Österreich

Islamgesetz - gut für die Integration?

Viele Muslime knien auf dem Boden und sprechen ein Friedensgebet gegen Extremismus in Kreuzberg, Berlin in Deutschland. Islamische Verbände halten Friedensgebet vor der Mevlana-Moschee ab, vor der vor einem Monat ein Brandanschlag verübt wurde. Eine Aktion des Zentralrats der Muslime, der Türkisch-Islamischen Union (Ditib), des Islamrates und dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ).
Muslime in Berlin-Kreuzberg: Braucht auch Deutschland ein Islamgesetz? © imago/Mike Schmidt
Moderation: Patrick Garber · 16.05.2015
In Österreich regelt seit dem Frühjahr ein Islamgesetz die Rechte und Pflichten von Muslimen. Taugt das Gesetz auch für Deutschland als Vorbild? Darüber sprechen wir mit dem österreichischen Politikwissenschaftler Cengiz Günay.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles reden wir heute wieder einmal über das vielschichtige Verhältnis von Politik und islamischer Religion. Zum einen tun wir das am Beispiel Österreichs, wo seit einem Vierteljahr ein Gesetz in Kraft ist, das genau dieses Verhältnis regeln soll. Zum anderen geht es um die Türkei, wo neuerdings mit dem Koran Wahlkampf gemacht wird.
Beide Themen haben Berührungspunkte und mein Gesprächspartner ist für beides Experte: Dr. Cengiz Günay ist ein österreichischer Politologe mit türkischen Wurzeln. Er befasst sich am Österreichischen Institut für Internationale Politik und an der Universität Wien wissenschaftlich mit politischem Islam und auch mit der Türkei. – Guten Tag, Herr Günay.
Cengiz Günay: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Günay, seit Mitte Februar ist bei Ihnen in Österreich das "Bundesgesetz über die äußeren Rechtsverhältnisse islamischer Religionsgesellschaften" in Kraft, kurz gesagt, das Islamgesetz. Seine Verabschiedung hat für viel Aufsehen gesorgt, auch im Ausland, nicht zuletzt hier in Deutschland. – Hat sich bei Ihnen in Österreich die öffentliche Aufregung inzwischen gelegt?
Cengiz Günay: Es scheint zumindest so, obwohl, glaub ich, die Problematik, die damit verbunden ist, mit diesem Gesetz nicht aufgelöst ist. Warum dieses Gesetz besonders kritisiert wurde, und zwar aus Sicht vieler Mitglieder islamischer Gemeinschaften in Österreich, ist, dass es einen Versuch des Staates darstellt, einzugreifen, wie Religion auszusehen hat und wie sie mehr oder weniger gelebt werden soll, in welchem Rahmenwerk.
Jetzt könnte man meinen, das ist eigentlich gar nicht so eine schlimme Sache, vor allem angesichts der öffentlichen Diskussion, die um Islam und Muslime in den verschiedensten europäischen Staaten stattfindet. Aber es ist eine grundsätzliche Frage. Inwieweit ist der Staat eigentlich legitimiert, Rahmenbedingungen für Religionen, und zwar in dieser Form, vorzugeben?
Deutschlandradio Kultur: Nun hatte Österreich schon ein Islamgesetz seit 1912. Damals herrschte ja noch der Kaiser Franz Josef. Warum wurde dieses über hundertjährige Gesetz nun, gerade jetzt erneuert?
"Der Islam ist eben eine vielstimmige Religion"
Cengiz Günay: Weil die Regierung meinte, dass es eine Erneuerung braucht allein schon deswegen, weil durch Migration die Zahl muslimischer Personen, die in Österreich leben, und zwar auch mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen im Islam vertraut sind, dass das erfordert, dass man da eine Änderung macht bzw., so denke ich, war eine der Motivationen dahinter aus Sicht der Politik, Auslandsfinanzierungen, also Finanzierungen von islamischen Gemeinschaften, Einrichtungen, Religionslehrern oder Imamen in Österreich durch das Ausland einen Riegel vorzuschieben.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben schon gesagt, dass viele Muslime in Österreich sich an diesem Gesetz stoßen. Dass es überhaupt für ihre Religion ein eigenes Gesetz gibt, das empfinden sie als ausgrenzend, diskriminierend, sie fühlen sich unter Generalverdacht gestellt. – Ist das was dran?
