"Ohne die Häftlingsarbeit hätte der Plan nicht erfüllt werden können"

Steffen Alisch im Gespräch mit Frank Meyer · 03.05.2012
Viele West-Firmen wie Ikea ließen im Billiglohnland DDR produzieren - und "wenn sie sich interessiert hätten, dann hätten sie auch feststellen können, dass oft Häftlinge diese Arbeiten getan haben", sagt der Politologe Steffen Alisch. Er fordert einen offeneren Umgang mit der Zwangsarbeit in der DDR.
Frank Meyer: Viele Konzerne aus dem Westen haben Produkte im Ostblock herstellen lassen. Das war schließlich ein Niedriglohngebiet – soweit ist das bekannt. Aber wussten die Westkonzerne auch, dass ihre Produkte zum Teil in Gefängnissen durch Zwangsarbeit entstanden sind? Diese Frage liegt neu auf dem Tisch, seit gestern ein schwedischer Fernsehsender über die Produktion in DDR-Gefängnissen für Ikea berichtet hat. Der Politologe Steffen Alisch vom Berliner Forschungsverbund SED-Staat hat sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Jetzt ist er hier bei uns im Studio – seien Sie herzlich willkommen!

Steffen Alisch: Guten Tag!

Meyer: Von welchen Westkonzernen weiß man denn heute, dass für sie Zwangsarbeit im Osten geleistet wurde?

Alisch: Man weiß es ziemlich genau von Handelskonzernen, da berichten uns Häftlinge immer wieder davon, dass sie bei eigenen Einkäufen im Westen, nachdem sie zum Beispiel freigekauft wurden in den 80er-Jahren, auf solche Produkte gestoßen sind und sie auch sich beschwert haben bei diesen Einrichtungen und gebeten haben, das aus dem Sortiment zu nehmen und berichtet haben von den Bedingungen, unter denen sie produziert haben.

Meyer: Die "Berliner Zeitung" spricht zum Beispiel von Quelle und Neckermann als Beispiel für solche Handelskonzerne. Die Frage ist ja dann die entscheidende: Wussten diese Konzerne davon, dass per Zwangsarbeit für sie gearbeitet wurde?

Alisch: Ja, man muss zunächst mal sagen, in der DDR gab es ein staatliches Außenhandelsmonopol. Das heißt, Westfirmen konnten nie direkt mit den Produktionsfirmen verhandeln, sondern mussten das über sogenannte Außenhandelsbetriebe tun. Also die Geschäfte wurden auf Messen gemacht oder hier im Internationalen Handelszentrum in Berlin, und da saß auch immer die Stasi mit am Tisch in aller Regel bei diesen Anbahnungen von Verhandlungen, und nachdem also sozusagen ein Vertrag geschlossen wurde, hat dann der Außenhandelsbetrieb X den Produktionsbetrieb Y vermittelt, sodass es oftmals gar keinen direkten Kontakt gab oder nur in einem späteren Zeitpunkt.

Und das Problem war eigentlich, glaube ich, dass die Firmen im Westen zwar wussten, dass es ein Billiglohnland ist, aber sich für die genauen Bedingungen eher weniger interessiert haben. Also wenn sie sich interessiert hätten, dann hätten sie auch feststellen können, dass oft Häftlinge diese Arbeiten getan haben, weil es war in der DDR so, dass Häftlinge für die gefährlichsten, schmutzigsten Arbeiten eingesetzt wurden und auch ein wichtiger Faktor waren in den Betrieben, flexibel waren. In der DDR gab es eigentlich einen Arbeitskräftemangel, und ein Arbeiter war nicht ohne Weiteres zu bewegen, seinen Job zu wechseln. Häftlinge mussten das tun, also wenn Häftlinge eingesetzt wurden, dann war das eine Pflicht, und sie konnten sich dem nicht entziehen.

Meyer: Lassen Sie uns noch bei den Konzernen im Westen bleiben: Die "Berliner Zeitung" berichtet heute auch, dass das Versandhaus Quelle sich 1982 bereiterklärt hat, bei künftigen Verhandlungen mit seinen Vertragspartnern darauf hinzuwirken, dass bei der Herstellung von Waren für Quelle keine politischen Häftlinge beschäftigt werden. Das wurde heute zitiert, und daraus kann man doch ableiten, dass bis 1982 Quelle das durchaus in Kauf genommen hat, dass politische Häftlinge für Quelle gearbeitet haben.

