Organspende auf dem Prüfstand

"Die Transplantationsmedizin muss ersetzt werden"

Alexandra Manzei im Gespräch mit Christopher Ricke · 29.03.2014
Die Organverpflanzung gilt als letzter Ausweg bei vielen Krankheiten. Doch es gibt nicht genug Organe und die Technik ist riskant. Die Gesundheitswissenschaftlerin Alexandra Manzei sagt, statt Geld in das Verfahren zu stecken, müssten alternative Technologien und Präventionsmaßnahmen gefördert werden.
Christopher Ricke: Nach den Organspendeskandalen gibt es jetzt einen weiteren Aspekt, der möglicherweise die Bereitschaft, Organspender zu werden, noch einmal senkt. Es gibt nämlich zu viele Fehler bei der Diagnose Hirntod. Das heißt, es werden offenbar Menschen Organe entnommen, die noch gar nicht hirntot sind. Die Deutsche Stiftung Organspende spricht da von 0,67 Prozent Fehlerquote. Das klingt nicht viel, wären aber umgerechnet immerhin sechs Patienten, bei denen im vergangenen Jahr der Hirntod fälschlich diagnostiziert wurde. Das Problem ist aber noch ein viel größeres, denn ob es sich bei Hirntoten tatsächlich um Tote handelt, denen man Organe entnehmen kann oder um Sterbende, bei denen man das nicht kann, soll und darf, ist ebenfalls umstritten.
Ich sprach mit Alexandra Manzei, sie ist Professorin für Methodologie und qualitative Methoden in der Pflege und Gesundheitsforschung der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Sie war mal Krankenschwester im Bereich Organentnahme. Frau Manzei, wer definiert denn eigentlich, wann ein Patient tot ist und Organe entnommen werden können? Ist es das Gesetz, ist es die Wissenschaft, sind es die Ärzte?
Alexandra Manzei: Das ist eine entscheidende Eingangsfrage. Bei uns in Deutschland meint man ja, das müsste das Transplantationsgesetz definieren. Das tut es auch, insofern es sagt, bei Patienten, bei denen lebensnotwendige Organe entnommen werden, muss entweder der Tod oder zumindest der Hirntod eingetreten sein. Dass es sich aber bei Hirntoten um Tote handelt, wird nicht im Gesetz festgelegt, sondern erst durch die Richtlinien der Bundesärztekammer, denen unser Gesetzgeber das 1997 mit der damals neuen Regelung zugesprochen hat. Und erst dort wird gesagt, hirntote Patienten, also Menschen, bei denen das Großhirn, Kleinhirn und Stammhirn ausgefallen ist, gelten nach medizinischen Kriterien als tot.
Ricke: Sind wir da nicht besonders streng, vielleicht zu streng? In anderen Ländern legt man das ja viel großzügiger aus. Da gibt es den Herztod.
Definition des Hirntodes von Interesse an Organen geleitet
Manzei: Ich will es mal so rum formulieren: Bevor es diese Definition des Hirntodes gab, die Mitte letzten Jahrhunderts entstanden ist, war bei Patienten, die beatmet sind, konnte man beobachten, dass sie nicht versterben. Dann hat man zur gleichen Zeit, als sich diese Möglichkeit der Beatmung entwickelte, hat man festgestellt oder entwickelte sich eben auch die Transplantationsmedizin, und man musste dann sagen, wir brauchen ein neues Kriterium, um bei Patienten, die nicht mehr wach werden, die aber auch nicht versterben, die Maschinen abstellen zu können. Zur gleichen Zeit entwickelte sich der Bedarf von Organen in der Transplantationsmedizin, und man hat dann in einer doppelten Bestimmung festgelegt, dass diese Komapatienten, die eben nicht mehr aufwachen, gleichzeitig als tot gelten.
Das heißt, das war sozusagen schon von dem Beginn an – in dieser Bestimmung des Hirntodes liegt ein durchaus strategisches Interesse, an Organe zu gelangen. Und, um auf Ihre Frage zurückzukommen, das sehe ich in der Definition des Herztodes auch. Weil, wenn Sie sich mal vorstellen, also Herztod, um daran Organe zu entnehmen – weil, faktisch passiert es ja so, dass Sie bei einem Patienten, der herztot ist, also der einen Herzinfarkt hatte oder einen Herzstillstand in jedem Fall, dass man dort laut dem Maastrichter Protokoll, was das festlegt, zehn Minuten warten muss, bevor man ihn wiederbelebt oder bevor man die Organe entnimmt. Aber was eben auch passieren kann, ist, dass Sie so einen Patienten wiederbeleben, um ihm dann die Organe für einen anderen Patienten zu entnehmen. Und da muss man sich die Frage stellen, wie können wir bei einem Patienten, der sozusagen in der Lage ist, wiederbelebt zu werden, dann noch davon ausgehen, dass er tot ist.
Ricke: Das ist moralisch eine höchst schwierige Frage, aber rein medizinisch ist es ja wichtig, dass man schnell handelt. Man kann ja nicht warten, bis der Leichnam kalt ist. Organe müssen in einem Zustand entnommen werden, in dem sie noch transplantiert werden können. Wie groß ist denn da das Dilemma?
"Es gibt keine ehrliche Aufklärung über den Hirntod"
Manzei: Also, ich würde es so rum formulieren: Eines der großen Dilemmata im Moment sehe ich darin, dass man den Menschen weismacht, dass es sich bei hirntoten Patienten um Tote handelt. Das ist so eine Folge der Aufklärung der letzten 20 Jahre, dass man sagt, Sie können nach Ihrem Tod Organe spenden. Faktisch ist das aber nicht der Fall. Wie Sie schon richtig gesagt haben, Leichenorgane kann man nicht verpflanzen. Man kann nur lebenswichtige Organe von eben jener ganz, ganz geringen Zahl von hirntoten Patienten nehmen. Das sind maximal 2.000 im Jahr. Nur von denen kann man die Organe noch verpflanzen. Von allen anderen – wir haben 850.000 Tote im Jahr – von allen anderen Patienten geht das eben nicht.
