Norwegen fünf Jahre nach Breiviks Massaker

Wo Menschenrechte auch für Massenmörder gelten

Haakon, Kronprinz von Norwegen, und Ministerpräsidentin Erna Solberg trauern am fünften Jahrestag von Anders Behring Breivik Massaker auf auf der Insel Utøya.
Haakon, Kronprinz von Norwegen, und Ministerpräsidentin Erna Solberg trauern am fünften Jahrestag von Anders Behring Breivik Massaker auf auf der Insel Utøya. © dpa / picture alliance / Jon Olav Nesvold
Von Kai Schlüter · 08.08.2016
Er tötete 77 Menschen. Vor fünf Jahren erschütterte der Massenmord des Einzeltäters Anders Behring Breivik Norwegen. Nachhaltig verändert hat sich das Land dadurch nicht. Die politische Flucht nach rechts blieb den Norwegern versperrt, weil Breivik selbst diesem Milieu angehörte.
Als Anders Behring Breivik vor fünf Jahren in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete, traf er Norwegen völlig unvorbereitet. Weder die Polizei war auf Terroranschläge eingestellt noch das ganze Land. Terror gibt es in den Krisenländern und Metropolen der Welt, aber nicht hier im Norden, glaubten die Norweger.
Breivik ist ein perverser Weltverbesserer. Er wollte Norwegen mit Hilfe eines Terrorregimes in eine vermeintlich bessere Vergangenheit zurückbomben, um das Christentum zu retten: Frauen an den Herd, Homosexualität verbieten, Moscheen abreißen, Ausländer deportieren, blonde Norweger züchten.
Zwei Tage nach Breiviks Massenmord setzte der damalige Ministerpräsident Jens Stoltenberg, heute Nato-Generalsekretär, in einer Rede den Ton für die absehbare Terrorismusdebatte im Land:
"Wir sind ein kleines Land, aber wir sind ein stolzes Volk. Wir sind immer noch entsetzt über das, was uns getroffen hat. Aber wir geben niemals unsere Werte auf. Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität, aber niemals Naivität."

Breivik war "Einer von uns", ein Norweger

Selbstkritisch stellten die Norweger fest, dass sie naiv gewesen waren. Breivik war "Einer von uns", ein Norweger. Diesen Titel gab die norwegische Journalistin Åsne Seierstad ihrer bemerkenswerten Breivik-Biografie. Neben der Trauer um die Toten und dem Mitgefühl für die vielen Verletzten war dies wohl der größte Schmerz.
"He lived among us."
Er lebte unter uns. Da Breivik Norweger ist und Landsleute ermordet hatte, verbot sich die vereinfachte Rettungsformel "Ausländer raus und alles wird gut". Breivik war Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei gewesen, die er vor dem Attentat aber bereits verlassen hatte, weil er dort nicht Karriere machen konnte.
Sie war ihm auch nicht radikal genug. Eine politische Flucht nach rechts und der Ruf nach dem Polizeistaat waren den Norwegern versperrt. Der Terror kam ja aus diesem Milieu.
Eine konservative politische Tendenz herrschte in Norwegen aber schon vor dem Attentat. 2009 gewann Rot-Grün unter Stoltenberg noch einmal die Parlamentswahl, 2013 siegte hingegen eine Koalition der Konservativen mit der Fortschrittspartei. Die Rechtspopulisten sind in das politische System integriert; sie arbeiten parlamentarisch und nehmen am gesellschaftlichen Diskurs teil.

"Extremismus wird von Menschen geschaffen"

Flüchtlinge, insbesondere muslimische Flüchtlinge, sind in Norwegen aber zunehmend unerwünscht. Sie werden schnell unter Terrorverdacht gestellt. Doch Norwegen nimmt als Nicht-EU-Mitglied am EU-Binnenmarkt teil und muss daher Freizügigkeit für EU-Ausländer gewähren und Flüchtlinge aufnehmen.
Breivik hatte das Sommerlager des sozialdemokratischen Jugendverbandes AUF angegriffen, weil er den Nachwuchs der verhassten Sozialdemokraten vernichten wollte. Heute hat der AUF so viele Mitglieder wie noch nie in seiner Geschichte, sagt der Vorsitzende Mani Hussaini.
"Wir haben gesagt, dass wir, Norwegen, bei unseren Prinzipien und Werten bleiben werden. Das müssen wir auch weiterhin tun. Kein Mensch wird zum Hassen geboren, kein Mensch wird zum Töten geboren. Extremismus wird von Menschen geschaffen. Deshalb ist es unsere Verantwortung, eine breitere, tolerantere und inkludierende Gesellschaft zu bauen. Das ist die stärkste Abwehr, die wir gegen Fremdenfeindlichkeit und Hass errichten können."

Polizei bis heute meist unbewaffnet

Die norwegische Polizei geht heute noch meist unbewaffnet Streife. Breivik wollte die Frauen wieder an den Herd verbannen. Stattdessen trieb Norwegen die Gleichstellung voran und führte die Wehrpflicht auch für Frauen ein. Und als Breivik in diesem Frühjahr vor Gericht klagte, weil seine Haftbedingungen unmenschlich seien, gab das Gericht ihm zum Teil Recht. In Norwegen gelten Menschenrechte auch für einen Massenmörder.
Breivik hat das Land zutiefst erschüttert, aber nicht nachhaltig verändert. Norwegen, sagt seine Biografin Åsne Seierstad, ruht auf einem soliden Fundament.
"Norway is very quiet, you know, solid. It rests on a solid, firm fundament. So it won’t be wiped away or changed by one man’s action."
Es werde nicht durch die Tat eines Einzelnen ausgelöscht oder verändert.
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