Alisch: Das kann man wahrscheinlich so ableiten. Ich würde es nicht unbedingt aus einem einzelnen Dokument tun, aber es gibt viele Zeitzeugen, die berichten, dass sie direkt die Konzerne angesprochen haben.

Meyer: Also davon ausgehend nehmen Sie auch an, dass sie eigentlich von dieser Praxis wussten, aber sich nicht weiter dafür interessiert haben.

Alisch: Sie interessierten sich nicht dafür, sie haben gesagt, sie haben einen Vertrag mit den Außenhandelsbetrieben und deswegen, was sollen wir da jetzt uns weiter drum kümmern, das ist ja deren Angelegenheit.

Meyer: Aber lassen Sie mich da die naive Frage stellen: Hätte das nicht ein moralisches Problem sein müssen für Quelle, für andere Unternehmen, dass Häftlinge für sie im Osten arbeiten müssen?

Alisch: Es hätte ein moralisches Problem sein müssen, auch die Presse hat es ja wohl zum Teil auch aufgegriffen, aber das Problem war auch das Image der politischen Häftlinge in der DDR im Westen. Das war die Zeit der Entspannungspolitik, und es war eigentlich nicht opportun, über die DDR negativ zu reden. Man hat versucht, die Konflikte herunterzureden und zu beschwichtigen, und Häftlinge wurden oft als Querulanten angesehen, die wohl ja doch eigentlich – "die können doch nicht ganz umsonst da gesessen haben, also irgendwas wird da schon gewesen sein, bitte schön". Ein anderes Thema sind vielleicht auch DDR-Ökonomen, die in den Westen gekommen sind und gesagt haben über den realen Zustand der Wirtschaft in der DDR, wurde auch nicht unbedingt geglaubt. Da wurde gesagt, okay, das ist auch Propaganda.

Meyer: Und Sie haben ja schon gesagt, dass Häftlinge durchaus davon berichtet haben, wenn sie freigekauft wurden, wenn sie in den Westen kamen: Wir haben für dieses Unternehmen unter Zwangsarbeitsbedingungen im Osten arbeiten müssen. Und denen wurde einfach nicht zugehört?

Alisch: Denen wurde nicht zugehört – also ein Beispiel, was ich konkret kenne auch, ist die Praxis der Firma Pentagon, eines Dresdner Betriebes, die die Praktika-Spiegelreflexkameras im Westen verkauft haben. Das waren grundsolide Spiegelreflexkameras im unteren Segment, aber sehr beliebt, weil auch sehr billig, und die Gehäuse für diese Kameras wurden in Cottbus unter sehr gesundheitsgefährdenden Bedingungen hergestellt. Cottbus war ein Gefängnis vorwiegend für Ausreisewillige, 70 Prozent der Häftlinge mindestens waren etwa in den 70er-, 80er-Jahren dort politisch, das war auch bekannt. Trotzdem hat sich im Westen niemand dafür interessiert, und als Häftlinge dann zu den Händlern gegangen sind im Westen und darauf hingewiesen haben, was in dieser Kamera steckt, da wurden sie zurückgewiesen, es kamen also keine Änderungen. Die Geschäfte liefen weiter.

Meyer: Deutschlandradio Kultur – in Ostblockgefängnissen wurde für Westkonzerne gearbeitet, darüber reden wir mit Steffen Alisch vom Forschungsverbund SED-Staat. Die aktuelle Diskussion darüber wurde ja ausgelöst von diesem schwedischen Bericht über Ikea und Arbeit für Ikea im Ostblock. Jetzt hat die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" heute darüber berichtet, dass diese Verbindung von Ikea sogar noch viel weiter reichte, bis nach Kuba, dass auch in kubanischen Gefängnissen für Ikea gearbeitet worden sein soll. Was wissen Sie darüber?

Alisch: Ja, das beruht auf einer Forschung meines Kollegen Jochen Staadt, und der hat herausgefunden, dass die DDR sozusagen als Vermittler gegenüber Kuba tätig war, und Ikea zwar wusste und wollte in Kuba Waren bestellen, aber sie wussten nicht, dass diese Waren in kubanischen Gefängnissen hergestellt wurden, aber die DDR wusste das natürlich.

