"Obamacare" steht auf der Kippe

Von Beatrice Uerlings · 07.06.2012
Für jeden Bürger eine Krankenversicherung, das ist das Prestigeprojekt von US-Präsident Obama. Doch Ärzte und Arbeitgeber klagen über immense Kosten, 26 Bundesstaaten haben Klage eingereicht. Schon Ende des Monats könnte der Oberste Gerichtshof die Reform wieder zu Fall bringen.
Der Frühling ist die beste Zeit in Washington. Fast täglich gibt es dann in der amerikanischen Hauptstadt ein Jazzkonzert unter freiem Himmel. Am Potomac River werden die Kajaks rausgeholt, die Straßen sind umsäumt von prächtig blühenden Bäumen. Vor dem Supreme Court haben die Menschen dieses Jahr allerdings keinen Sinn für Lebensfreude.

Seit Wochen belagern Demonstranten den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten und hoffen, dass man sie da drinnen hören möge. 26 US-Bundesstaaten haben Klage gegen Obamas Gesundheitsreform eingereicht, weil sie das Kernstück des Regelwerkes für verfassungswidrig halten: Es geht um die Frage, ob die Regierung die Bürger zum Abschluss einer Krankenversicherung verpflichten darf.

Ken Campbell, ein Mittfünfziger mit schütterem Haar und Baseballkappe, hat Angst. Große Angst. "Wenn sie die Kontrolle über deine Gesundheit haben, dann können sie über dein Leben bestimmen, über alles", sagt er. Und das sei doch nur der Beginn. Alles werde noch viel schlimmer kommen.

"Am Ende werden sie dir noch vorschreiben, welches Auto du kaufen musst", schimpft er und schwenkt sein selbstgebasteltes Plakat trotzig auf die gegenüberliegende Seite der Wiese: Dort haben sich die Aktivisten aus dem anderen Lager versammelt, die, denen die Gesundheitsreform wichtig ist.

Die medizinische Pflege sei ein Menschenrecht, donnert Pfarrer James Winkler, der mit seiner Frau Judie angereist ist. Die Krankenschwester weiß, was es bedeutet, in einem Land zu arbeiten, in dem der Arztbesuch eine Statusfrage ist. Weil ihre Eltern es sich nicht leisten könnten, hätten dreißig Prozent der amerikanischen Kinder bis zu ihrem 12. Lebensjahr noch nie einen Zahnarzt gesehen, seufzt sie.

Im Kampf um die Gesundheitsreform scheinen die großen Konflikte Amerikas durch: Gerechtigkeit versus Eigenverantwortung; Freiheit gegen Sozialismus. Für Europäer ist das schwer nachvollziehbar, denn die US-Gesundheitsreform soll im Prinzip ja nur das erreichen, was auf dem alten Kontinent als normal empfunden wird. Die Vereinigten Staaten sind der einzige demokratische Industriestaat, der nicht jedem eine Krankenversicherung bietet. Schätzungsweise ein Sechstel der rund 300 Millionen Amerikaner sind im Krankheitsfall auf sich alleine gestellt. Das darf nicht sein, sagt Barack Obama.

Vor zwei Jahren unterzeichnete der Präsident ein Gesetz, das dafür sorgen soll, dass bis 2016 fast alle Amerikaner krankenversichert sind. Anders als in Europa gibt es in den USA keinen öffentlichen Schutz, sondern ein vorwiegend wettbewerborientiertes System. Nur für sozial Schwache und Senioren regelt der Staat die Fürsorge. Alle anderen sind nur dann abgesichert, wenn sie eine private Police abschließen. Auch Obamacare - wie die Gesundheitsreform im Volksmund genannt wird - hält an diesem System fest, erklärt die Gesundheitsexpertin Mary Agnes Carey:

"Das Kernstück der Reform ist, dass sie den staatlichen Schutz für sozial Schwache ausweitet. Derzeit sind 60 Millionen Amerikaner über das sozialstaatliche Medicaid-Programm krankenversichert. Durch Obamacare werden weitere 16 Millionen aufgenommen. Das bedeutet aber nicht, dass die Gesundheitsreform nur den Ärmsten hilft. Sie sieht auch Unterstützungen für Bürger vor, die eine private Krankenversicherung abschließen. Dafür können sich dreiköpfige Familien mit einem durchaus beachtlichen Jahreseinkommen von bis zu 76.000 Dollar qualifizieren."

Die Kehrseite der Medaille sind die Kosten: Nach neusten Berechnungen wird die US-Gesundheitsreform jedes Jahr 179 Milliarden Dollar verschlingen - das entspricht mehr als einem Drittel des gesamten bundesdeutschen Haushalts. Finanziert wird der Ausgabenblock vor allem durch den wohlhabenderen Teil der US-Bevölkerung. Bis 2014 müssen alle Amerikaner, die es sich leisten können, wenigstens eine minimale Krankenversicherung kaufen. Ansonsten gibt's Strafe. Und genau dagegen klagen Obamas Gegner vor dem Obersten Gerichtshof. Wenn sie gewinnen, dann ist alles verloren, sagt die Gesundheitsexpertin Carey.

