Onegin an der Amstel

Von Frieder Reininghaus · 14.06.2011
Zur Eröffnung des diesjährigen Holland Festivals wurde – und das klang nicht gerade innovativ – Peter Tschaikowskys "Eugen Onegin" anberaumt, eine Nachzüglerin der "romantischen Opern" über müßiggängerisches Leben besserer Kreise im zur Neige gehenden Zarenreich.
Womöglich lassen sich gewisse Parallelen zu persönlichen Befindlichkeiten in einer verwöhnten Generation junger Leute heute diagnostizieren und herauspräparieren (immerhin erschienen Mitglieder der königlichen Familie zur Premiere). Ob psychische Aggregatzustände im spätfeudalen Rußland heute noch oder wieder von theatral prickelnd werden, entscheidet sich durch den Zugriff der Regie. Indem der Regisseur Stefan Herheim erstmals in die Niederlande verpflichtet wurde, stand zu erwarten, daß Interesse für ein Spiel über die Demarkationslinien der Entstehungszeit des Werks hinaus geweckt wird.

Zunächst einmal stachen die Ausstattung und die Kostüme von Philipp Fürhofer und Gesine Völlm in die Augen: Die große Prachtentfaltung im Foyer eines hinter schwerem dunklem Marmor verborgenen modernen Festsaals, das die Gäste über zwei Aufzüge erreichen, dürfte dem konservativen Geschmack, der auch in der niederländischen Hauptstadt auf dem Vormarsch ist, sehr entgegengekommen sein. Der Aufmarsch zum Ball in historischen Gewändern und mit reichlich militärischen Ehren, bei dem der Bonvivant Jewgeni Onjegin bereits herumtorkelt, obwohl das Libretto von Konstantin Schilowski und Tschaikowsky ihn erst später in die "lyrischen Szenen" einführen, ist ein Vorgriff.

Auch des weiteren operiert Herheim mit den Mitteln von Vorschau und Rückblende. Das, was an Andeutungen über Seelenzustände aus der Dichtung Alexander Puschkins übrigblieb und was die sequenzenselige Musik im Hinblick auf den Gefühlshaushalt ausplaudert, wird im Wechselspiel der höheren Tochter Tatjana – der massiv-solide singenden Krassimira Stoyanova – und Eugen O. – dem rollendeckend überzeugenden Bariton Bo Skovhus – bzw. deren beiden stummen Doppelgängern überdeutlich ausgespielt und breitgetreten. Der russische Braunbär darf ein paar lustige Einlagen vorführen. Ein großer leuchtender Stern geht über einer der Festszenen auf, wird von Wunderkerzen noch lichter illuminiert. Herabstürzendes heißes Material setzt die Perücke von Monsieur Triquet in Flammen.

Auch Anspielungen auf die weitere russische Geschichte stellen sich ein: Zur Aufforderung zum Duell erscheinen ein paar Rotarmisten. Deren Offiziere sekundieren dem Ehrenhändel der beiden aus nichtigem Grund verfeindeten Freunde Onegin und Lenski auf wenig seriöse Weise. Und dann gesellen sich noch Primaballerinen aus "Dornröschen" und "Schwanensee", Helden des sozialistischen Sports und Kosmonauten in die Festtableaus, die immer wieder zu Gruppenfotos wie aus den heroischsten Zeiten des Bolschoi-Theaters gerinnen.

Die ganze heiter-ahistorische Pracht wirkt, als habe der Regisseur der Handlung und ihrer Musik nicht zugetraut, einen großen Abend herzugeben. Daher wohl die exzessiven und extrem teuren Zutaten. Die Musik, diese gewaltig kalorienreiche Nachspeise des 19. Jahrhunderts, wird vom Koninklijk Concertgebouworkest unter der Leitung von dessen Chefdirigenten Mariss Jansons mit aller Liebe zum Detail ausmusiziert – makellos und effektvoll. Wie die ganze Produktion: eine betörend schöne Betäubung der Hohlheit des Werks. Also in gewisser Weise eine adäquate und an die heutige Amsterdamer Gesellschaft adressierte frohe Botschaft. Da fügt sich gut, dass der Held, dieser ‚Loser’, noch nicht einmal den finalen Amoklauf und Suizid bewerkstelligen kann: Die Waffe, die ihm Fürst Gremin in die Hand drückt, ist nicht geladen.

Informationen der Nederlandse Opera
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