Niederlande

Wahlen in einem zersplitterten Land

22:40 Minuten
Ein Radfahrer fährt in Amsterdam an einem Ständer mit den Plakaten aller an den niederländischen Parlamentswahlen teilnehmenden Parteien vorbei.
Große Auswahl: Schon jetzt teilen sich 13 Parteien die 150 Abgeordnetensitze im niederländischen Parlament. © imago images / Richard Wareham
Von Kerstin Schweighöfer · 11.03.2021
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In den Niederlanden wird am 17. März ein neues Parlament gewählt. Es scheint, dass danach der alte auch der neue Regierungschef sein wird. Dabei ist die Gesellschaft so zersplittert wie die Parteienlandschaft - in einem Land, in dem es heftig rumort.
Wie oft sie schon gewählt hat? Amra van den Hoven muss einen Moment nachdenken, auch ihr Vater weiß es nicht auf Anhieb. Das erste Mal war 2017, rechnet die 22-jährige Wirtschaftsstudentin aus der alten Universitäts- und Rembrandtstadt Leiden nach. Also sind das jetzt ihre zweiten Parlamentswahlen.
Für ihren Vater Vincent dürften es bereits die Elften sein. "Aber zum allerersten Mal weiß ich nicht, wem ich meine Stimme geben soll", sagt er.
Der 62-jährige Fotograf gehört zum Heer der Unentschlossenen – der "zwevende kiezers", wie sie hier heißen, der schwebenden Wähler. Sie haben so viel Auswahl wie nie zuvor: Insgesamt 37 Parteien stellen sich zur Wahl. Das ist selbst für die Niederländer ein Rekord. Ihre Parteienlandschaft war schon immer stark zersplittert, denn sie kennen keine 5-Prozent-Hürde: Jede gesellschaftliche Strömung soll im Parlament vertreten sein können. Derzeit teilen sich 13 Parteien die 150 Abgeordnetensitze.
Amra van den Hoven und ihr Vater Vincent posieren für ein Foto.
Die Studentin Amra van den Hoven und ihr Vater Vincent können zwischen 37 Parteien wählen.© Deutschlandradio / Kerstin Schweighöfer
Für eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus brauchte die VVD gleich drei Koalitionspartner: die Christdemokraten, die calvinistische Splitterpartei Christenunie. Und die linksliberalen D66-Demokraten.
Denen will Amra ihre Stimme geben: "2017 habe ich die Grünen gewählt, die hätten mitregieren können, denn sie konnten die Zahl ihrer Stimmen mehr als verdreifachen. Aber sie wollten lieber in der Opposition bleiben, das hat mich enttäuscht – viele schöne Worte, aber keine Taten! Deshalb wähle ich jetzt D66, die haben sich getraut. Und sie haben erstmals eine Frau als Spitzenkandidatin ins Rennen geschickt: Sigrid Kaag. Eine tolle Frau – klug und tatkräftig! Sigrid Kaag sorgt für frischen Wind, viele junge Leute sind so wie ich begeistert von ihr! Sie macht Mut! Sie ist für Europa. Und sie will etwas gegen den Klimawandel tun. Ich teile alle ihre Standpunkte."

Was ist den Menschen unter 30 in den Niederlanden wichtig? Pia Behme hat zwei von ihnen gefragt. Was sie ihr geantwortet haben, können Sie am Ende dieser Weltzeit hören.