"Der Rest der Gesundheitsreform ließe sich kaum aufrecht erhalten, denn auch die Versicherer müssen im Zuge von Obamacare viele neue Auflagen erfüllen: Sie dürfen keinen Kunden mehr wegen Vorerkrankungen abweisen; Policen können nicht länger widerrufen werden, wenn jemand erkrankt; Kinder dürfen jetzt bis zu ihrem 26. Lebensjahr auf dem Versicherungsschein ihrer Eltern bleiben. Die Versicherungsgesellschaften können die damit einhergehenden Einbußen nur ausgleichen, wenn sich alle zahlungskräftigen Amerikaner eine Police zulegen."

Vor einer Praxis in Jacksonville, Florida, geben betagte Damen in Altweiberkostümen Protestlieder zum Besten. Sie sind Teil eines Aktivistenverbandes, der sich "The Raging Grannies" – "die wütenden Omas" nennt. Der Club wurde in den 1980er-Jahren von Seniorinnen gegründet, die eine bessere Welt für ihre Nachkommen wollten. Doch jetzt kämpfen die wütenden Omas für ihres gleichen. Sie sind das Sprachrohr von Leuten wie Bryan Kye. Der 67-Jährige ist erst vor kurzem nach Florida gezogen, weil das warme Klima seine Schmerzen lindert:

"Ich habe bei einem Jagdunfall mein rechtes Bein verloren. Ich habe wirklich alle Ärzte hier in Jacksonville angerufen. Aber keiner wollte mein Hausarzt werden. Sobald ich sagte, dass ich über die staatliche Pensionskrankenkasse abgesichert bin, hieß es: Sorry, wir akzeptieren keine neuen Patienten. Ich habe jetzt einen Arzt gefunden, der mich behandelt, weil ich ihn bar aus eigener Tasche bezahle. Es ist deprimierend, mit solchen Schmerzen zu leben und dann auf Ärzte zu stoßen, die oft noch nicht einmal bereit sind, dich zu empfangen."

Kye ist kein Einzelfall. Über Medicare, wie die staatliche Pensionskrankenkasse in den USA heißt, werden 45 Millionen Senioren versorgt. All denen droht eine ähnliche Odyssee bei der Arztsuche. Der Grund: Um Obamacare zu finanzieren, wird die Regierung den Ärzten ein Drittel weniger Geld für die Behandlung von Senioren zurückerstatten als bislang üblich. Der Augenchirurg Dan Lanskin, der im kalifornischen Rentnerparadies Redding praktiziert, fühlt sich komplett überfordert.

"Letztes Jahr bin ich in eine kleinere Praxis umgezogen. Außerdem habe ich nur zwei Vollzeitkräfte, die mir bei der Arbeit helfen. Aber egal, wie sehr ich die Fixkosten drücke: Es kostet mich immer noch die 300 Dollar pro Stunde, meinen Betrieb aufrecht zu erhalten. Von dem, was der Staat mir für die Seniorenbehandlung zurückerstattet, kann ich das nicht begleichen: Medicare zahlt mir nur 400 Dollar für einen chirurgischen Eingriff und drei Monate Nachbehandlung. Jetzt sollen die Sätze noch weiter sinken. Sie lassen uns keine andere Wahl, als Patienten abzuweisen."

Auch bei den amerikanischen Firmen hat die Stimmung den Nullpunkt erreicht. 60 Prozent der US-Bürger sind über ihren Arbeitgeber krankenversichert, der ihre Beitragszahlungen entweder zum Teil oder sogar ganz übernimmt. Das Modell geht auf die Zeit während des Zweiten Weltkrieges zurück. Arbeitskräfte waren in den USA damals Mangelware. Deshalb begannen die Unternehmen, ihren Mitarbeitern zusätzlich zum Lohn auch einen Krankenschutz anzubieten. Der freiwillige Zuschuss wurde zum ungeschriebenen Standard. Wie lange er noch gelten wird, ist fraglich.

Es ist ruhig in den Büros von Zircomp. Die Firma entwirft Handelsplattformen für die Großbanken im Umfeld der New Yorker Wall Street. Doch die sind seit der Finanzkrise knauserig geworden. Aber es ist nicht die schleppende Auftragslage, die Alexander Mintz am meisten zu schaffen macht. Der Zircomp-Chef hat gute wie schlechte Zeiten erlebt. Keine noch so schwere Krise hat ihn je davon abhalten können, den kompletten Krankenschutz seiner Angestellten zu finanzieren. Doch jetzt sucht der 47-Jährige verzweifelt nach Alternativen.

