Olympia

Weg mit dem Medaillenspiegel!

Die Olympia-Goldmedaille die ehemaligen deutschen Leichtathletin Bärbel Wöckel, die sie 1980 über 200 Meter gewann, fotografiert in Breitenbrunn im Odenwald (Hessen)
Die Olympia-Goldmedaille der ehemaligen deutschen Leichtathletin Bärbel Wöckel, die sie 1980 über 200 Meter gewann. © dpa / picture alliance / Frank Rumpenhorst
Von Ralf Hutter · 22.02.2018
Wie wäre es, den Olympia-Erfolg in Beziehung zur Einwohnerzahl eines Landes zu setzen? Punkte zu vergeben statt Medaillen? Dann ginge es mehr um den Sport, findet der Journalist Ralf Hutter - statt um Nationalismus, Macht und Kommerz.
Schon zu Beginn der letzten Olympiawoche konnte die deutsche Mannschaft mehr Medaillen verbuchen als bei den letzten Winterspielen, darunter auch mehr Goldmedaillen. 2014 in Sotschi landeten hingegen noch die Niederlande vor Deutschland im Medaillenspiegel. Laien werden sich da fragen, wie das sein kann. Wo kann in den Niederlanden nennenswert Ski oder Snowboard gefahren werden? Wie oft schneit es da überhaupt?
Tja, Sportarten im Schnee hat der niederländische Sport bei Olympia nicht nötig. In Sotschi sprangen auch so acht Gold-, sieben Silber- und neun Bronzemedaillen heraus, und zwar alle im Eisschnelllauf. Wie aussagekräftig ist also der gängige Medaillenspiegel, wenn ein Land, das die meisten Wintersportarten vielleicht gar nicht nennenswert fördert, es in der Rangliste vor Länder schaffen kann, die in vielen Sportarten Medaillen kriegen? Ist das gerecht?

Für ein Punktesystem wie beim Motorsport

Nein, am Medaillenspiegel, wie er wieder überall abgedruckt wird, ist sehr wenig gerecht. Ein Verband, der nur eine Goldmedaille holt, landet vor einem, der zehn Mal Silber schafft. Wer zehn Mal Vierter wird, kommt gar nicht vor. Warum werden die Platzierungen ab der Vier nicht mitgewertet? Zum Beispiel mit einem Punktesystem wie beim Motorsport. Die Wochenzeitung "Die Zeit" führte so einen sogenannten "fairen Medaillenspiegel" bei den Spielen von Rio de Janeiro 2016 und vergab in jedem Wettbewerb Punkte bis Platz Zehn. Natürlich ist das zwar fairer, aber auch nicht wirklich fair, unter anderem, weil die Grenzziehung bei der Zehn ebenfalls willkürlich ist. Übrigens vergibt das Internationale Olympische Komitee in jedem Wettbewerb bis Platz Acht ein olympisches Diplom. Wo ist die Rangliste nach gewonnenen Diplomen?
Es gibt weitere Kritikpunkte. So setzt das Internetportal medalspercapita.com den Olympia-Erfolg in Beziehung zur Einwohnerzahl eines Landes, oder zu dessen Wirtschaftsumsatz. Willi Lemke, Sonderbotschafter Sport der UNO und ehemaliger Politiker in Bremen, schlug 2016 sogar vor, den Medaillenspiegel ganz abzuschaffen. Diese Rangliste diene dazu, dass "Länder ihre Macht demonstrieren können", meinte er in einem Interview.

Abkehr vom Nationalistischen

Diese Kritik führt auf den richtigen Weg. Wir brauchen keinen gerechteren Medaillenspiegel, sondern eine Abkehr von der nationalistischen und anderweitig politischen Ausschlachtung des Sports. Eine solche Ausschlachtung gibt es übrigens auch, wenn die großen Buchmessen Gastländer benennen. Sowohl für die Künste als auch für den Sport gilt: Entweder es geht um die Sache oder um Nationalismus, Macht, Kommerz. Bücher sollten, wie Sportlerinnen und Sportler, interessieren, weil sie gut sind, und nicht, weil sie aus einem bestimmten Land kommen.
Die nationalistische Perspektive durchdringt aber die Medienberichterstattung. Wenn Deutsche mal Gold gewinnen, ist das in so einigen Radionachrichten die Spitzenmeldung. Ansonsten heißt es: Soundso kam als bester Deutscher auf Platz X. Das sind dann oft eher unbekannte Leute. Warum sollte deren Platzierung die Allgemeinheit interessieren?

Rangliste bedient Gelüste

Deshalb: Weg mit dem Medaillenspiegel! Früher gab es ihn sowieso nicht. Warum auch? Wenn ein Land tatsächlich eine besonders tolle und dann erfolgreiche Sportförderung praktiziert, dann fällt das auch ohne ihn auf. Diese Rangliste bedient nur Gelüste, die dem Sport fremd sein sollten. Sie bringt die Gefahr mit sich, dass für viele Menschen bei Olympia die vermeintliche nationale Größe im Vordergrund steht und für die Regierungen der Machterhalt.
Für eine kleine Ausnahme sorgte da einmal seltsamerweise ausgerechnet Russlands Präsident Vladimir Putin. Er sagte kurz vor den Spielen in Sotschi: Wenn für Russland da nur eine Goldmedaille rausspringt, wäre ihm das recht, solang es die im Eishockey ist. So muss es sein! Was interessieren mich alle möglichen anderen Sportarten, wenn ich vor allem Eishockey-Fan bin? Hier hat der Sportsgeist zumindest ein Stück weit über den Nationalismus gesiegt.

Ralf Hutter ist studierter Soziologe und lebt als freier Journalist in Berlin.




Der Berliner Journalist Ralf Hutter.
© Privat
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