Cengiz Günay: Es gibt auch Gesetze in Bezug auf andere Religionsgemeinschaften, und zwar– ich möchte nicht sagen, für alle, aber für viele, außer der Katholischen Kirche. Was, glaube ich, viele stört oder verwundert, ist, dass sie mehr oder weniger als ein Sicherheitsrisiko betrachtet werden. Das ist das, was bei vielen übrig bleibt. Obwohl die Politik oder die Regierungsparteien meinen, dass es auch viele Verbesserungen für Muslime gibt, sind die aus Sicht eben der Kritiker wohl weniger als das, was eigentlich an Regulierungen von außen auferlegt wird.
Ich denke, das, was wichtig in dem Zusammenhang ist oder was man ansprechen sollte, ist, dass es in den verschiedensten europäischen Ländern – und da ist Österreich eben keine Ausnahme – den Versuch gibt von staatlicher Seite, insbesondere den Islam sozusagen zu nationalisieren, indem man versucht, einen Überbau, einen Rahmen, einen institutionellen Rahmen auch für den Islam und für islamische Ausbildungsstätten zu geben, die sozusagen eine europäische Form oder österreichische, belgische, deutsche Form des Islam propagieren sollen.
Das ist eigentlich im Grunde dem entgegenstehend, was islamische Tradition ist. Es gibt keine ähnliche Organisation wie zum Beispiel die Kirche oder kirchenähnliche hierarchische Strukturen in anderen Religionen, sondern der Islam ist eben eine vielstimmige Religion. Das ist, glaube ich, auch ein Problem, weil jetzt einerseits die nationalen Institutionen, wie zum Beispiel die österreichische Glaubensgemeinschaft, dadurch eine stärkere Rolle spielt und eine Aufwertung erfährt und mehr Mitsprache hat bei den einzelnen Gemeinschaften bzw. ihr diese Mitsprache durch dieses Gesetz gewährt wird. Das stößt eben bei vielen auf.
Deutschlandradio Kultur: Zu den Regelungen gehört unter anderem, dass den österreichischen Behörden eine verbindliche Übersetzung des Koran ins Deutsche vorgelegt werden muss, die dann eben für alle österreichischen Muslime sozusagen den Vorbild-Charakter haben soll. – Was soll das? Greift da der Staat nicht sehr tief ins religiöse Leben ein?
"Es ist der Gleichheitsgrundsatz schwierig einzuhalten"
Cengiz Günay: Das ist genau das, was ich gemeint habe. Wie legitim ist das eigentlich, dass der Staat in solche auch theologische Fragen eingreift? Die Auslegung des Koran – darüber streiten die verschiedensten theologischen Schulen oder bestehen nebeneinander, vielleicht besser gesagt, im Islam. Ich glaube, es ist eine Illusion zu glauben, dass es eine wahre richtige deutsche Übersetzung geben soll und darf und auch kann.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben auch schon einen weiteren Punkt angesprochen, nämlich die Finanzierung der Moscheengemeinden und insbesondere auch die Bezahlung der dort predigenden Imame. Es ist jetzt in diesem neuen Gesetz verboten, dass die Gemeinden aus dem Ausland finanziert werden. Das zielt wohl vor allem auf die oder gegen die türkische Religionsbehörde, gegen die Diyanet, die vielen in Österreich tätigen Imamen zurzeit das Gehalt noch zahlt. Und es soll wohl auch verhindern, dass mit Geld aus Saudi Arabien oder vom Golf salafistische Missionare Kämpfer für den Heiligen Krieg in Österreich anheuern. Kann so ein Gesetz, kann dieses Islamgesetz das überhaupt leisten?
Cengiz Günay: Wahrscheinlich zum Teil. Ich meine, es ist ja prinzipiell eine gute Sache, dass man in Österreich auch Ausbildungsstätten ermöglichen möchte für eben die Ausbildung von Imamen. Das ist sicher ein wichtiger Schritt.
