Nur auf High Heels in die Politik

Von Ute Zauft · 23.10.2012
Bei der Parlamentswahl in der Ukraine am 28. Oktober kann die ehemalige Minisisterpräsidentin Julia Timoschenko nicht antreten. Politik bleibt in dem Land meist Männersache. Doch es gibt auch Frauen, die ins Parlament wollen.
Es ist Abend geworden im ukrainischen Lugansk und nur wenige Menschen sind jetzt, um 20 Uhr, noch im gedämpften Licht der Straßenlampen unterwegs. In der Altstadt drängen sich ein paar pittoreske Häuser aus der Zarenzeit aneinander.

Die Gehwege sind uneben, die Straßen voller Schlaglöcher und die Hauptstadt Kiew ist hier im äußersten Osten des Landes, kurz vor der russischen Grenze, weit weg. Im Café Donbas fängt der Abend erst an, es ist "The Place To Be", ein In-Lokal, zumindest für die jungen Lugansker.

Das "Donbas" ist gut gefüllt, das Mobiliar bunt zusammengewürfelt: Ausrangierte Schultische, Fernsehsessel, dazwischen leuchten weiße und gelbe Sitzsäcke. Das Publikum ist im Schnitt Anfang zwanzig und alternativ: Turnschuhe, Jute-Beutel, junge Frauen mit Rastazöpfen und Studenten mit Hornbrillen. Sie trinken Wein oder Bier und haben es sich an den Tischen mit Blick auf die Bühne gemütlich gemacht. Auf dem Programm stehen heute eine Lesung und Musik.

Elena Saslawskaja ist Dichterin und sie versteht Dichtkunst als Mittel, um das Publikum aufzurütteln. In ihrem Gedicht geht darum, dass in jedem einzelnen Menschen eine Art Supermann steckt, der sich einmischen kann. Nach dem Auftritt hat Elena es eilig.

Ihre beiden Kinder liegen zwar schon im Bett, aber sie muss morgen früh raus. Trotzdem gibt sie dem Korrespondenten des ukrainischen Fernsehsenders TVi noch schnell ein Interview. Sie kommt auf eines ihrer Projekte zu sprechen, das ihr besonders wichtig ist: Mit Freunden hat sie einen Band mit Gedichten und Essays zu häuslicher Gewalt herausgegeben.

Elena Saslawskaja: "Das Problem besteht darin, dass über Gewalt in den Familien nicht gesprochen wird. Gerade die Opfer wollen nicht darüber sprechen, es ist ihnen unangenehm. Grund dafür sind auch gängige Sprichwörter wie: Wenn er Dich schlägt, dann liebt er Dich. Oder: Lieben heißt aushalten. Deswegen finden sich die Frauen mit körperlicher und psychischer Gewalt ab."

Elena kommt in Fahrt, wippt kurz auf die Zehenspitzen, gestikuliert mit der rechten Hand: Fast die Hälfte aller Ukrainer hat im Laufe seines Leben mindestens einmal Gewalt in der Familie erfahren. 70 Prozent der Gewalttäter sind Männer, und kaum eine der geschlagenen Frau spricht darüber. Zwar gibt es in der Ukraine seit 2001 ein Gesetz gegen häusliche Gewalt, doch in der Realität gilt sie noch immer als Privatsache.

Elena Saslawskaja: "Das Buch bricht Stereotype auf und regt dazu an, darüber zu sprechen oder überhaupt darüber nachzudenken. Es macht darauf aufmerksam, dass es diese Gewalt gibt und das nicht irgendwo weit weg, sondern ganz in der Nähe. Und diejenigen Frauen, die davon betroffen sind, können sehen, dass andere sich gewehrt haben und merken: auch ich kann mich wehren."

Auf dem Heimweg mit Freunden säumen Wahlkampfplakate die Straßen: am 28. Oktober wählt die Ukraine ein neues Parlament. Nur eine einzige Frau ist auf den Plakaten zu sehen: Natalia Korolewska vertritt die Partei "Ukraine vorwärts". Die Haare hochgesteckt, den Rock knielang, das Gesicht dezent geschminkt.

Sie verkörpert eine Weiblichkeit im Stile von Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, nur etwas braver. Elenas Kollegin Dascha erzählt von einer Kiewer Direktkandidatin, die sich diesem klassischen Frauenbild entzieht und ohne Make-up und in Hosen für die Selbstverwirklichung der Frauen kämpft. Dascha hält ihre Erfolgsaussichten für gering.

Daria Kalaschnitsowa: "Für Männer gehören zu einer ukrainischen Frau Make-up, sorgfältig gestylte Haare und Stiletto-Absätze, und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sogar morgens um acht siehst du schon so aus , als ob du auf eine Cocktail Party gehst.

Das ist die Norm, daran sind die Leute gewöhnt. Und wenn du anders aussiehst, kommt einfach die Frage auf, warum. So leben es unsere Mütter uns seit unserer Kindheit vor, so sehen die Menschen im Fernsehen aus und alle Moderatorinnen."

