Offener Vollzug

Ausbildung statt Einzelhaft

Häftlinge und Justizvollzugsbeamte stehen am 23.01.2014 in Berlin im Mittelbau der Justizvollzugsanstalt Moabit.
Als Alternative zur Haftstrafe setzt das Land Berlin in besonderem Maße auf offenen Strafvollzug. © picture alliance / dpa / Marc Tirl
Von Wolf-Sören Treusch · 02.02.2018
Der offene Strafvollzug soll Gefangenen helfen, sich auf ein Leben nach dem Knast vorzubereiten. Costa hat seine Chance genutzt: Er schloss während der Haft eine Ausbildung ab. Die Zeit im Gefängnis hält er dennoch für notwendig.
"Und jetzt wäre es halt dran, dass du mir sozusagen Bescheid sagst, wenn der Aufhebungsbescheid kommt vom Jobcenter, dass wir dich dann beim neuen Jobcenter im neuen Bezirk anmelden können. …"
Ein verwinkelter Altbau im Berliner Bezirk Mitte. Eva Morlo von der "Freien Hilfe e.V." erklärt einem jungen Mann - Spitzname Costa - auf was er achten muss, wenn er jetzt umzieht. Bisher hat er in einer Wohnung gelebt, die der Verein finanziert. Demnächst wird er bei seiner Freundin wohnen. Costa ist zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden. Die Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt. Straffällig gewordene Menschen wie ihn unterstützt die "Freie Hilfe" beim Übergang ins so genannte "normale Leben".
"Wenn das dann überhaupt noch in Frage kommt, dass du Leistungen beziehst. Vielleicht hast du 'nen Job …"
Costa ist 28 Jahre alt, 1,85 Meter groß, blond, drahtig, Dreitagebart. Unter dem rechten Ärmel seines Sweatshirts lugt ein mächtiges Tattoo hervor. Seine Delikte: Schwerer Raub, Diebstahl, Verstoß gegen das Waffengesetz. Er hat eine "Lokalität" überfallen und jemanden mit der Waffe bedroht. Mehr will er über seine Tat nicht sagen.
"Dann kam ich in die Zelle. Die Tür wurde geschlossen, 'ne massive Stahltür, die auch sehr laut war, und Bumm. Ja, da war ich erstmal, ne. In ungefähr vier bis fünf Quadratmeter Zelle, mit 'nem Bett, Waschbecken, Tisch, Stuhl, und 'ner Toilette. Ach, und ein Schrank war auch noch drinne."

"Es kommt irgendwann der Moment, wo dann die Tränen kullern."

Die ersten neun Monate gilt für ihn die höchste Sicherheitsstufe.
"Das heißt: Ich war 23 Stunden eingesperrt. Eine Stunde am Tag durfte ich auf den Hof – alleine. Duschen – alleine. Arbeiten durfte ich nicht. Ja, das war schon anstrengend."
Allein ist Costa auch mit seinen schlechten Gedanken und Alpträumen. Bilder schießen ihm in den Kopf, von all den Vergehen, die er im Laufe seines kurzen Lebens begangen hat und für die er nicht verurteilt wurde. Erpressung, Schlägereien, Dealereien.
"Ja, natürlich: Es kommt irgendwann der Moment, wo dann die Tränen kullern."
Die Familie fehlt ihm. Nichts hat er in der Zelle. Irgendwann wird ihm der Leidensdruck zu groß. Fast.
"Ich hatte auch echt keinen Bock mehr zu leben. Weil es war einfach zu krass. Für mich war es zu krass. Da war dieser Zeitpunkt, wo ich dann umgeschaltet habe und gesagt habe: Nein. Es ist deine Schuld, dass du hier gelandet bist, es ist deine Schuld, wie du dein Leben geführt hast. Also: mach es anders!"