Was eher schwierig scheint ist tatsächlich, Geldflüsse aus den verschiedensten Ländern zu verhindern, weil das ja auch für andere Religionsgemeinschaften gelten müsste, theoretisch. Also, es ist schon auch da der Gleichheitsgrundsatz, glaube ich, schwierig einzuhalten bei so einer Auslegung. Und ich glaube, das, was auch viele gestört hat bei diesem Gesetz oder wie es erlassen wurde, es scheint eine Anlassgesetzgebung zu sein. Oder sagen wir, es scheint einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Es wurde zwar präsentiert eine Verbesserung des Status der Muslime in Österreich, aber eigentlich sollte es eben dazu dienen, einen Riegel vorzuschieben dem Einfluss von Diyanet unter österreichisch-türkischen Muslimen.
Und da scheint die österreichische Regierung vor allem zu versuchen, den Einfluss der AKP in der Türkei auf diese...
Deutschlandradio Kultur: ... also der Regierungspartei.
Cengiz Günay: ... genau, der Regierungspartei, also den Einfluss der Regierungspartei auf diese Institution und dessen Auswirkungen auf Österreich, das scheinen sie eigentlich im Auge gehabt zu haben.
Deutschlandradio Kultur: Wie sollen denn jetzt die muslimischen Gemeinden, die etwa von der türkischen Religionsbehörde bisher unterstützt worden sind, finanziell über die Runden kommen?
"Es sind auffallend viele aus Österreich, die sich dem IS angeschlossen haben"
Cengiz Günay: Ganz ehrlich, ich bin da überfragt, wie das gedacht ist. Ich denke, es gibt da Übergangsregelungen. Und ich glaube, es gibt auch relativ viele Möglichkeiten, in der Praxis dann doch irgendwie zu umgehen, wenn man möchte.
Deutschlandradio Kultur: Stimmt es eigentlich, dass unter den ausländischen Dschihadisten im Nahen und Mittleren Osten auffallend viele aus Österreich stammen? Ist da also eine besondere Gefährdungslage?
Cengiz Günay: Ja. Es sind auffallend viele aus Österreich, die sich dem IS im Kampf in Syrien angeschlossen haben. Und ich denke, diese Frage ist nicht durch ein Islamgesetz zu lösen, sondern es hat tiefere soziale und gesellschaftliche Hintergründe, die auch nur gesamtgesellschaftlich angegangen werden können und nicht durch – wie soll ich sagen – eine konfessionelle Frage oder auf eine Konfession geschoben werden bzw. durch ein Gesetz in Bezug auf diese Konfession. Ich glaube nicht, dass das die Lösung dafür ist.
Deutschlandradio Kultur: Gibt es denn auch etwas Positives an diesem Gesetz aus Sicht der in Österreich lebenden Muslime?
Cengiz Günay: Wie gesagt, auch die Muslime in sich sind ja gespalten. Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich soll ja als eine zentrale Institution dadurch aufgewertet werden. Deswegen, glaube ich, sind die zum Beispiel nicht so unzufrieden mit diesem Gesetz. Und es gibt auch andere Punkte, die zum Beispiel den Religionsunterricht klarer herausstreichen bzw. auch aus religiöser Sicht die islamischen Feiertage mehr hervorheben. Das heißt aber, dass das keine arbeitsrechtliche Konsequenz hat. Ich denke, das wäre auch wichtig gewesen, dass Muslime bei ihren Feiertagen auch zum Beispiel automatisch arbeitsfrei haben, so wie es auch bei anderen Religionsgemeinschaften der Fall ist.
Also, es gibt durchaus vielleicht auch Punkte, die zu einer Verbesserung geführt haben, aber ich glaube, das, was über bleibt im Nachhinein, ist, dass es einen bestimmten Zweck verfolgt, eben die Auslandsfinanzierung zu verhindern bzw. den Islam in Österreich aus staatlicher Sicht kontrollierbar und dadurch übersichtlicher zu machen.
Deutschlandradio Kultur: Ihre Regierung in Wien meint ja, dass dieses Gesetz ein Exportschlager werden könnte, dass es als Vorbild auch vielleicht für Nachbarstaaten wie Deutschland taugen würde. Ich nehme an, diese Meinung teilen Sie nicht so ganz.
