Nordsee ist Mordsee

26.03.2013
Als der 21-jährige Tjark Evers Mitte des 19. Jahrhunderts im nebligen Wattenmeer abgesetzt wird, endet seine Heimkehr im tödlichen Drama. Die reale Begebenheit ist von Astrid Dehe und Achim Engstler im "Auflaufend Wasser" so dicht erzählt, dass man das Meer förmlich riechen kann.
Die Gesetze der See sind ihm vertrauter als irgendetwas sonst, heißt es über Tjark Evers. Er ist 21 und Baltrumer. Und so schultert er den Seesack und springt frohgemut vom Ruderboot in den Wattsand. Es sind nur ein paar Schritte nach Westen bis zum Osterhook, dem Ostrand seiner Insel. "Die muss er nicht sehen, die fühlt er, riecht er, weiß sie vor sich." Es ist der 23. Dezember 1866, er will seine Familie überraschen. Und vor allem will er weg vom Festland, "für ihn verdeckter Himmel, die Welt der kleinen Rhythmen, der engen Kreise". Aber auf dem Festland ist die Navigationsschule, und er will Schiffer werden, wie alle Männer der Inseln, hinaus ins Weite, Freie, aufs Meer. Deshalb hat er ein Taschenbuch mit trigonometrischen Formeln dabei und einen Bleistift.

Gleich nach Beginn der Morgenflut hat er sich mitnehmen und vor dem Osterhook im Watt absetzen lassen. Da, wo der Sand gleich höher wird. Die beiden Ruderer und das Boot hat der seltsam schwere Nebel sofort verschluckt. Aber unter Tjarks Füßen ist kein ansteigender Sand. Er steht nicht kurz vor dem Osterhook, er steht auf einer Plat, einer Sandbank. Umgeben von Totenstille, einem jede Orientierung narrenden Grau und - dem auflaufenden Wasser.
Anfang Januar 1867 wird weit weg auf Wangerooge, der östlichsten der sieben wie eine Kette schroffer Perlen vor der Küste Ostfrieslands liegenden Inseln, eine Zigarrenkiste angespült. Sie ist in ein Halstuch geschnürt, in ihr sind ein Bleistift und ein Taschenbuch, in dem jetzt auch sieben Seiten mit immer gedrängteren Buchstaben beschrieben sind: Abschiedszeilen. Von dem jungen Mann fehlt lange jede Spur.

Halluzinationen, All- und Ohnmachtsfantasien

Eine Novelle, heißt es seit Goethes Sentenz 1827, erzählt eine "sich ereignete unerhörte Begebenheit". In der Tat, Aufland Wasser erzählt eine Begebenheit, sie hat sich ereignet, ist aber kaum unerhört. Nordsee ist Mordsee, Ertrinken fast banal, eben Schicksal derer, die an, von und mit ihr leben, in einer Art heidnischer Demut. Das Unerhörte an dieser Novelle ist, dass sie erzählt, was niemand wissen kann: Was geht in einem vor, der weiß, dass er bald ertrinken wird? Das lässt sich nur imaginieren, und genau das tun Astrid Dehe und Achim Engstler. Sie nehmen alles, was sich recherchieren lässt - nautische, historische, wissenschaftliche, kulturelle Fakten über die Inseln, die Mentalität der Insulaner, die Tücken des Watts - und weben daraus eine unerhört kunstvolle Prosa, die sich wie von selbst in die Leerstellen schmiegt.

In Tjarks Kopf kreiselt es so heillos wie das auflaufende Wasser und der Sand, der nie mehr fester Boden wird. Todesvisionen, Halluzinationen, All- und Ohnmachtsfantasien und am Ende - dokumentiert - eine unerhörte, geradezu blasphemische Freiheit: "Ich habe das Wasser jetzt ans Knie ich will mich gleich ertränken", schreibt Tjark. Er entscheidet über seinen Tod. Das alles, auch die kurze Nachgeschichte, ist so atmosphärisch dicht erzählt, dass man das Meer förmlich riechen kann und sofort in seinen Sog gerät - wie bei Ebbe, dem ablaufenden Wasser. Paradox, dialektisch und unheimlich plausibel.

Besprochen von Pieke Biermann

Astrid Dehe, Achim Engstler: Auflaufend Wasser
Steidl Verlag, Göttingen 2013
120 Seiten, 16 Euro