"Die Prämien sind alleine innerhalb der letzten zwei Jahre um 70 Prozent gestiegen. Anfangs waren wir einfach nur überrascht und dachten uns: Ach, lass uns erst einmal andere Kostenvoranschläge einholen. Aber überall hieß es: Sorry, wir können es nicht billiger machen, wir müssen all diese Neuerungen ausbalancieren, die mit Obamacare auf uns zukommen. Ich habe keine andere Wahl, als meinen Angestellten die Versorgung aufzukündigen: Jeder Mitarbeiter kostet mich jetzt 24.000 Dollar im Jahr nur an Krankenkassenbeiträgen."

Staten Island liegt nur 20 Minuten Bootsfahrt südlich von Manhattan: Schon John Lennon machte auf der Insel seine Strandspaziergänge. Jerry Sica ist hier aufgewachsen. Der 65-Jährige ist das, was man in den USA einen Selfmademan nennt. Um seinen Kindern eine Ausbildung zu finanzieren, handelte er zunächst mit Autoreifen. Erst mit 48 Jahren nahm er dann auch selber sein Medizinstudium auf. Sica ist Kinderarzt aus Leidenschaft – auch wenn er sich seinen Traumberuf manchmal anders vorgestellt hätte.

"Die Versicherungen bereiten uns Ärzten viel Kopfzerbrechen, weil sie uns diktieren, was wir tun können. Wir haben enorme Probleme, wenn wir Medikamente verschreiben, dann heißt es: dieses Präparat decken wir nicht ab, nehmen sie doch ein anderes, billigeres - obwohl sie genauso gut wissen wie ich, dass das billigere Medikament mehr Nebenwirkungen hat. Manchmal zahlen sie auch gar nicht. In solchen Situationen fühle ich mich machtlos."

Im Netz der Privatversicherer: Eigentlich wollte Obama eine gesetzliche Krankenkasse nach europäischem Modell einführen. Doch das ist an der Lobby der republikanischen Oppositionspartei gescheitert. Und so bleiben Ärzte wie Patienten den Tücken einer völlig unregulierten Industrie ausgeliefert. In den USA konkurrieren 1600 Krankenkassen miteinander. Die Sätze, mit denen sie sich an einer Visite oder Behandlung beteiligen, variieren je nach Praxis oder Krankenhaus. Es geht um Verhandlungsmacht und sonst nichts, sagt Sica.

"In meiner Gemeinschaftspraxis arbeiten genau so viele Ärzte und Krankenschwestern wie Vollzeitmitarbeiter, die nur damit beschäftigt sind, den Papierkram zu bewältigen. Aber egal, wie viel Zeit sie auch damit verbringen und egal welche Versicherungen die Patienten haben: Die Erstattungsbeträge sind viel niedriger als zu Beginn meiner Karriere. Ich muss jetzt 35 Patienten am Tag sehen, nur um die Kosten zu decken. Erst danach fange ich an, Geld zu verdienen."

Aber nicht nur die Versicherungen tragen die Schuld dafür, dass die medizinische Versorgung in den USA so teuer geworden ist. Auch die Tatsache, dass das Kommerzdenken im Mutterland der freien Marktwirtschaft so allgegenwärtig ist, spielt eine Rolle: Nirgends werden mehr Medikamente verschrieben, nirgends werden so viele medizinische Eingriffe vorgenommen.

Das von Grünanlagen umgebene Dartmouth College im US-Bundesstaat New Hampshire zählt zu den besten Universitäten der USA. Das Motto der Eliteschmiede lautet: "Die Stimme eines Rufers in der Wüste". Genau so fühlt sich Jack Wennberg manchmal. In den 70er-Jahren begann der Professor damit, die Krankenhausrechnungen seines Heimatstaates Vermont zu durchforsten.

"Als ich anfing, die Daten auszuwerten, hat es mir die Sprache verschlagen: In manchen Städten wurden drei von vier Kindern die Mandeln rausgenommen, im Nachbarort nur jedem vierten Kind – und doch waren die einen nicht kränker oder gesünder als die anderen."

Aus dem Professoren-Projekt ist ein Standardwerk geworden: Der Dartmouth Atlas of Health Care zeichnet heute die variierenden Gesundheitskosten in allen US-Bundesstaaten nach.

Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass noch nicht einmal der Hälfte der Arztbesuche und medizinischen Eingriffe in den USA durch gute, wissenschaftliche Beweise gestützt werden. Daraus erklärt sich auch folgende Statistik: Obwohl die Amerikaner weltweit am meisten Geld für Behandlung und Medikamente ausgeben, nehmen sie gerade mal den 37. Rang in der umfassenden Qualität der Versorgung ein.

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