"Ich bin genauso Steirer wie auch zum Beispiel Istanbuler"
Cengiz Günay: Ich denke, dass ein Gesetz nicht die Probleme von Muslimen in den einzelnen europäischen Staaten, also ein Gesetz allein das nicht lösen kann. Ich denke, da sind viele verschiedene Faktoren, die mit eine Rolle spielen sollten. Dieses Gesetz, das in Österreich erlassen wurde, hat eindeutig auch ein paar Schwachstellen. Sonst wäre es auch nicht so vehement kritisiert worden von der Seite vieler Muslime. Ich denke, wenn man diese Schwachstellen, diese Kritikpunkte mit einbezieht, könnte man andernorts vielleicht ein besseres Gesetz verabschieden.
Deutschlandradio Kultur: Wer das österreichische Islamgesetz gar nicht vorbildlich findet, Herr Günay, das ist auf jeden Fall die türkische Regierung. Die kritisiert das Verbot der Auslandsfinanzierung, über das wir ja schon gesprochen haben. Und sie sieht in dem Gesetz ganz generell eine Diskriminierung von Muslimen. Der türkische EU-Minister Bozkir hat sogar gesagt, Ankara werde Österreichs Muslime vor diesem Gesetz beschützen. – Ist das Rhetorik oder steckt da mehr dahinter?
Cengiz Günay: Ich glaube, es zeigt, dass in dieser Frage wohl doch die Regierung in ihrem Nerv getroffen ist. Es war ja einer der Kritikpunkte der österreichischen Behörden, dass der verlängerte Arm sozusagen des türkischen Religionsamtes Diyanet inzwischen total – wie soll ich sagen – auf Kurs mit der Regierungspartei ist und eigentlich in vielen Belangen eine Auslegung der Religion propagiert, die sehr wohl mit der Politik der Regierungspartei in der Türkei einhergeht.
Insofern scheint das tatsächlich zu stimmen, weil, sonst hätte die Regierung in der Türkei wahrscheinlich nicht so vehement reagiert. Die Rhetorik, sich quasi als Schutzmacht der Türken im Speziellen und der Muslime im Allgemeinen im Europa zu präsentieren, das ist Teil eines politischen Diskurses, den die AKP in der Türkei schon seit einiger Zeit betreibt und damit einerseits Muslime und vor allem eben Türken und türkische Wähler im Ausland anspricht, die sich durch den dortigen politischen Diskurs oft diskriminiert und ausgeschlossen fühlen, und andererseits sich im Inland in der Türkei darstellen kann als der Beschützer auch der Mitbürger, die im Ausland leben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Günay, Ihre Wiege stand in der steirischen Landeshauptstadt Graz. Ihre Vorfahren stammen aus der Türkei. Fühlen Sie sich demzufolge als Erbe von Kara Mustafa Pascha?
Cengiz Günay: Nein, ich fühle mich nicht als Erbe von Kara Mustafa Pascha. Ich bin eigentlich beides. Meine Mutter ist Österreicherin und mein Vater stammt aus der Türkei. Also, ich denke, ich fühle mich zu beiden zugehörig. Ich bin genauso Steirer wie auch zum Beispiel Istanbuler.
Deutschlandradio Kultur: Die Frage hat ja einen ernsteren Hintergrund. Denn niemand Geringeres als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat vor einem Jahr bei einem Besuch in Wien gesagt, die in Österreich lebenden Menschen türkischer Abstammung – also auch Sie – seien Erben jenes osmanischen Generals Kara Mustafa Pascha, der anno 1683 versucht hat, Wien zu erobern. – Was hat Erdogan damit gemeint?