In den Städten könne die Frau mit ihrem burschikosen Auftritt vielleicht Stimmen gewinnen, aber auf dem Land sei das schwierig. Auch Dascha trägt meist hohe Absätze, ihre Fingernägel sind sorgfältig manikürt. Natürlich würde es Zeit sparen, sich nicht so sehr ums Äußerliche kümmern zu müssen, aber gleichzeitig wolle sie eben auch eine der Schönsten unter vielen sein.

Ob nun mit Make-Up, wie Natalia Korolewska und Julia Timoschenko, oder ohne, wie die Kiewer Direktkandidatin, – in der Realität ist die Politik in der Ukraine bisher praktisch ein reines Männergeschäft: Seit dem Ende der Sowjetunion ist der Anteil der Frauen im Parlament nie über zehn Prozent gestiegen, derzeit liegt er bei acht Prozent. Keine der Parteien, die bei der Parlamentswahl antreten, hat eine Frauenquote, und im aktuellen Kabinett ist die Gesundheitsministerin die einzige Frau.

Ekaterina Lewtschenko war einst Abgeordnete im ukrainischen Parlament, heute leitet die 45-Jährige die Frauenrechtsorganisation La Strada in Kiew.

Die Zimmer des Büros sind mit Schreibtischen vollgestellt, in den Regalen an den Wänden stapeln sich Flyer zu den Themen häusliche Gewalt, Menschenhandel und Frauenrechte. Mit einer Kollegin tippt Ekaterina Lewtschenko noch schnell einen Brief ans Bildungsministerium fertig.

Unter ihrer Strickjacke blitzt ein buntes T-Shirt mit dem Logo einer Kinderschutzorganisation hervor, ihre Fingernägel sind lackiert, aber praktisch kurz. Sie deutet auf den aktuellen Newsletter ihrer Organisation. Überschrift: Die politische Entscheidungsfindung in der Ukraine findet ohne Frauen statt. Lewtschenko streicht nachdenklich das Papier glatt.

Ekaterina Lewtschenko: "Das ist auch eine Frage der Ressourcen, denn bei uns ist Politik eine Sache für reiche Leute. Um als Kandidat für das Parlament antreten zu können, braucht man eine Minimum von mehreren zehntausend Euro für den Wahlkampf. Ein weiterer Grund ist das Vorurteil, dass Frauen nicht hart genug arbeiten können und schließlich denkt oft die Wählerschaft selbst, dass diese Arbeit besser ein Mann machen soll."

Politik gilt in der Ukraine als schmutziges und somit als Männer-Geschäft. Wie festgefahren und unhinterfragt diese Vorurteile sind, zeigt eine Äußerung des Premierministers Nikolai Asarow. Lewtschenko richtet sich auf, schüttelt fast unmerklich den Kopf.

Ekaterina Lewtschenko: "Kurz nach seinem Amtsantritt 2010 hat Premierminister Nikolai Asarow von der Partei der Regionen auf einer öffentlichen Veranstaltung erklärt, dass deswegen so wenig Frauen in seinem Kabinett seien, weil Frauen nicht regieren, nicht an den Wochenenden und 16 Stunden am Tag arbeiten und einfach keine Verantwortung übernehmen könnten. Das war sinngemäß das, was er gesagt hat."

Der Bildungsminister ließ zudem kürzlich verlauten, dass nur hässliche Mädchen sich dazu entscheiden zu promovieren. Dabei steht die Ukraine hinsichtlich der Gleichberechtigung von Männern und Frauen nicht schlecht da. Auf dem Index für Geschlechtergerechtigkeit des Weltwirtschaftsforums lag sie 2011 auf Platz 64 von 135, zwar hinter Frankreich oder Deutschland, aber noch vor Italien oder Brasilien: Fast genauso viele ukrainische Frauen stehen im Berufsleben wie Männer, Frauen haben gleichberechtigten Zugang zu Bildung und schließen sogar häufiger eine akademische Ausbildung ab als Männer.

Diese Statistiken heute sind auch ein Verdienst der Sowjetunion, die bereits in ihrer Verfassung von 1936 die formale Gleichheit von Frauen mit den Männern konstatierte und stets die Frauen an die Werkbank rief. Doch auch zu kommunistischen Zeiten war die Politik reine Männersache, betont Lewtschenko, und der formalen Gleichberechtigung stand ein reales Ungleichgewicht gegenüber.

Die Frauenrechtlerin erinnert sich an einen Arztbesuch, kurz nach dem Ende der Sowjetunion. Sie war mit ihrer ersten Tochter schwanger, hatte lange vor dem Sprechzimmer gewartet, als endlich die Ärztin erschien. Sie solle am nächsten Tag wiederkommen, rief sie. Dann müsse sie aber arbeiten, erwiderte Lewtschenko.

Ekaterina Lewtschenko: "In diesem Moment hat sie angefangen zu schreien: Du musst alles vergessen, Du bist nicht mehr Frau sondern schwanger, und nicht mehr Universitätslehrerin, sondern schwanger. Sie hat mir quasi sowohl den Status als Frau als auch den Status als Lehrerin abgesprochen.