Und in den Vorträgen, die ich zum Thema halte, begegnet es mir einfach immer wieder, dass die Menschen das nicht wissen. Die meisten Menschen glauben, sie können, ich sag mal, 48 Stunden in der Leichenhalle liegen und dann noch Organe spenden. Und wenn man ihnen sagt, nein, das geht faktisch nicht, Sie müssen hirntot sein, und hirntot sein bedeutet, auf einer Intensivstation zu liegen, beatmet zu sein, bei vollständig lebendigem Körper und bei komplettem Ausfall des Gehirns. Dann sind die Leute erst mal erschrocken. Und das ist das, wo ich sagen würde, das ist keine Aufklärung. Wenn wir von den Leuten erwarten, dass sie, wie ich es nennen würde, im Prozess des Sterbens ihre Organe spenden oder einer Organspende zustimmen, muss man sie ganz ehrlich aufklären.
Ricke: Wenn man diese Argumentation stringent bis zum Ende führt, können wir aber eigentlich im Großen und Ganzen das Thema Organtransplantation in Deutschland dann bleiben lassen?
"Sowieso nicht genügend transplantierbare Organe vorhanden"
Manzei: Ich will es mal so rum formulieren: Ich würde ja sowieso sagen oder ich sage sowieso in meinen Vorträgen immer, wir müssen uns sowieso Alternativen überlegen, weil es ohnehin nicht ausreichend Organe gibt. Wir haben zurzeit allein in Deutschland 11.000 wartende Patienten. Im Euro-Transplant-Raum sind es 15.000 Patienten. Hirntote Patienten haben wir lediglich offiziell, nach DSO-Zahlen, um die 2.000. Also, es gibt ohnehin nicht ausreichend Organe. Man macht den Leuten etwas vor, wenn man ihnen sagt, wenn nur alle einen Organspenderausweis hätten, dann gäbe es auch genügend Organe. Das ist faktisch nicht der Fall.
Wir müssen also sowieso an Alternativen arbeiten, weil – und das ist ein zweiter Punkt, der immer dazu kommt – der Bedarf an Organen stetig wächst, weil – es gibt unterschiedliche Gründe, aber vielleicht, um zwei zu nennen – weil zunehmend Krankheiten, also mehr Krankheiten durch Organtransplantation geheilt werden, und weil beispielsweise auch die Retransplantationsraten steigen.
Was die meisten Menschen auch nicht wissen, ist, dass ja jedes Fremdorgan immer noch früher oder später abgestoßen wird, und dass solche Menschen, bei denen ein Organ abgestoßen wird, erneut und bevorzugt auf die Warteliste kommen, sodass es dazu kommt, dass in Deutschland jemand eben bis zu vier, fünf, sechs Nieren erhalten kann. Wo man sagen kann, das mag ethisch und moralisch durchaus gerechtfertigt sein, wodurch aber eben der Bedarf um ein Vielfaches ansteigt. Also das Argument ist, zu sagen, es wird ohnehin nicht ausreichend Organe geben, das kann man einfach auch nachrechnen. Das heißt, wir müssen sowieso uns zunehmend um alternative Therapien kümmern.
Ricke: Aber was sind das für alternative Therapien? Sind das künstliche Organe, gezüchtete Organe oder neue Heilungswege?
Klinische Tests mit künstlichem Herzen
Manzei: Wenn Sie mich fragen, würde ich ganz breit ansetzen und alles in Betracht ziehen, was Sie gerade beschrieben haben. Und zwar beginnend, sage ich mal, bei präventiven, also vorbeugenden Maßnahmen, die da ansetzen, dass erst gar keine Organschäden entstehen. Das kann sehr breit sein, von der Entwicklung von Medikamenten, die eben keine Organschäden nach sich ziehen, zum Beispiel. Das kann sein, auf das Verhalten einzelner einzuwirken, dass wir weniger rauchen, trinken, essen et cetera, um gesund zu bleiben. Aber, und das ist dann meine Position, ich würde auch sehr breit bei technischen Verfahren, also alternativen technischen Verfahren ansetzen. Beispielsweise wird zurzeit klinisch erprobt in Frankreich, ein Kunstherz, das man einsetzen kann anstatt eines menschlichen Herzens. Ich würde da sehr breit ansetzen und auch Technologien fördern, die nicht nur auf Transplantation menschlicher Organe ausgerichtet sind.
Ricke: Was ist dann die Transplantationsmedizin, die wir zurzeit haben. Ist das so wie die Atomkraft eine Brücken- und Übergangstechnologie?
Manzei: Wir sollten uns vor dem Hintergrund, dass es sowieso niemals ausreichend Organe geben wird, und vor dem Hintergrund der Probleme, die damit verbunden sind, klar machen, dass wir es auf Dauer hier mit einer Brückentechnologie zu tun haben, die wir durch andere, alternative Technologien und Präventionsmaßnahmen ersetzen müssen. Also ähnlich, wie wir es beispielsweise, ich sag mal, in den 70er-Jahren es uns nicht vorstellen konnten, dass wir jemals auf Atomkraft verzichten würden, ist das sicherlich auch ein langer Weg, aber ich glaube, man muss zumindest mal drüber nachdenken, bei all den Problemen, die mit Organtransplantation verbunden sind, ob man nicht stärker auf Alternativen setzt.
Ricke: Alexandra Manzei, sie ist Professorin an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Vielen Dank, Frau Manzei!
Manzei: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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