Nürnberger Prozesse

Verfahren mit Geburtsfehler

Die Hauptangeklagten (L-R) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg.
Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop (von links), die Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse © picture alliance / dpa
Von Jochanan Shelliem · 07.08.2015
Thomas Darnstädt beschreibt in seinem Buch die Erfolge der Nürnberger Prozesse, macht aber auch ihre Defizite deutlich. Vor allem gelingt es ihm herauszuarbeiten, warum die Kriegsverbrechen und nicht die Shoa im Zentrum des Verfahrens standen. Ein spannendes und gut lesbares Buch.
Exakt 450 Jahre nach der Einrichtung des Reichskammergerichts von 1495, am 7. August 1945, legt der Hauptankläger Robert L. Jackson die Endfassung der Anklage des Nürnberger Prozesses gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher vor. Der Spiegel-Rechtsexperte Thomas Darnstädt sieht diesen Schwurgerichtsprozess als die Zeitenwende der Gerichtsbarkeit.
"Es ist vielleicht der wichtigste Prozess der Weltgeschichte gewesen, was da in Nürnberg passiert ist. Es wird heute gesehen als Antwort auf die Menschheitsverbrechen Adolf Hitlers und seiner Mittäter."
Durch diesen Prozess werde der Grundsatz von Kaiser Maximilian Frieden durch Recht in das zwanzigste Jahrhundert transponiert, so Thomas Darnstädt. Dem Deutschen Reich, einem souveränen Staat, denn die Bundesrepublik ist noch nicht gegründet, wird der Prozess gemacht vor dem Nürnberger Geschworenengericht.
"Und heute ist es für uns selbstverständlich, dass wir, wenn wir von Menschheitsverbrechen sprechen, an die Nürnberger Prinzipien denken, die sich heute in einem verbreitet geltenden und weitgehend durchgesetzten Völkerstrafrecht widerspiegeln: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit... Doch der Blick des Rechtsgeschichtlers in Nürnberg geht auf ein anderes Verbrechen, nämlich auf den Krieg."
Den Krieg ächten, ein für alle Mal
Bejubelten zu anderen Jahrestagen Historiker und Journalisten den Nürnberger Prozess als kurze Blütezeit der deutschen Nachkriegsdemokratie, so legt der Jurist Darnstädt seinen Finger auf den Geburtsfehler des Verfahrens.
"In Nürnberg hat der Krieg im Vordergrund gestanden. Es ist ein so großes Anliegen, den Krieg als ein Verbrechen in das Völkerrecht einzuschreiben, dass das, was eigentlich der Anlass und der tiefere Grund dieses Jahrtausendprozesses gewesen ist, das eigentliche Jahrtausendverbrechen der Nazis, das Verbrechen gegen die Menschheit, der Mord an den Juden, der Holocaust, dabei immer mehr in den Hintergrund des Prozesses geraten ist."
Der Anklagepunkt "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wird der Anklage wegen "Verschwörung zum Angriffskrieg" untergeordnet. Darnstädt erklärt diese Konstruktion einerseits aus dem Idealismus des Chefanklägers Robert L. Jackson, der den Krieg ächten wollte, ein für allemal.
"Jackson war ein Moraliker der Weltpolitik, der Weltgerechtigkeit. Er hat das selber auch mal irgendwann mal zugegeben: Ganz geglaubt hat er das mit den KZs erst, als es vor Gericht zum Thema wurde und als die Filme da abgespielt wurden. Er wollte das Weltvölkerrecht reformieren, durchaus mit einem tiefmoralischen Anspruch. So sind die Amis."
Andererseits wollten die Siegermächte die rassistischen Seiten ihrer Nationalgeschichte nicht selbst thematisieren. Insofern wurde die Shoah, der Völkermord an den Juden, die um ihrer selbst willen verfolgt, ausgebeutet und ermorden worden waren, als zielgerichtetes Vorgehen zur Vorbereitung eines Angriffskrieges interpretiert.
"Das monströse Verbrechen, das eigentlich im Vordergrund stand, passte nicht so richtig in das Konzept der Juristen, die da in Nürnberg saßen und die eine neue Weltgerechtigkeit schaffen wollten."
"Gras war ihre einzige Nahrung"
Auch wenn die Ausweitung der Gerichtsbarkeit auf die Verbrechen eines souveränen Staates auf die Erweiterung des Völkerrechts, den Schutz des Einzelnen und die Entwicklung eines Weltgerichts in Den Haag verweist, die Vertreter der damaligen Exilregierungen in London, wie Lagerüberlebende in Nürnberg selbst standen der Missachtung ihrer Leiden hilflos gegenüber. Ein Beispiel:
"Die ersten Tage hatten sie sich im Wald versteckt. Gras war ihre einzige Nahrung. Zu dritt waren sie auf dem Todesmarsch in Sachsen ihren Bewachern entkommen, als im April das KZ Buchenwald in großer Eile vor der heranrückenden US-Armee geräumt wurde. Nur nicht auffallen, nur nicht wieder ins Lager. 'Wir hatten Angst, wir wussten nicht, ob wir das überstehen würden', berichtet Ernst Michel, damals einundzwanzigjähriger Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie aus Mannheim. Michel schlug sich von Ost nach West durch, bis nach Mannheim, bis nach Hause. Das Elternhaus in der Richard-Wagner-Straße 26 war zerstört, die Eltern verschwunden. Ein US-Offizier griff ihn auf und wollte ihn einsperren, weil er ihn für einen deutschen Soldaten hielt. Da zog Ernst seinen Ärmel hoch, und der Militär, selber Jude, verstand. KZ-Häftling Nr. 104 995 war gerettet. Er bekam von den Amerikanern eine Wohnung in seiner Heimatstadt zugewiesen und einen Job als Journalist bei der neu gegründeten Rhein-Neckar-Zeitung. 'Sonderberichterstatter Ernst Michel. Auschwitz-Nummer 104 995' stand bald über den Artikeln, die von der Nachrichtenagentur DANA im ganzen Nachkriegsland verbreitet wurden. Der Jungreporter hatte sich abermals durchgeschlagen – zu dem Schauplatz, der ihm aufregender schien als jeder andere: zum Gerichtsgebäude in Nürnberg."
Michel erhält in Nürnberg die Gelegenheit, mit Angeklagten wie Hermann Göring zu sprechen. Görings ungebrochene Arroganz – so Thomas Darnstädt – bricht Michels journalistische Distanz. Der Beobachter meldet sich als Zeuge bei Gericht.
"Michel wandte sich an Roman Rudenko, den Chef der sowjetischen Ankläger, und stellte sich als Zeuge zur Verfügung. Wer könnte besser als er all die menschenverachtenden Verbrechen bezeugen, die im Auftrag der Männer im Dock da in der Anklagebank geschehen waren?"
Nachdem er dem sowjetischen Ankläger Roman Rudenko berichtet hat, was er bei seiner Flucht aus dem KZ erlebt, was er im Konzentrationslager Auschwitz erlitten und gesehen hat, wird ihm die Selbstbeschränkung des Nürnberger Prozesses schmerzhaft demonstriert.
"Rudenko, der gedrungene, freundliche Ankläger aus Moskau, ließ sich das alles interessiert von seinem Dolmetscher übersetzen, fragte nach. Dann bedauerte er höflich: Die Aussage sei nicht zu gebrauchen. Anordnung von oben: Er sei der falsche Zeuge. Er sei Deutscher. So bekam es Häftling Nummer 104 995 am eigenen Leibe zu spüren: Am Ort der Weltgerechtigkeit, am Fuße der neuen, moralischen Weltrechtsordnung, spielte das Schicksal der deutschen Juden kaum eine Rolle."
Es ist nicht die sowjetische Ignoranz, sondern das große Manko des Nürnberger Prozesses: Was die Deutschen ihren eigenen Bürgern angetan hatten, war größtenteils tabu, geschützt durch das nationale Recht der Souveränität.
Ausgangspunkt für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs
Thomas Darnstädt beschreibt die Verzweiflung jüdischer Juristen, wie die Arbeit des letzten lebenden Anklägers von Nürnberg Benjamin Ferencz, im Stillstand in der Adenauer Republik, die viele Nazichargen schützte. Darnstädt beleuchtet die Initiative des Florentiners Antonio Cassese, dem es nach dem Kalten Krieg in Rom gelang, die internationale Staatengemeinschaft auf den Schutz der Menschenrechte zu verpflichten.
Auch für Antonio Cassese waren die Prinzipien des Nürnberger Prozesses, der am 20. November vor siebzig Jahren begann, der Ausgangspunkt für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag.
Ein spannendes, ein informatives, ein sehr gut lesbares Buch hat Thomas Darnstädt geschrieben, ein Buch, das die Lücken zwischen Gerechtigkeit und Recht erhellt, das die Defizite wie die Erfolge des Jahrhundertprozesses vor siebzig Jahren analysiert und die Initiative von Juristen ausleuchtet, die das internationale Strafrecht ausgeweitet haben.
Schützte das Völkerrecht vor Nürnberg den inneren Frieden souveräner Staaten, dient es seither der Bewahrung existentieller Bürgerrechte. Die Gründung der UNO mit ihrem Gewaltverbot, die Erklärung der Menschenrechte, die Völkermordkonvention, alles geht auf Nürnberg zurück.
Für die Opfer der Shoah jedoch kam der Prozess zu spät. Und die Rehabilitation der Überlebenden in der deutschen Trümmerrepublik mit ungebrochener Nazimoral, konserviert im Kalten Krieg, musste noch viele Jahrzehnte warten, bis eine neue Generation von Juristen herangewachsen war, die Täter nicht mehr schützte.

Thomas Darnstädt: Nürnberg – Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945
Piper Verlag 2015
416 Seiten, 24,99 Euro

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