Ruttes Regierungspartei unangefochten vorn

In den Umfragen liegt Ruttes rechtsliberale VVD seit Monaten unangefochten an der Spitze. Sie hat ihren Vorsprung auf die rechtspopulistische "Partei für die Freiheit" PVV von Geert Wilders enorm ausgebaut. Wahlforscher gehen davon aus, dass Rutte erneut klarer Wahlsieger wird – und zum vierten Mal Ministerpräsident.
Davon ist auch André Krouwel überzeugt, Assistenz-Professor für Politologie an der Freien Universität Amsterdam und Initiator vom Kieskompas, dem Wahlkompass. "Die VVD wird bei der Regierungsbildung wieder eine führende Rolle spielen", sagt er.
"Es würde mich noch nicht einmal wundern, wenn die Koalition in ihrer jetzigen Form erhalten bleibt und wieder eine Mehrheit bekommt. Bei diesen Wahlen – und das ist interessant – scheinen die Wähler nicht mit der Regierung abrechnen zu wollen. Rutte kann ganz offensichtlich auf einen doppelten Bonus vertrauen: den Premierministerbonus und den Coronabonus. Und das trotz gigantischer Pannen und Pleiten unter seiner Führung!"
"Keine Experimente bitte!" lautet das Motto der niederländischen Wähler: In der Coronakrise setzen sie auf Rutte als erprobten Krisenmanager. Trotz der dramatisch hohen Wohnungsnot. Trotz grosser Missstände im Gesundheits- und Bildungswesen, wo es aufgrund drastischer Einsparungen an allen Ecken und Enden an Geld fehlt. Und trotz des nach wie vor viel zu hohen CO2-Ausstoßes, mit dem die Klimaziele von Paris nicht erreicht werden.
Premierminister Mark Rutte steht während einer Debatte im Parlament an einem Rednerpult, hinter ihm sitzt die Ministerin Tamara van Ark für medizinische Versorgung.
Der niederländische Premierminister Mark Rutte während einer Debatte: In der Coronakrise setzen viele Menschen weiterhin auf ihn.© picture alliance / ANP / Bart Maat
Einer Umfrage zufolge hätten 90 Prozent aller Wähler Mitte Januar noch nicht einmal den Rücktritt des Kabinetts aufgrund des Skandals beim Kinderbetreuungsgeld für nötig gehalten. Wegen Corona.

Skandal um Kinderbetreuungsgeld schadete Rutte nicht

Mehr als 20.000 Eltern, so hatte sich herausgestellt, waren über gut zehn Jahre hinweg zu Unrecht als Betrüger an den Pranger gestellt und in den Ruin getrieben worden: Sie mussten sich hoch verschulden, die Firma oder das Haus verkaufen, um Zuschläge zurückzuzahlen, die sie angeblich jahrelang unrechtmäßig empfangen hatten.
Die Basisprinzipien des Rechtsstaates seien verletzt worden, konstatierte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Premierminister Rutte trat daraufhin mit dem gesamten Kabinett zurück: "Der Rechtsstaat hat seine Bürger vor einer allmächtigen Regierung zu schützen, aber hier ist etwas auf schreckliche Weise schief gelaufen."
Das war am 15. Januar, mitten in der Coronakrise, als die Infektionszahlen zu den höchsten in Europa zählten. Kurz darauf überstürzten sich die Ereignisse: Die Niederländer waren noch dabei, den Schock über den Skandal zu bewältigen, da verhängte das inzwischen geschäftsführende Kabinett die bisher drakonischste Anti-Corona-Massnahme: eine nächtliche Ausgangssperre, die Avondklok.
Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass es wirklich so weit kommen würde. Die Avondklok wurde zum Gesprächsthema Nummer eins – und das kam Rutte nicht ungelegen, sagt die niederländische Journalistin Petra de Koning, die 2020 mit einer Biografie über Mark Rutte Aufsehen erregt hatte: "Natürlich hat er die Sperrstunde nicht deshalb eingeführt, aber sie hat vom Skandal mit dem Kinderbetreuungsgeld abgelenkt."

Nächtliche Ausgangssperre spaltet die Gesellschaft

Die Avondklok wiederum war der Auslöser für die gewalttätigen Ausschreitungen, die noch am selben Wochenende ausbrachen – die schwersten seit den Hausbesetzerkrawallen der 1980er-Jahre. Drei Nächte in Folge kam es im ganzen Land in mehr als einem Dutzend Städten zu Randale, Plünderungen und Angriffen auf die Polizei.
Doch selbst diese Ausschreitungen habe Rutte für sich zu nutzen gewusst, so Petra de Koning: Seine VVD konnte sich als Law and Order-Partei profilieren.
Denn Rutte verurteilte die Unruhen ganz einfach undifferenziert als kriminelles Verhalten, die Ursachenforschung erübrige sich: "Wir brauchen hier nicht nach tieferen soziologischen Bedeutungen zu suchen, das ist kriminelles Verhalten, dafür haben wir die Polizei, und die erledigt ihre Aufgabe fantastisch."