Cengiz Günay: Ich denke, er hat angesprochen die Gefühle von vielen in Österreich lebenden Türken, die sich durch den politischen Diskurs in Österreich – nicht zuletzt den politischen Diskurs, den die FPÖ in Österreich betreibt gegen Muslime – verletzt fühlen. Er hat sie deswegen angesprochen, weil er auf ihr großes osmanisches Erbe hingewiesen hat. Und das tut vielen gut. Ich glaube auch nicht, dass das mehr ist als eine Rhetorik, aber es spielt natürlich auf derselben Ebene wie die FPÖ in Österreich spielt, spielt es denselben Diskurs auf der anderen Seite. Nämlich einer der gegenseitigen Ausgrenzung und einer, der die Unterschiede mehr als die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellt.
Deutschlandradio Kultur: In den letzten Wochen taucht Herr Erdoğan immer wieder in Europa auf. Vorigen Sonntag war er in Karlsruhe. Er ist auf Wahlkampftour, um seine im Ausland lebenden türkischen Landsleute zur Teilnahme an der Parlamentswahl in der Türkei am 7. Juni zu mobilisieren. – Wie wichtig sind die Auslandstürken für Erdoğan und für seine Partei?
"Verfassungsgerichtshof oder die oberste Wahlbehörde sind schwach legitimiert"
Cengiz Günay: Die Möglichkeit, an den Wahlen in der Türkei teilzunehmen für Auslandstürken, ist relativ neu. Das erste Mal konnten sie abstimmen bei der Präsidentschaftswahl im August. Und da ist die Wahlbeteiligung weit unter den Erwartungen geblieben, vielleicht auch aufgrund dessen, dass es mitten im Sommer war und viele auf Urlaub sich befunden haben. Aber potenziell ist das natürlich eine relativ große Wählerschaft, die in den einzelnen europäischen Staaten und vor allem in Deutschland versammelt ist.
Wie gesagt, es ist auch jetzt als einerseits ein tatsächliches Stimmenpotenzial wichtig, aber es ist auch im Rahmen der Rhetorik der AKP bzw. von Tayyip Erdoğan wichtig, der sich eben gerne als Beschützer und starker polternder Vertreter der Türken und auch im weitesten Sinne der Muslime gegenüber dem Westen darstellt.
Deutschlandradio Kultur: Wie gesagt, am 7. Juni wird in der Türkei gewählt, allerdings nicht der Präsident, sondern das Parlament. Und Erdoğan als Staatspräsident dürfte sich in diesen Wahlkampf eigentlich gar nicht einmischen – laut türkischer Verfassung steht er über den Parteien. Trotzdem wirbt er ziemlich unverhohlen für seine Partei, für die regierenden AKP. – Wie geht das?
Cengiz Günay: Es geht dadurch, dass er eine Person ist, die sich gerne über die Gesetze hinwegsetzt, und jemand ist, der die Demokratie bzw. die demokratischen Spielregeln bis an die äußersten Grenzen ausreizt bzw. auch bereit ist, diese zu überschreiten. Es ist schwierig, mit so einer Person oder so einer politischen Figur umzugehen, vor allem in einem Land, wo die Institutionen oder die Unabhängigkeit der Institutionen ohnehin schon schwach war und angesichts einer enorm starken Regierungsmehrheit im Parlament noch mehr ausgehöhlt würde.
Das heißt, es gibt kaum Möglichkeiten oder sagen wir: Der Verfassungsgerichtshof oder die oberste Wahlbehörde sind so schwach legitimiert und zum Teil auch mit Personen besetzt, die durch diese Regierung propagiert wurden, dass es da kaum Gegenstimmen gibt, außer jene eben von der Opposition. Und er ist auch, wie soll ich sagen, so rhetorisch gewandt, dass er ja immer wieder sagt: Ich äußere mich ja gar nicht für eine Partei, sondern ich rufe nur auf, dass es eine stabile Mehrheit gibt, und ähnliche Dinge. Also Demokratie in weiten Bereichen ist auch dadurch gegeben, wie weit die einzelnen Akteure bereit sind, sich an die Spielregeln zu halten. Und die Problematik ist, wenn es jemanden gibt, der sich über diese Spielregeln hinwegsetzt, wie man damit umgeht.
Deutschlandradio Kultur: Auch in der Türkei ist Herr Erdoğan in Sachen inoffiziellem Wahlkampf unterwegs und neulich hat er bei einem Auftritt demonstrativ einen Koran in der Hand gehabt. – Was sagt uns das? Schreitet die Islamisierung in der Türkei fort, einem einst laizistischen Land?
