Oper ohne Hoffnung

Von Stefan Keim · 13.04.2013
Es ist eine sehr spezielle Oper, ein aufwühlendes und emotionales Stück mit einer ganz besonderen Klangfarbe: Poul Ruders hat "Selma Jeskova" komponiert. Von der Vorlage "Dancer in the Dark", ein Film mit der Sängerin Björk, entfernt er sich dabei ganz bewusst.
Am Ende des Films stehen fast allen Zuschauern Tränen in den Augen. Manche heulen hemmungslos. Das Schicksal der fast blinden Selma in Lars von Triers "Dancer in the Dark" ist so ungerecht, hart und hoffungslos, dass man es kaum erträgt. Ein Opernstoff hätte man früher gesagt. Doch im zeitgenössischen Musiktheater gibt es nur wenige Komponisten, die ihr Publikum zu Tränen rühren wollen. Eine Ausnahme ist der 64-jährige Poul Ruders aus Dänemark. Das Theater Hagen zeigt seine Opernfassung von "Dancer in the Dark" nun als deutsche Erstaufführung. Die Oper trägt den Namen der Protagonistin "Selma Jezkova".

Selma Jezkova wird langsam blind. Die Augenkrankheit hat sie ihrem Sohn vererbt. Eine Operation könnte ihm helfen. Doch Selma verliert ihren Arbeitsplatz, und ihr Vermieter will ihre Ersparnisse rauben. Es kommt zum Kampf, sie tötet ihn versehentlich und wird deshalb hingerichtet. Die Sängerin Björk spielte nicht nur Selma in Lars von Triers Film "Dancer in the Dark", sondern schrieb auch berührende Songs. Auf die hat Opernkomponist Poul Ruders ebenso verzichtet wie auf viele Einzelheiten der Handlung. Selmas tieftraurige Geschichte wird bei ihm zum Passionsspiel.

Eine Mutter opfert sich für ihr Kind in einer gefühllosen Welt, in der jeder nur für sich selbst kämpft. Poul Ruders ist international bekannter als in Deutschland. Seine letzte Sinfonie, die vierte, war ein Gemeinschaftsauftrag der Orchester in Dallas, Odense und Birmingham. Letzte Woche wurde sein Oboenkonzert von den New Yorker Philharmonikern gespielt. In seinen Opern ist Poul Ruders ein Geschichtenerzähler. Er hat bereits Margaret Atwoods "Report der Magd" und Kafkas "Prozess" vertont.

Emotionale Geschichte mit kargen Bildern
Die Uraufführung von "Selma Jezkova" vor drei Jahren in Kopenhagen wurde als Geistergeschichte inszeniert. In einer zerbombten Kirche steht Selmas Sohn am Sarg seiner Mutter, sie erhebt sich und alles passiert noch einmal. Den Mitschnitt dieser Aufführung gibt es auf DVD zu kaufen. In Hagen hat Regisseur Gregor Horres einen anderen Zugang gefunden. Er inszeniert die emotionale Geschichte mit kargen, wirkungsvollen Bildern. Zum raunenden, die Tragödie andeutenden Orchestervorspiel gibt es Videobilder einer U-Bahn-Fahrt.

Die Konturen verschwimmen, so sieht Selma die Welt. Dunkel und fast leer ist die Bühne. Der Film dauert zweieinhalb Stunden und reißt die Zuschauer mit wackeliger Handkamera und Nahaufnahmen mit. Die Oper ist nur 70 Minuten kurz, dennoch entwickelt sich die Handlung langsam, fast wie in Zeitlupe. Ein unwiderstehlicher Sog entsteht.

Ungewöhnlich ist auch die Instrumentierung: Poul Ruders hat Oboen und Flöten weggelassen, dafür gibt es Kontrabassklarinetten und Saxophone. Die Melodien klingen oft nach Puccini, doch darüber hinaus entwickelt Ruders faszinierende Klangmischungen. Dagmar Hesse singt und spielt Selma zart, liedhaft schlicht, ohne dramatische Operngesten. Es schnürt einem die Kehle zu, wenn am Ende eine Schlinge von der Decke baumelt, Selmas Körper sich zusammenkrampft und sie sich verzweifelt gegen die Hinrichtung wehrt. Ihre einzige Freundin tritt auf - grandios verkörpert von Kristine Larissa Funkhauser - und erzählt Selma, dass die Operation ihres Jungen erfolgreich war.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer in einer finsteren, packenden, durchweg überzeugenden Oper.