Bei Ausschreitungen auch Familienväter dabei

Dabei war es eine sehr heterogene Gruppe, die das Land weltweit in die Negativschlagzeilen gebracht hatte: gewaltbereite Hooligans und Rechtsextremisten, Verschwörungstheoretiker, Impfgegner, Ökofreaks, frustrierte Jugendliche – aber auch brave Familienväter aus der unteren Mittelschicht.
Was sie vereinte, war nicht nur die Ablehnung der Coronamaßnahmen, sondern auch ein tiefes Misstrauen gegen das Establishment – genährt von den sozialen Medien, in denen sie eine Parallelwelt gefunden haben und in ihren Ansichten bestärkt werden, so Wahlforscher André Krouwel: "10 bis 15 Prozent der Niederländer sind extrem misstrauisch. Sie sind böse. Enttäuscht."
Dass auch typische Mittelschicht-Bürger dazu gehören, komme nicht von ungefähr. Krouwel spricht vom "squeezed middle", von der unter Druck stehenden Mitte.
"Diese Menschen haben Angst, durch den Boden zu brechen, weil der Sozialstaat immer weiter abgebaut wurde", sagt er. "Früher dachten sie: ‘Ich verdiene gut, habe ein schönes Auto und fahre oft in den Urlaub.’ Nun können sie sich das nicht länger leisten. Einkommen und Status stehen auf dem Spiel. Es reicht auch nicht mehr, einfach sein Bestes zu geben, um sich hochzuarbeiten. Die Decke ist zu hoch geworden, die Oberschicht unerreichbar."
Die Bürger dieser unter Druck stehenden Mitte könnten auch nicht länger darauf vertrauen, dass es ihre Kinder besser haben werden als sie – ein Versprechen, das die großen Volksparteien einst gegeben haben. Doch nun finden die Kinder keinen Job und kein bezahlbares Dach mehr über dem Kopf.
"Deshalb wollen diese Wähler, dass sich das System ändert", sagt der Wahlforscher. "Sie erfahren es als ungerecht, es stimmt nicht mehr. Deshalb fühlen sie sich von populistischen und rechtsradikalen Bewegungen angezogen. Denn, und das zeigt sich immer wieder, wenn Menschen darauf hoffen können, dass es ihre Kinder einmal besser haben, sind sie zufrieden mit dem politischen System. Auch wenn es ihnen selbst schlechter geht. Hauptsache, die Kinder werden es besser haben. Dann ist es gut."
Auch andere Länder kennen ein "squeezed middle" und die Sperrstunde. Dass die Lage ausgerechnet hinter den Deichen so eskalierte, liegt zum einen daran, dass – so wie Donald Trump in den USA – auch die beiden rechtsradikalen Parteien der Niederlande Öl ins Feuer gossen.
Sowohl die PVV von Geert Wilders als auch das "Forum für Demokratie" seines Rivalen Thierry Baudet riefen zum Widerstand gegen die Coronamaßnahmen auf.

Hemmschwelle für Gewalt gesunken

Der wichtigste Faktor aber ist: Die Hemmschwelle für Gewalt war bereits gesunken, in den letzten Jahren kam es regelmäßig zu gewalttätigen Demonstrationen. So erregten die Proteste der Bauern gegen Umweltauflagen viel Aufsehen. Wiederholt zogen sie mit ihren Traktoren nach Den Haag, blockierten Autobahnen, beschädigten Regierungsgebäude und bedrohten Politiker.
Auch sie wurden von den rechtsradikalen Parteien unterstützt, sagt Jan Willem Duyvendak, Soziologieprofessor aus Amsterdam und Direktor des Instituts für Sozialforschung NIAS:
"Die Politik hat darauf sehr schlapp reagiert und erweckte den Eindruck, dieses Verhalten sei akzeptabel. Sie hätte ein klares Signal abgeben müssen, dass wir in dieser Gesellschaft abgesprochen haben, bei Demonstrationen keine Gewalt anzuwenden. So aber konnten die Bauern das Recht in die eigene Hand nehmen und zum Vorbild werden für andere. Die sagten sich: Schau an, in diesem Land ist viel möglich, wenn man ungehorsam sein will."