Cengiz Günay: Die AKP betreibt einen islamisch-konservativen Diskurs und auch eine solche Politik. Aber ich denke, worauf das vor allem hinweist, ist, dass die AKP ziemlich in Panik geraten ist. Ich glaube, dieser Wahlkampf verläuft anders, als sie sich das ursprünglich vorgestellt haben. Der Ausstieg von Tayyip Erdogan aus dem direkten aktiven Politikgeschäft und sein Aufstieg in das Präsidentenamt hat zu Turbulenzen innerhalb der Partei geführt. Und es ist niemand so ein starker Wahlkämpfer wie er. Er hat es immer wieder geschafft, auch das Ruder herumzureißen – trotz widriger Umstände. Das ist jetzt dadurch, dass er Präsident ist, und so sehr er sich auch darüber hinwegsetzt über bestimmte Regeln, trotzdem schwieriger.
Und man muss auch zusätzlich sagen, dass die Wirtschaftslage sich vehement verschlechtert hat in den letzten Monaten, was sich vor allem in den Preisen von Lebensmitteln und anderen Gebrauchsgütern widerspiegelt. Und man muss auch sagen, dass der Friedensprozess mit der PKK in einer Sackgasse im Moment ist...
Deutschlandradio Kultur: Mit den Kurden.
Cengiz Günay: ... mit der kurdischen Arbeiterpartei – bzw. so wie das abläuft, dieser Friedensprozess, das zu sehr vielen Verunsicherungen führt. Das heißt, die AKP verliert einerseits an einem Rand, wo konservative kurdische Wähler anzusiedeln sind, und am anderen Ende dort, wo konservative nationalistische Türken für die AKP gewählt haben. Das heißt, sie ist plötzlich in der Mitte und umzingelt von Herausforderern. Und was wir zum ersten Mal, eigentlich seitdem die AKP die Regierung stellt, beobachten, ist, dass ihr die Hoheit über den politischen Diskurs entglitten ist. Es sind immer mehr die Oppositionsparteien, die die Themen vorgeben und wo die Regierung eigentlich versucht irgendwie darauf zu antworten.
Und die Berufung auf die Religion oder auf religiöse Referenzen deutet meiner Meinung nach auf eine wachsende Nervosität hin, weil das eines der letzten Mittel ist, durch das sich die AKP eindeutig von ihren Herausforderern abzuheben hofft.
Deutschlandradio Kultur: Dabei liegt laut Meinungsumfragen die AKP, also die Partei von Präsident Erdoğan, immer noch über 40 Prozent, dürfte also erneut stärkste Kraft werden. – Reicht das nicht? Muss es eine absolute Mehrheit werden aus Sicht von Herrn Erdoğan?
Cengiz Günay: Das, was bei diesen Wahlen kritisch ist oder was diese Wahlen besonders kritisch macht, ist, dass Erdoğan einerseits ein Präsidialsystem fordert und dafür eine Zweidrittelmehrheit benötigen würde. Mit knapp 40 Prozent würde sich das schwer ausgehen.
Deutschlandradio Kultur: Also zwei Drittel, damit er die Verfassung entsprechend ändern lassen kann.
Cengiz Günay: Genau, damit die Verfassung geändert werden kann, also eine Verfassungsmehrheit im Parlament.
Und das, was das Ganze etwas jetzt komplizierter macht, ist die Frage, ob die kurdischstämmige HDP den Einzug ins Parlament schafft oder nicht. Es gibt in der Türkei eine Zehnprozenthürde, die sehr hoch ist, die seinerzeit auch deswegen eingeführt wurde, um eben regionalspezifischen oder bestimmten ethnischen Parteien den Einzug ins Parlament zu verwehren. Aber die HDP wagt den Antritt bei diesen Wahlen als eine geschlossene Partei und versucht deswegen, um diese Zehnprozenthürde zu überschreiten und dann ins Parlament einziehen zu können, Wählerschichten jenseits der traditionellen kurdischen Wählerschaft anzusprechen. Und sie scheint das relativ erfolgreich zu machen.