Der erste Schritt in Richtung Normalität

Costa fängt an, Bücher zu lesen. Viele Bücher. Nach neun Monaten werden die Haftbedingungen gelockert. Seine Mutter besucht ihn regelmäßig. Er übernimmt in der Haftanstalt leichte Arbeiten.
"Da waren so 'ne Art Plastikstifte, das waren so Aufsätze für Tattoomaschinen. Das war halt so ne Kiste und dann musste ich pro Woche 6.000 Stück in meiner Zelle, musste ich immer zusammenklippen. Ticketicketick."
Costa erhält dafür ein kleines Gehalt.
"War nicht viel, aber es war so der erste Schritt, wieder ein bisschen was zu verdienen, eben auf ehrliche Art und Weise."

Tagsüber draußen, nachts im Gefängnis

Nach dreizehn Monaten bekommt er Haftverschonung. Costa sucht sich eine Lehrstelle. Er spielt dabei mit offenen Karten. Beim Berufsförderungswerk Berlin-Brandenburg wird er fündig: Er beginnt eine Ausbildung zum Zimmermann. Das eröffnet ihm die Chance, in den offenen Vollzug zu kommen: Tagsüber draußen, nachts im Gefängnis. Nach zweieinhalb Jahren, im Herbst 2016, kommt er vorzeitig raus aus der Haft. Er weiß: Jetzt braucht er Unterstützung, um eine Wohnung zu finden und für den alltäglichen Behördenkram. Costa wendet sich an die "Freie Hilfe e.V." und trifft dort Eva Morlo.
"Das Besondere an seinem Fall ist, dass er hier ankam und schon einen Plan oder ein Ziel gehabt hat, wo es für ihn hingehen soll. Also Abschluss der Ausbildung, ich nenne es mal, 'nen soliden Weg einzuschlagen. Das war schon sehr besonders und das grenzt ihn auch von vielen anderen, die wir hier haben, ab."
Einhundert bis einhundertzwanzig Klienten gleichzeitig unterstützen die Mitarbeiter der "Freien Hilfe" bei der Wiedereingliederung in den Lebensalltag. Eine schwierige Gratwanderung. Gerade bei der Wohnungssuche haben es die haftentlassenen Menschen immer wieder mit Vorurteilen zu tun.

Digitalisierung ersetzt keine Sozialarbeiter

Deshalb führt auch "Resozialisierung durch Digitalisierung" nicht wirklich weiter, sagt die Sozialarbeiterin Morlo. Dabei handelt es sich um ein Pilotprojekt der Justizverwaltung, bei dem Gefangene mit Tablets ausgestattet werden. So sollen sie beschränkten Zugang zum Internet erhalten und, so die Idee, schon aus der Haft heraus auf Wohnungs- und Jobsuche gehen können. Eva Morlo findet das utopisch: Das Geld solle man lieber in mehr Sozialarbeiter investieren.
"Eine unvorbereitete Entlassung ist eigentlich nahezu der Weg direkt wieder dahin zurück, wo sie herkommen. Man müsste da vorher mit mehr Fachpersonal ansetzen. Das ist der Schlüssel, um eine Resozialisierung auch schon in der Haft anzustoßen."

"Mehr coole Psychologen"

Man kommt ja nicht ohne Grund in den Knast, sagt Costa. Ihm habe der Gefängnispsychologe sehr geholfen, herauszufinden, was alles schief lief in seinem Leben. Daher wünscht er sich:
"Mehr Sozialarbeiter, mehr Psychologen. Aber coole Psychologen, nicht diese so, die dauernd reden wie als wärst du bekloppt oder so. Oder die irgendwas aus dir herausziehen wollen, sondern: einfach normale Gespräche führen."
Gespräche, die ihm geholfen haben, den Sprung in ein neues Leben zu wagen und bei diesem Leben auch zu bleiben. Costa hat seine Zimmermannsausbildung mit Bravour abgeschlossen.
"Und ich sage mal so: das Schicksal meinte es plus minus gut mit mir. Wäre ich nicht in den Knast gekommen, wäre es wahrscheinlich entweder so geendet, dass ich irgendwann jemanden umgebracht hätte oder ich sogar umgebracht worden wäre. Das hat mich dazu bewogen, mein anderes Leben, so wie es jetzt ist, zu führen."
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