Nigeria

Archiv sichert Musik vor dem Terror

Afrikanisches Xylophon
Genres wie die Xylophonmusik haben in Nigeria kultische Bedeutung. © dpa / picture alliance / Bernd Thissen
Von Alexander Budde · 03.08.2015
Ein Digitalisierungsprojekt der Uni Hildesheim soll die Vielfalt der Musikkultur in Nigeria dokumentieren und erstmals sichern. Die Aufnahmen wurden weitgehend geheim gelagert, um zu verhindern, dass sie von den Islamisten der Terrorgruppe Boko Haram zerstört werden.
In der Provinzhauptstadt Maiduguri im Nordosten Nigerias begann die islamistische Sekte Boko Haram um die Jahrtausendwende ihren bizarren Feldzug gegen westliche Werte, höhere Bildung und schöne Künste. Im Visier der selbst ernannten Gotteskrieger sind seitdem auch Kulturschaffende – wird doch mit Musik im Vielvölkerstaat Nigeria traditionell auch Politik gemacht. Lokale Genres wie die Tsinza-Xylophonmusik der Bura haben kultische Bedeutung; Rhythmen, Tänze und Lieder sind aber auch das Gedächtnis der meist schriftlosen Sprachgruppen. Musiker erzählen Geschichten und die Geschichte dahinter.
Im Center for World Music der Universität Hildesheim sind Musikethnologen bemüht, möglichst viel von diesem mündlich überlieferten Erbe zu sichern: Eine digitalisierte Datenbank soll einmal die ganze Vielfalt der musikalischen Kultur in Westafrika dokumentieren. Über ein Internet-Portal sollen dann auch die Menschen in Nigeria per Mobiltelefon auf die kostbaren Tonaufnahmen zugreifen können. Wie das funktioniert und wie sich die deutsch-afrikanischen Partner bemühen, das akademische Leben im Herzland der Boko Haram aufrecht zu erhalten, berichtet Alexander Budde.

Beitrag im Wortlaut:
Dem Tsinza lauschte Christopher Y. Mtaku schon als Kind. Das Xylophon wird in traditioneller Weise bei Beerdigungen gespielt, sagt Mtaku, ein missionierter Christ vom Stamm der Bura, einer von rund 400 Ethnien im Vielvölkerstaat Nigeria:
"Als Kind durfte ich dem Instrument nicht zu nahe kommen. Erst später im Leben habe ich die Zusammenhänge begriffen. Nach ihrem Übertritt zum Christentum zwang die Kirche meine Eltern, von der Tsinza abzulassen. Dabei spielt es doch so eine zentrale Rolle in ihrer Kultur."
Die Rolle des Instruments hat sich im Lauf der Zeit verändert, seine Klänge werden von jungen Menschen heute auch in anderen Kontexten verwendet. Als Klingelton auf dem Mobiltelefon etwa. Wie dieser Kulturwandel abläuft, beschreibt der junge Forscher in seiner Doktorarbeit. Die Ruhe, um seine Studie zu vollenden, fand Mtaku erst im Center for World Music (CWM) im beschaulichen Hildesheim.
Monate des Pendelns liegen hinter ihm: Mtaku lehrt an der Universität Maiduguri. Die Hauptstadt des Bundesstaates Borno im Nordosten Nigerias war Keimzelle der islamistischen Sekte Boko Haram, die seit Jahren einen blutigen Feldzug gegen höhere Bildung und westliche Werte führt.
Christopher Mtaku: "Ich glaube nicht, dass wir es mit einer politischen Bewegung zu tun haben. Kaum jemand versteht noch, wofür Boko Haram eigentlich steht."
Gefährliche Feldstudien
Bombenanschläge auf Schulen und Kirchen, Überfälle auf Dörfer und Wohnheime, immer neue Mordtaten und Entführungen haben die Bewohner des ethnisch und sozial zersplitterten Landes in einen Zustand andauernder Paranoia versetzt. Von gefährlichen und zermürbenden Feldstudien in der afrikanischen Heimat erzählt auch Hajara Njidda, auch sie ist Doktorandin der Partneruniversität Hildesheim:
"Sie wissen nicht, was in der nächsten Minute passiert. Sie überlegen sich sehr genau, wohin Sie gehen, was Sie sagen. Denn Sie wissen nicht, wer da neben Ihnen sitzt. Wissenschaftliche Untersuchungen sind in einem solchen Umfeld überaus schwierig. Ich habe zum Beispiel versucht, eine kleine Sammlung von Musikinstrumenten aufzubauen. Die Instrumente sind dort, aber die Menschen verstecken sie aus Furcht vor den Terroristen."
Kein Nachtleben mehr in der von Flüchtlingen überlaufenen Millionenstadt Maiduguri. Boko Haram hat die Kulturschaffenden, Musiker insbesondere, ins Visier genommen. Christopher Mtaku wundert das nicht:
"Musik macht es möglich, dass Menschen zueinander finden. Ein Musiker stellt aus Sicht des Terroristen eine Bedrohung dar. Mit Musik lassen Menschen sehr schnell mobilisieren. Musik dient nicht allein der Unterhaltung. Viele Ethnien im Nordosten Nigerias wie auch an vielen anderen Orten Afrikas überliefern ihre schriftlose Kultur mit Hilfe der Musik."
Der Musiker als Historiker, als sozialer Agent: Bei diesem Lobgesang auf einen Herrscher der Haussa kann das geschulte Ohr politische Kritik an den Zuständen heraushören, wenngleich in leicht verschleierter Form. Das Instrument Algatta, eine Oboe, wiederholt den Stimmgesang.
Mentale Archive unserer Welt
Die Nigerianer versuchen, ihr kulturelles Erbe in die neue Zeit hinüberzuretten. Auch in Westafrika gewinnen die Medien an Einfluss, doch die Stellung lokaler Genres ist ungebrochen, hat der Musikethnologe Raimund Vogels beobachtet. Die Musikethnologen um Vogels erforschen im Center for World Music die Musikkulturen der Welt, sie digitalisieren Tonarchive − von den liturgischen Gesängen der koptischen Kirche in Kairo bis hin zur klassischen persischen Musik. Ein Archiv, das die ganze Vielfalt der Sprachen und der musikalischen Kultur Westafrikas dokumentiert: Daran arbeiten die Hildesheimer mit ihren Partnern aus Borno gerade.
Rund 1.000 Stunden Ton- und Videoaufzeichnungen haben als Leihgaben in Museen oder als verborgene Kostbarkeiten in den Schubladen von Gelehrten überdauert. Ähnlich wie Grabungsstätten sieht Vogels auch die mentalen Archive unserer Welt von bewaffneten Konflikten existentiell bedroht:
"Kein Mensch macht in Nordost-Nigeria heutzutage Musik. Gerade angesichts der Situation jetzt, wo Dörfer und Gemeinschaften komplett zersprengt worden sind, halten wir es für eine wichtige Aufgabe, dieses Material zusammenzutragen überhaupt erst mal und da, wo wir die Zustimmung der Musiker haben, eventuell dieses Material übers Mobiltelefongerät quasi als mobiles File abrufbar zu machen. Insofern versuchen wir so, einen Beitrag zu leisten: Die Spuren von dieser Musik, das, was sozusagen an Oberfläche noch von uns gesichert worden ist, dass wir zumindest das in diese Gemeinschaften zurückgeben – und zu schauen, was sie damit machen."
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