zerfallen darf, das ist etwas, was sogar in Nationalparks umstritten ist. Ja, wo sollen die Vögel leben? Und sie können das eben tatsächlich nur noch in den Großstädten, jener Teil, der in der Lage ist, unter den Großstadtbedingungen zu leben. Und deswegen ist unsere Hauptstadt eine so vogelreiche Großstadt, dass wir sagen können, auf jeden Berliner kommt zurzeit ein Vogel, auf jeden Münchner natürlich auch und Kölner und so weiter, je nach Größe oder Kleinheit der Stadt trifft das ganz gut zu. Wenn die Jungvögel ausgeflogen sind, sind es noch einige mehr, während draußen in der Flur die große Verödungszone ist.
Bürger: Was lässt sich denn aber in den Städten am Verhalten der Vögel beobachten? Wie verändern die sich in der Stadt?
Zum Teil kennen sich nicht mal Vogelschutzverbände mit Vögeln aus
Reichholf: Nun, bei den Kleinvögeln sehen wir wenig, weil sie von den Menschen nicht unbedingt jetzt so direkt beeinflusst werden. Da ist nur festgestellt worden, das ist auch ganz plausibel, dass mancherorts die Stimmen lauter werden, weil sie nicht, wie man meint, gegen den Verkehrslärm ansingen müssen – das kann da und dort auch der Fall sein –, sondern ganz einfach, weil die Reviere der nächsten Nachbarn derselben Vogelart durch die Häuser akustisch weit voneinander entfernt liegen. Und man singt ja als Vogelmännchen nicht nur, um das eigene Weibchen zu betören, sondern um den anderen Männchen zu signalisieren: Ich bin noch da, ich verteidige mein Revier. Bei den größeren Vögeln, die gejagt werden, ist etwas eben sehr augenfällig: Wo der Mensch die Vögel nicht verfolgt, werden sie vertraut, und es können Arten in der Menschenwelt sehr gut leben, die sich draußen sehr schwertun mit dem Überleben, weil sie verfolgt, weil sie gejagt werden.
Bürger: Sie stellen, Herr Reichholf, in dem Buch ja bewusst nicht die Raritäten der Vogelwelt in den Mittelpunkt, sondern Vögel, die wir alle im Garten, im Park oder am See beobachten können, zum Beispiel verweilen Sie sehr ausführlich bei den Enten. Haben Sie das Gefühl, dass wir ganz grundsätzlich viel zu wenig über die Vögel wissen?
Reichholf: Ja, so ist es, denn mit dem bloßen Erkennen, dass das Enten sind, ist es ja nicht getan. Es kursieren dann zum Teil sehr kuriose, geradezu abwegige Meinungen, was Enten auf den Stadtteichen tun oder nicht tun sollen. Auch bei den Gänsen ist es so. Und im Grunde genommen stellt sich heraus, dass oft sogar Vogelschutzverbände gar nicht so recht wissen, was die grundlegenden Lebensvorgänge sind, die den Vogel kennzeichnen, und warum bestimmte Arten in den Städten gut leben können und was wir an diesem ihrem Leben beobachten können. Beispielsweise bei den Enten in der Stadt, dass die Männchen eine andere individuelle Art von Lebensweise insbesondere in der Fortpflanzungszeit verfolgen als die Weibchen. Und dass es passieren kann, wenn Weibchen Gelege verloren haben und wieder zurückkommen, um sich erneut zu paaren, dass sie vergewaltigt werden.
Dann meinen alle, die das sehen, erstens, wie furchtbar, und zweitens, es gibt zu viele Männchen. Aber dass es so viele Männchen gibt, liegt daran, dass die Weibchen dieser Entenarten, also Stockente ist ja bei uns die häufigste auf den Teichen, sich zurückgezogen haben zum Brüten. Also ist logischerweise ein Männchenüberschuss. Wenn der künstlich erzeugt wird durch Abschuss, dann sieht die Lage anders aus. Und das ist eben vielfach draußen in der freien Natur der Fall, wo die Enten, wo andere Vögel bejagt werden und infolgedessen oft die Weibchen sogar mehr drunter zu leiden haben, weil sie stärker an Gelege und Junge gebunden sind als die Männchen, die sich früher davonmachen und vielleicht dann weniger getroffen werden.
Bürger: Diese und viele weitere Geschichten über das Leben der Vögel lesen wir im neuen Buch von Josef Reichholf "Ornis: Das Leben der Vögel", erschienen bei C.H. Beck. Herr Reichholf, danke Ihnen sehr fürs Gespräch!
Reichholf: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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