Bis zu diesem Moment hielt ich mich für gleichberechtigt, aber plötzlich fühlte ich mich herabgewürdigt und all dessen beraubt, was ich mir über Jahre erarbeitet hatte. Ich erkannte, dass da ein Problem besteht, dessen ich mich annehmen muss."

Eines hatte sich auch in der Sowjetunion über all die Jahre nie verändert: Für den Haushalt war allein die Frau zuständig: So stand sie nicht nur tagsüber in der Fabrik, sondern auch auf dem Heimweg für Lebensmittel Schlage und abends am Herd. Lewtschenko senkt den Kopf fährt sich mit den Fingerspitzen über die Augenbrauen, bevor sie versucht, die Entwicklung nach dem Ende der Sowjetunion zu erklären.

Ekaterina Lewtschenko: "Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hielt der Kapitalismus Einzug und mit ihm auch bürgerliche Losungen wie ‚Die Frau gehört zurück in die Familie’. Auch so ein progressiver Politiker wie Gorbatschow hat das vertreten. Er hat wirklich geglaubt, dass das richtig ist, weil schwere Arbeit ein Verbrechen an den Frauen sei. Aber diese Sichtweise missachtet die Tatsache, dass Arbeit der entscheidende Weg ist, um seine Existenz zu sichern."

Nach dem Ende der Sowjetunion galt es für viele Frauen als Luxus, nicht arbeiten gehen zu müssen, sondern sich nur um die Familie kümmern zu können. Ein rotes Tuch für all diejenigen, die darum kämpfen, dass eine Frauen auch unabhängig von ihrem Partner ihr Einkommen sichert.

Als sie noch an der Universität lehrte, leitete Ekaterina Lewtschenko 1996 eines der ersten Seminare in der Ukraine, das sich mit Theorien rund um Geschlechterrollen beschäftigte. Es ging um Simone de Beauvoir, Judith Butler und gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Damals eine Revolution, heute fast schon Normalität.

Für die Soziologie-Studenten der Kiew-Mohyla-Akademie ist ein Gender-Seminar inzwischen Pflicht. Auf dem Flur der ältesten Universität Kiews drängeln sich Studenten vor den Aushängen mit den Klausurergebnissen, die meisten tragen Jeans und Turnschuhe, haben ihren Hefter oder einen Laptop unter den Arm geklemmt.

Langsam trudeln die Teilnehmer des Gender-Seminars ein: fünf Studentinnen und zwei Studenten schieben sich auf die Stühle mit Klapptischen – die vorderen Reihen bleiben leer. Eine kanadischen Austauschstudentin stellt heute einen Band mit Aufsätzen über eine gleichberechtige Rollenverteilung in Beruf und Familie vor.

Die Lüftung des Beamers rauscht, Ashton rückt ihn zurecht, damit an der schmalen Wand das Ganze Diagramm zu entziffern ist. Die Realität heute in den USA sehe so aus, dass der Mann Vollzeit arbeitet, während die Frau nur Teilzeit tätig ist und sich gleichzeitig um die Familie kümmert. Sie deutet auf die rechte Spalte an der Wand.

Ashton: "Und das ist das Ideal-Modell der Autoren, ich habe es blau markiert, damit das deutlich wird. Es ist das sogenannte Doppel-Verdiener und Doppel-Betreuer-Modell. Das bedeutet, beide Partner gehen zur Arbeit und verdienen Geld, gleichzeitig kümmern sich beide gleichermaßen um Haushalt und Familienaufgaben."

Nur zögernd kommt unter den Soziologie-Studenten eine Diskussion auf. Die Männer schweigen, nur eine der jungen Frauen fragt, wo denn da die Wahlfreiheit bleibe. Wenn eine Mutter zu Hause bleiben wolle, dann müsse sie doch auch zu Hause bleiben dürfen. Nach dem Seminar steht Irina im Innenhof der Uni. Sie hat sich als eine der wenigen in die Diskussion eingebracht, denn sie kennt die Lage.

Sie wirft ihren langen braunen Zopf über die Schulter und zählt auf: Das durchschnittliche Jahreseinkommen der Frauen in der Ukraine beträgt nur rund 60 Prozent von dem der Männer, auch wenn sie eine gleichwertige Arbeit leisten, verdienen sie rund 40 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Frauen stecken in den Geringverdiener-Jobs fest, in den Führungspositionen dominieren Männer.

Irina: "Aus meiner Sicht ist es ein gutes Model, wenn beide Eltern sich um die Erziehung des Kindes kümmern und trotzdem weiterarbeiten, aber ich halte es derzeit für nicht durchsetzbar in der Ukraine. Ich denke, ich werde wie in den meisten europäischen Ländern die Familiengründung noch etwas aufschieben bis ich 26 oder 27 bin. Auch wenn man hier schräg angeschaut wird, wenn man mit 24 noch keine Familie hat.

Ich werde Karriere machen, mich um mich selbst kümmern und vielleicht etwas von der Welt sehen. Und dann wenn ich die Mittel und den Wunsch habe, werde ich eine Familie gründen."