Operation Seggenrohrsänger

    Von Anselm Weidner · 10.05.2013
    Der Seggenrohrsänger - der seltenste Zugvogel unter Europas Singvögeln - ist bedroht. Nun soll ein internationales Schutzprogramm sein Überleben sichern.
    Soweit das Auge reicht Seggenwiesen: grüne Gräser mit goldbraunen Ähren kniehoch im dunklen Moorwasser, überwuchert von Moospolstern, vereinzelt Birken und Gesträuch. Die Abendsonne vergoldet die weite amphibische Landschaft in den Flussniederungen der Biebrza im Nordosten Polens.

    Kleine braune Vögel turnen wie Akrobaten durch die licht stehenden Seggengräser. Mit ihren großen Hinterzehen greifen sie drei, vier Halme zugleich, flattern sonderbar unruhig mit ihren auffällig kurzen Flügeln über die glitzernden dunklen Wasserflächen und hören nicht auf zu singen. Es ist Mitte Mai, Seggenrohrsänger-Balzzeit.

    "Die Männchen, was tun sie, den ganzen Tag, die ganze Woche, den ganzen Monat, die ganze Brutzeit? - Nichts als balzen, balzen, balzen und versuchen mit Weibchen anzubandeln, zu kopulieren."

    Wie keine andere europäische Vogelart betreiben Seggenrohrsänger "Vielweiberei" und "Vielmännerei". Aber solch wildes Sexualverhalten hat sie nicht davor geschützt, der seltenste Zugvogel unter Europas Singvögeln, die einzige global gefährdete Singvogelart auf dem europäischen Festland, und fast ausgestorben zu sein. Jetzt gibt es wieder Hoffnung für ihre Rettung.

    Die wunderliche Klangvielfalt von Vogelkonzerten in Niedermooren, einem in West- und Mitteleuropa fast verschwundenen Biotop! Mit Karl Schulze-Hagen und Martin Flade auf einer Nachtexkursion durchs Bagno Wawki-Moor im Biebrza-Tal. Der eine ist Arzt und in seiner Freizeit ornithologischer Forscher, der andere Landschaftsökologe. Sie waren mit Wissenschaftlern und Naturschützern aus 16 Nationen von der Ukraine bis Senegal im April 2011 zu einer internationalen Konferenz zum Schutz des Niedermoorspezialisten unter den Vögeln in den Bierbza-Nationalpark gekommen, das letzte große zusammenhängende Niedermoorgebiet innerhalb der EU an der Grenze zu Weißrussland.



    Die Weltpopulation der Seggenrohrsänger liegt bei 13.000 singenden Männchen, 40 Prozent davon brüten in Weißrussland. Dort sind noch 10 Prozent der ursprünglichen Moore erhalten, einmalig in Europa. Martin Flade, der Initiator des Schutzprogramms:

    "Als wir 1995 die Seggenrohrsänger da gefunden haben und das nach wie größte Brutgebiet der Welt, das Moor Swanjetz, als wir dahin kamen, war da ne riesen Meliorationsmaschinerie im Gang, Planierraupen haben die Vegetation abgeschoben, Bagger haben Gräben ausgehoben, das Wasser schoss aus dem Moor raus. Das heißt, die Entdeckung des Seggenrohrsängers war praktisch der Wendepunkt. Ab diesem Zeitpunkt haben die weißrussischen Wissenschaftler begriffen, dass das ne große Besonderheit ist, die sie da noch haben und haben innerhalb von kürzester Zeit die Melioration dieser letzten Flächen gestoppt. Wär das nicht passiert, wären jetzt wahrscheinlich die letzten zehn Prozent auch weg. Das heißt, wir sind wirklich fünf Minuten vor zwölf gekommen. Es wurden die Hebel umgelegt und das innerhalb von zwei Jahren und das war letztlich das Überleben des Seggenrohrsängers und dieser Niedermoore."

    Und die weißrussischen Kollegen hatten auch schnell begriffen, dass es beim Seggenrohrsängerschutz um viel mehr geht, als um den Schutz dieses unscheinbaren Vögelchens, es geht um biologische Vielfalt, die Erhaltung der letzten Niedermoore und entscheidend um Klimaschutz. Und dann ging alles ganz schnell: Die weltweit größten Programme zur Wiederherstellung von Mooren wurden beschlossen – Weißrusslands Beitrag zum Klimaschutz, der sich auf dem Kyoto-Markt versilbern lässt.

    Aber was hilft aller Habitatschutz in den mittel- und osteuropäischen Brutgebieten, wenn wir uns nicht um die afrikanischen Überwinterungsgebiete des kleinen Zugvogels in Mali, Mauretainien und Senegal kümmern, sagt Flade. Denn dort findet gerade ein Lebensraumverlust des bedrohten Vogels in rasendem Tempo statt durch die Ausdehnung der Wüsten, den Klimawandel und nicht zuletzt die Vergrößerung der Reisanbauflächen, um unabhängiger zu werden vom europäischen Lebensmittelmarkt und der Überflutung mit Überschussgemüse aus der EU.

    Und er zeigt ein Foto: Ein weißrussischer und eine senegalesischer Naturschützer stehen bei einer gemeinsamen Aktion zur Berringung von Seggenrorsängern Arm in Arm im Wasser irgendwo im Senegaldelta, nach Tuareg-Art in dunkle Tücher gegen Sonne und Sandsturm gehüllt, und strahlen in die Kamera. Sie haben verstanden, so Martin Flade:

    "Wenn wir im Senegal unsere Probleme mit dem Klimawandel und der Wüstenvergrößerung begrenzen wollen, dann müsst ihr da oben eure Moore schützen und vernässen und die da oben in Weißrussland verstehen, wenn wir hier oben nicht unsere Moore schützen usw., dann kommen die im Senegal ja immer weiter in Bedrängnis."

    Die Operation Seggenrohrsänger, an der sich inzwischen 22 Länder beteiligen, hilft auch verstehen, wie Nord und Süd zusammenhängen und wie die Spaltung der Welt in Nord und Süd gemildert werden könnte.