Meyer: Wenn man das insgesamt mal anschaut, dieses System von Zwangsarbeit für politische Gefangene, jetzt wieder auf die DDR bezogen, welches Ausmaß hatte das? Wie stark wurden Gefangene für solche Arbeiten herangezogen?

Alisch: Gefangene waren ein wichtiger Produktionsfaktor, und ich würde mal jetzt über die politischen Gefangenen hinausgehen. Auch so genannte Kriminelle litten ja unter diesen Arbeitsbedingungen. Es wurde ja da nicht wahnsinnig differenziert. Also der Unterschied bestand höchstens darin, dass die politischen Gefangenen meistens innerhalb des Gefängnisgeländes arbeiteten, weil man dort sie besser unter Kontrolle hatte, und die anderen sind oft in Betriebe kommandiert worden. Aber die schwierigen Bedingungen und gefährlichen Bedingungen hatten auch die sogenannten Kriminellen.

Es gab dann auch so in der chemischen Industrie zum Beispiel Arbeitsplätze mit extremer Belastung an Schadstoffen, Quecksilbervergiftungen kamen vor und auch Todesfälle in der Hinsicht, die vermeidbar gewesen wären, wenn man ein Minimum an Arbeitsschutz gehabt hätte. Das Problem war, dass diese Häftlinge ganz stark eingebunden waren in den Plan. Also ohne die Häftlingsarbeit hätte der Plan nicht erfüllt werden können, das hat schon Dimensionen von bestimmt – ich habe mal eine Schätzung gehört von etwa zehn Prozent, das halte ich schon für recht plausibel.

Meyer: Und was meinen Sie, wie beobachten Sie das, wie gehen die betroffenen Unternehmen im Westen heute mit diesem Problem um? Gibt es da eine Offenheit demgegenüber, auch vielleicht den Häftlingen, den Mitarbeitern im Osten damals mit Entschädigungen entgegen zu kommen?

Alisch: Nein, also das glaube ich nicht. Ich habe gestern Abend diesen schwedischen Fernsehbeitrag gesehen auf schwedisch, aber da gab es deutsche Zeitzeugen, zum Beispiel aus dem Möbelkombinat Hellerau, also ein Ingenieur und einen Manager, einen ehemaligen, und die haben gesagt, ja, der Tenor, also im Prinzip haben wir den Leuten noch einen Gefallen getan. Die haben Arbeit gehabt und sie haben Geld verdient. Das ist, finde ich, recht zynisch, weil, was haben sie für Geld verdient? Sie haben ein Taschengeld bekommen, was ungefähr zehn Prozent des Nettolohns betraf eines entsprechenden Arbeitsplatzes, also keinesfalls eine angemessene Entlohnung, und wie gesagt, die Arbeitsbedingungen waren im Allgemeinen, haben diese Häftlinge die schlechtesten Arbeitsbedingungen unter allen Leuten im Werk … also von Gefallen getan kann man wirklich nicht sprechen.

Meyer: Das heißt, die Zeit ist immer noch nicht so weit, dass mit diesem Thema und mit diesen Menschen vor allem, die davon betroffen waren, heute angemessen umgegangen wird?

Alisch: Nein, in keiner Weise. Vor allen Dingen, was, glaube ich, den Häftlingen vor allen Dingen fehlt, ist eben die Anerkennung, dass sie im Gefängnis waren zu Unrecht, und auch Haftbedingungen erleiden mussten, die eben Unrecht waren. Und das ist heute eben, wie gesagt, auch der Öffentlichkeit nicht klar. Und ich finde, was wichtig wäre, wenn man jetzt zum Beispiel fordert Entschädigungen für Ikea-Opfer, kann man machen, aber ich halte es für wichtiger, dass man Geld einsetzt, um jetzt diese Sache noch mal genau zu erforschen und auch zu sagen, was ist denn, wer ist da Opfer gewesen und warum, und diesen Leuten da sozusagen im Nachhinein noch bestätigt, dass sie unschuldig waren.

Meyer: Zwangsarbeit für Westkonzerne in DDR-Gefängnissen, darüber haben wir mit Steffen Alisch gesprochen, er arbeitet beim Berliner Forschungsverbund SED-Staat. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Alisch: Bitte!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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