Angriffe auf Sanitäter, Attacken gegen Journalisten

Auch Angriffe auf Sanitäter, Feuerwehrleute und Polizisten sind längst keine Ausnahme mehr. Journalisten werden fast täglich eingeschüchtert und bedroht, bespuckt und attackiert. Bei Demonstrationen bekommen sie inzwischen Personenschutz. Der öffentlich-rechtliche Rundfunksender NOS ging im letzten Herbst sogar so weit, auf allen Einsatz- und Übertragungswagen das NOS-Logo zu entfernen. Weil den Autos auf der Autobahn der Weg abgeschnitten oder abrupt vor ihnen gebremst wird.
Daphne van Rooijen wohnt mit Mann und zwei kleinen Kindern in einem typisch holländischen Backsteinreihenhaus in einem Vorort von Den Haag. Die gewaltsamen Ausschreitungen und die Kinderbetreuungsgeldaffäre haben auch sie entsetzt.
Daphne van Rooijen hält ihre Tochter auf dem Arm.
Daphne van Rooijen mit ihrer Tochter: "Der Ausgang steht ja jetzt schon fest", sagt sie.© Deutschlandradio / Kerstin Schweighöfer
Ihr Vertrauen in die Politik jedenfalls sei nicht gewachsen, seufzt die 37-Jährige: "Aber ich glaube noch an die Demokratie, das schon. Und deshalb werde ich auch wieder wählen. Aber dieses Mal so extrem links, wie es nur geht. Um Gegengewicht zu bieten! Ich zweifle noch ein bisschen zwischen den Sozialisten und der Partei für die Tiere, linker als die geht es nicht."

"Alles ist beim Alten geblieben"

Dass Rutte mit seinem Kabinett kurz vor den Wahlen zurückgetreten ist, findet sie scheinheilig: "Die haben ja einfach weiterregiert, alles ist beim Alten geblieben. Und wie’s aussieht, werden sie auch nach den Wahlen weitermachen wie bisher, der Ausgang steht ja jetzt schon fest, das Spiel ist gelaufen!"
Daphne kümmert sich als Sozialarbeiterin um schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. Doch den Jugendämtern fehle es jedes Jahr mehr an Geld und Personal. Und dann die himmelschreiende Wohnungsnot! Dabei habe doch jeder Mensch ein Recht auf ein bezahlbares Dach über dem Kopf! Und deshalb ist die junge Mutter auf das Kabinett und die Rechtsliberalen von Rutte nicht gut zu sprechen:
"Ich weiss nicht, wie ich es anständig ausdrücken soll", sagt sie. "Für mich ist das die Partei des weißen reichen Mannes. Nein, diese rechten Kerle, das sind nicht meine Jungs!"
Eine linke Mehrheit hat es in den Niederlanden – anders als der Ruf dieses Landes vermuten lässt und anders als in Deutschland – noch nie gegeben. Und davon sind die Niederländer weiter denn je entfernt. In den Umfragen jedenfalls konnten die Verluste von 2017 bisher nicht wettgemacht werden.
Die "rechten Kerle" hingegen, die sitzen fest im Sattel – uneinholbar an der Spitze. Wie macht Rutte das?

"Rutte bezieht nie wirklich Stellung"

Es liegt nicht nur am Coronabonus, erklärt Politologe Krouwel: "Rutte bezieht nie wirklich Stellung, er hat schnell erkannt, dass es sehr viel besser ist, möglichst oberflächlich zu bleiben. Er übernimmt auch nie wirklich die Verantwortung. Rutte ist der Manager der Niederlande-GmbH, die Verantwortung tragen seine Abteilungsleiter. Alles an ihm ist vage, auch sein Privatleben. Er ist undefinierbar. Er hat kein Profil. Man kann sich an ihm nicht festhalten. Deshalb gleitet alles an ihm ab."
Und egal, ob rechts oder links, gläubig oder nicht: Rutte kann mit allen. In den verschiedensten Konstellationen hat er seit 2010 regiert. Für viele Wähler ist er die Verkörperung des Kompromisses – auch für Fotograf Vincent van den Hoven:
"Rutte kann man sich gut bei einem Urlaub mit dem Rad vorstellen, wie er vor seinem Zelt sitzt und sich etwas Leckeres auf einem Campinggaskocher kocht. Aber genauso gut in einem Luxushotel. Oder am Fließband in der Fabrik. Der Mann ist universell einsetzbar. Er findet alles prima. Immer mit einem Lächeln."
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