Das heißt: Wenn die HDP die Zehnprozenthürde überschreiten würde, würde es zu einer ganz anderen Sitzverteilung im Parlament kommen, weil, wenn sie draußen bleibt, dadurch die stärkste Partei noch weiter im Parlament gestärkt werden würde laut dem türkischen Wahlgesetz bzw. der Wahlordnung.
Es könnte sogar sein, dass – wenn die HDP den Einzug ins Parlament schafft – die AKP nicht einmal mehr allein die Regierung stellen könnte, sondern sogar vielleicht gezwungen wäre, eine Koalitionsregierung zu bilden.
Aber das sind alles Spekulationen, zwar Spekulationen, aber eben Spekulationen, die diesen Wahlkampf so spannend machen und noch weiter anheizen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten, dass Herr Erdoğan ein Präsidialsystem anstreben würde. Wie stellt er sich das vor, dass er als Staats- und Ministerpräsident in einer Person sozusagen ein demokratisch legitimierter Diktator wäre? Wie weit gehen seine Ziele?
Cengiz Günay: Das ist alles noch vollkommen unklar. Also, es wird eine Mehrheit, eine Verfassungsmehrheit eingefordert vom Wähler für die AKP, ohne eigentlich zu erklären, was – falls diese Verfassungsmehrheit denn erzielt werden würde – dann das Ziel ist oder wie konkret so ein Präsidialsystem aussehen sollte oder könnte.
Er hat immer wieder gemeint, er braucht ein stark ausgestattetes Amt und auch – wenn man jetzt seine Reden und seine Äußerungen deuten möchte – ein geschwächtes Parlament. Aber wie das konkret institutionell aussehen sollte und inwieweit die checks and balances ausgeprägt sein würden, also die Kontrolle dieses Präsidialsystems, das bleibt vollkommen offen. Aber man kann an seiner Person und an seiner Haltung zu anderen politischen Themen eher davon ablesen und davon ausgehen, dadurch, dass er ein sehr starkes Amt für sich beansprucht und mit eher weniger stark ausgeprägten Kontrollinstitutionen.
Deutschlandradio Kultur: Und mit welchem Ziel? Geht's ihm einfach nur um die Macht oder hat er auch eine Mission, etwa die türkische Gesellschaft zu erziehen, wie das damals ja schon der Staatsgründer Kemal Atatürk gemacht hat – nur in die andere Richtung, nämlich mehr in eine islamische Richtung?
"Tayyip Erdoğan steht absolut in der Tradition des Kemalismus"
Cengiz Günay: Ich denke, Sie sprechen da einen wichtigen Punkt an. Tayyip Erdoğan und seine Idee, Politik zu machen, nämlich die Gesellschaft durch den Staat formen zu können, steht absolut in der Tradition dessen, was auch der Kemalismus lange Zeit versucht hat. Also, während sie einerseits den Kemalismus sehr stark kritisieren, stehen sie auch selbst sehr stark in dessen Tradition. Und ich denke, dass er glaubt, dass er als ein starker oder mit starken Möglichkeiten ausgestatteter Präsident diese Umformierung des Staates und der Gesellschaft einfacher vorantreiben kann. Er strebt dem Ziel einer starken und neuen Türkei nach. Auch das, was jetzt konkret diese neue Türkei ausmachen soll – jenseits von Infrastrukturprojekten gigantischen Ausmaßes –, bleibt relativ offen.
Deutschlandradio Kultur: Was bedeutet diese Entwicklung für den Weg der Türkei in Richtung Europäische Union? Oder ist das Projekt Europa längst gestorben für die Türkei?
Cengiz Günay: Ich denke, in der kurz- und mittelfristigen Perspektive spielt das Projekt Europa im Moment keine Rolle. Es ist auch aus Sicht der Europäischen Union im Moment uninteressant, diesen Prozess zu forcieren oder weiterzutreiben. Das heißt aber nicht, dass der Beitrittsprozess vollkommen gestorben ist. Er läuft weiter auf einer niedrigen technischen Ebene. Und ich glaube, es haben beide Seiten, also weder die EU noch die Türkei, ein Interesse daran, dass dieser Prozess vollkommen scheitert oder dass man ihn abbricht.
