Nur nicht provozieren! Lieber nachgeben!

Von Henryk M. Broder · 12.02.2006
Ein Bild sagt mehr als Tausend Worte. Wir sehen zwei Bobbies und zwischen ihnen einen Mann, der ein Poster hoch hält, auf dem zu lesen ist: "KILL THOSE WHO INSULT ISLAM! - Töte diejenigen, die den Islam beleidigen! Das Bild wurde vor einer Woche bei einer Demonstration in London aufgenommen, bei der empörte Moslems gegen die Verletzung ihrer religiösen Gefühle durch Zeichnungen randalierten, die sie noch nicht einmal gesehen hatten.
Denn keine britische Zeitung hatte es gewagt, die zwölf Karikaturen, die schon vor vier Monaten in der dänischen Zeitung "Jyllands Posten" erschienen waren, nachzudrucken. Es war ein Akt der Empörung vom Hörensagen, so als würden sich Blinde über pornografische Darstellungen aufregen oder Taube über ruhestörenden Lärm.

Um zu begreifen, was es bedeutet, dass mitten in London zum Mord aufgerufen und der Aufrufer nicht etwa sofort festgenommen, sondern zuvorkommend eskortiert wird, muss man sich nur die umgekehrte Situation vorstellen: Ein in seinen Gefühlen verletzter Christ geht in Riad, Isfahan oder Islamabad auf die Straße und hält ein Plakat hoch, auf dem zu lesen: KILL THOSE WHO INSULT CHRISTIANITY! Wie lange würde dieser Mann oder diese Frau überleben?

Wir sollten uns das Bild und den Tag, an dem es aufgenommen wurde, gut merken. Es war der Tag, an dem das gute alte Europa bedingungslos kapitulierte, an dem es aus Angst vor dem Tode Selbstmord beging.

Bezeichnend ist schon, unter welchem Etikett der Skandal firmiert: als "Karikaturenstreit", als wäre es ein Wettbewerb unter Karikaturisten, die um eine Einladung zu "Wetten, dass..." kämpfen. Tatsächlich ist es eine Auseinandersetzung mit einem neuen Totalitarismus, der sich scheibchenweise herausnimmt, wozu er sich aufgrund seiner moralischen Überlegenheit berechtigt glaubt. In der täglichen Praxis bedeutet dies: Wenn wir, die dekadenten Europäer, in ein moslemisches bzw. arabisches Land reisen, verzichten wir aus Anstand und Höflichkeit auf den Genuss von Alkohol und Schweinefleisch und den Anblick von Frauen in kurzen Röcken. Antje Vollmer, die vor einem Jahr in Saudi-Arabien zu Besuch war, hatte sogar einen Schleier angelegt. Man mag das für übertrieben halten, aber es war eine nette Geste des Respekts vor einer anderen Kultur.

Wenn aber Moslems zu uns, in das dekadente alte Europa kommen, dann übernehmen sie nicht unsere Bräuche, wozu wir sie weder zwingen wollen noch können, nein, sie erwarten, dass wir ihre Bräuche übernehmen, Rücksicht nehmen und Anpassung und Verzicht üben, um deren Gefühle nicht zu verletzen.

Das geht so weit, dass wir ihnen im Extremfall erklären müssen, dass so genannte Ehrenmorde nach unseren Regeln des Zusammenlebens schlicht verboten und Zwangsheiraten unerwünscht sind. Wie asymmetrisch die Situation ist, kann man an einem Detail ermessen. Es gibt in der Bundesrepublik über 2000 Moscheen, allein in Berlin sind es 80, aber es gibt keine einzige Kirche in Saudi-Arabien, und wer sich als Christ in Pakistan zu seinem Glauben bekennt, geht ein hohes Risiko ein. Dennoch hat Günter Grass vor einiger Zeit vorgeschlagen, als Zeichen guten Willens eine Kirche in Kiel in eine Moschee umzuweihen – nicht etwa eine Moschee in Riad oder Isfahan oder Islamabad in eine Kirche.

Ist die Situation schon vollkommen absurd, die Reaktionen der üblichen Allesversteher und Allesverzeiher sind es noch mehr. Der bekannte Psychoanalytiker und Friedensaktivist Horst-Eberhard Richter hat in einem Interview mit Spiegel online gefordert, "der Westen sollte alle Provokationen unterlassen, die Gefühle von Erniedrigung und Demütigung hervorrufen". Er hat nicht gefordert, die immer wieder zu schnellem Beleidigtsein und gewalttätigen Reaktionen neigenden Repräsentanten des Orients sollten wenigstens auf Entführungen, Enthauptungen von Geiseln und Exekutionen von Homosexuellen verzichten, um unsere Gefühle nicht zu verletzen. Es ist, als würde man Frauen auffordern, keine kurzen Röcke zu tragen, um Vergewaltiger nicht zu provozieren.

Auch die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) in Frankfurt hat zur Besonnenheit im Streit über die Mohammed-Karikaturen aufgerufen. Jede Art der Provokation müsse vermieden, auf weitere Abdrucke der Karikaturen verzichtet werden. Denn: Der Streit um die Meinungsfreiheit dürfe nicht auf dem Rücken derer ausgetragen werden, die als Unbeteiligte potenzielle Opfer radikaler Islamisten werden könnten. Gemeint waren die in arabischen und moslemischen Ländern lebenden Christen. Statt also gegen die Behandlung der Christen zu protestieren, findet es die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte angebrachter, die radikalen Islamisten nicht noch mehr zu reizen. Dass sie von einer Rücksichtnahme nur bestätigt und ermuntert werden, bleibt dabei unberücksichtigt.

An welchem Abgrund die Debatte inzwischen angekommen ist, hat Fritz Kuhn klar artikuliert. "Mich haben (die Karikaturen) an die antijüdischen Zeichnungen in der Hitler-Zeit vor 1939 erinnert", sagte der Sprecher der Grünen. Was drei mögliche Schlüsse zulässt: Kuhn hat die Karikaturen, um die es heute geht, nicht gesehen, er kennt die antisemitische Propaganda der Hitler-Zeit nicht oder er hat keine Ahnung, worüber er redet.

Und so findet zusammen, was zusammen gehört: Menschen, die nicht einmal wissen, wo Dänemark auf dem Globus zu finden ist, empören sich über Karikaturen, die sie nicht gesehen haben, während Anwälte der Bürgerrechte und der Meinungsfreiheit, die nicht müde werden, bei jedem noch so geringen Anlass Zivilcourage einzufordern, in Deckung gehen. Um wieder aufzutauchen, wenn es an jedem 9. November heißt: Wehret den Anfängen!

Henryk M. Broder wurde 1946 in Katowice/Polen geboren, 1958 kam er mit den Eltern in die Bundesrepublik, wo er Jura und Volkswirtschaft studierte. Er lebt heute in Berlin und Jerusalem. Broder machte sich als freier Schriftsteller und kritischer Journalist einen Namen. Er schrieb für renommierte Zeitungen und für das Fernsehen, derzeit arbeitet er als Reporter für den SPIEGEL. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen 'Der ewige Antisemit', 'Erbarmen mit den Deutschen' und 'Volk und Wahn'.