Gleichzeitig muss man sagen, dass all diese Dinge, die wir jetzt beschrieben haben oder angesprochen haben, dieser wachsende Autoritarismus in der Türkei nichts Gutes verheißt, nicht nur für den EU-Prozess, sondern eigentlich auch für die Qualität oder vor allem für die Qualität der Demokratie in der Türkei.
Gleichzeitig muss man sagen, dass zwar Erdoğan gerne vielleicht nach mehr Macht und Autorität strebt, aber wir haben ja nicht zuletzt bei den Gezi-Protesten vor zwei Jahren gesehen, dass es auch ein relativ großes Potenzial an Protest dagegen gibt, und zwar Leute, die bereit sind, auf die Straße dafür zu gehen. Und man darf auch nicht vergessen, dass die AKP zwar die stärkste Partei ist und zwar mit vielen Stimmen ausgestattet, 40 Prozent oder sogar jenseits der 40 Prozent ist noch ein Traumergebnis im Vergleich zu vielen anderen Parteien in anderen Ländern, aber man darf nicht vergessen, dass fast genauso viele oder noch mehr Personen gegen diese Partei sind oder gegen das, was Erdoğan verspricht, auftreten. Das heißt, das Land ist tief gespalten und es ist auch eine große Zahl an Menschen, die sich gegen diese Ansprüche oder diese Politik stellen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Günay, wir sind jetzt vom österreichischen Islamgesetz zur türkischen Innenpolitik gekommen. Einst galt die Türkei ja als ein Land, das Brücken bauen könne zwischen der sogenannten islamischen Welt und dem Westen – auch und gerade mit einem frommen Mann wie Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze. – Ist diese Hoffnung inzwischen passé?
Cengiz Günay: Es gab wirklich Hoffnung dafür, auch wenn man sich die erste Zeit, die erste Legislaturperiode dieser Partei vor Augen hält, wo sehr viele Reformen umgesetzt wurden und Reformen, die wirklich auch demokratische Freiheiten mit sich gebracht haben, eine Liberalisierung des Systems mit sich gebracht hat.
Was wir danach gesehen haben, ist ein wachsender Hang zum Autoritarismus und eine Abkehr von einer liberalen Einstellung gegenüber demokratischen Werten. Und ich denke, das führt auch dazu, dass die Türkei immer mehr oder immer weniger, sagen wir so, diese Rolle als Vermittler auf internationaler Ebene spielen kann. Das sieht man auch ganz speziell in Bezug auf den Nahen Osten, auf die direkte Nachbarschaft der Türkei, wo die Türkei oder auch speziell die AKP lange Zeit als ein Modell für einen demokratischen Weg propagiert wurden.
Aber nachdem die Partei selbst sich immer mehr von diesem demokratischen Weg abgewandt hat und damit auch die Türkei immer weiter abdriftet, kann sie diese Modellfunktion nicht einnehmen, auch nicht, weil sie sich in den einzelnen Transitionsprozessen in den einzelnen arabischen Ländern äußerst parteiisch gegeben hat und vor allem moderate islamistische Gruppen, wie zum Beispiel in Ägypten die Muslim-Bruderschaft oder in Tunesien die Ennahda-Partei, ganz klar und offen unterstützt hat. Und ich glaube, dass das zu Unbehagen bei vielen Menschen, die in der Opposition waren in den jeweiligen Ländern, geführt hat.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Cengiz Günay, geboren 1973 in Graz/Österreich, studierte an der Universität Wien Geschichte sowie Politikwissenschaft und promovierte dort 2005 mit einer Arbeit über Islamismus in Ägypten und der Türkei. Forschungsaufenthalt an der Universität Kairo und freie Korrespondententätigkeit für den Nachrichtensender CNN Türk in Österreich. Seit 2006 Senior Fellow am Österreichischen Institut für Internationale Politik, Wien, seit 2008 Lehrauftrag an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Politische Systeme im Nahen Osten und der Türkei, Islamismus, EU-Türkei-Beziehungen.

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