Nicolas Dobra: "Die Utopie sozialer Gerechtigkeit"

"Es ließe sich brüderlich nennen"

Nicolas Dobra: "Die Utopie sozialer Gerechtigkeit"
Gerechtigkeit könne nur erreicht werden, wenn das gewöhnliche Zusammenleben konsequent hinterfragt werde, meint Nicolas Dobra. © Kadmos Verlag / imago / Rüdiger Wölk
Von Stephan Berkholz · 02.09.2017
Kein Wahlkampf ohne das Schlagwort "soziale Gerechtigkeit". Doch was ist damit eigentlich gemeint? Der Philosoph Nicolas Dobra hat die Idee eines "ethischen Sozialismus" entwickelt - einer Gesellschaft, in der mehr Macht nicht mehr Geld bedeutet.
Gerechtigkeit habe nichts mit altherkömmlichen Gewohnheiten und einer Wahrung des Status quo zu tun, betont Nicolas Dobra. Gerechtigkeit könne nur erreicht werden, wenn das gewöhnliche Zusammenleben konsequent hinterfragt werde und zunächst mal sämtliche Geburtsprivilegien zurückgedrängt beziehungsweise abgeschafft würden. Dobra spricht in diesem Zusammenhang vom "republikanischen Prinzip der fairen Chancengleichheit". Das bisher praktizierte Erbrecht müsse überwunden werden, denn dieses sei ein letztes Überbleibsel einer Ständegesellschaft und so ungerecht wie illiberal:
"An die Stelle des in jeder Hinsicht ungerechten privaten Erbrechts tritt das gesellschaftliche Erbrecht, mittels dessen das absolut unverdienbare materielle Erbe, das Vermächtnis der Vorfahren, auf die einzig gerechte Weise weitergereicht wird."
Nicolas Dobra: "Kern des Buches ist, zu versuchen herauszufinden: Was verstehen wir unter Gerechtigkeit im Alltag? Was heißt dann letztendlich in der konkreten Gesellschaft, wie sie funktioniert, soziale Gerechtigkeit? Und es geht darum, mit diesem Handwerkszeug und mit der Rawls-Lektüre Grundsätze sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln, die meines Erachtens für alle hieb- und stichfest sind. Behaupte ich jetzt mal. Ist unverschämt vielleicht."

Dobra beruft sich auf John Rawls' "Theorie der Gerechtigkeit"

John Rawls sei der bedeutendste Gerechtigkeitstheoretiker der letzten fünfzig Jahre, behauptet Dobra, ein Klassiker zu Lebzeiten bereits. Rawls' philosophische "Theorie der Gerechtigkeit" erschien in den 1970er-Jahren. Damit vor allem setzt sich Dobra in seiner Studie auseinander, um dann zu eigenen Überlegungen und Schlussfolgerungen zu gelangen. Die Forderung, das Erbrecht abzuschaffen, wirkt sehr einleuchtend, und auch die Einführung eines Startkapitals für jeden Bürger mit dem erreichten 18. Lebensjahr erscheint sinnvoll und umsetzbar.
Mehr Reputation und mehr Macht sollten in einer zukünftigen Gesellschaft zudem nicht länger automatisch mehr Geld bedeuten, fordert Nicolas Dobra. Nicht Geld sollte also den Anreiz für bestimmte Berufe und Positionen bieten, sondern allein die Eignung und Fähigkeit und die Wünsche des Einzelnen. Die Einkommen sollten nach den "Kriterien begabungsunabhängiger Anstrengungen" gestaltet werden, schreibt der Autor. Im Straßencafé, zwischen startenden Autos und vorbeirauschenden S-Bahnen, erläutert mir Nicolas Dobra seine Gedanken:
"Deswegen habe ich zwei andere Prinzipien noch eingeführt. Und zwar das Prinzip der realen Einkommenchancengleichheit. Das besagt, dass jeder, in welcher Position er auch immer in der Gesellschaft tätig sein sollte, die Chance haben muss, genauso viel zu verdienen wie ein anderer – und zwar ganz radikal! Ob er Manager oder Putzfrau ist, spielt dabei überhaupt gar keine Rolle. Und das scheint mir aus Gerechtigkeitsgründen auch einleuchtend zu sein. Die einzigen Kriterien, die begabungsunabhängig sind und damit in meinen Augen gerecht, sind einerseits die Arbeitszeit, die jeder leistet, und andererseits die Intensität der Arbeit, die jeder leistet."

Wer mehr leistet, bekommt mehr Geld

Das heißt, wer mehr arbeitet und mehr leistet, wird auch in dieser Utopie über mehr Gehalt verfügen. Damit werden auch der Erwerbssinn und der Egoismus jedes Einzelnen berücksichtigt. Dobra geht der Frage nach, was Gerechtigkeit mit Gleichheit zu tun hat. Er verweist auf den Zufall der Geburt und fragt, wie die Verteilung gesellschaftlicher Güter im Namen der Gerechtigkeit modifiziert werden kann? Er bedenkt sozialstaatliche Umverteilung. Er spricht schließlich von einer "neuen gesellschaftlichen Grundstruktur":
"Prinzipiell gilt gerade in der zukünftigen Gesellschaft, dass aus Unternehmensgewinnen resultierendes Unternehmenskapital gesamtgesellschaftlich produktiv ist, weil es als Investitionskapital zur Verfügung steht und nicht länger privat abgeschöpft wird, wodurch es aus Eigenmitteln finanzierte und angemessen bezahlte Arbeitsplätze schafft und letztlich die Zukunft aller sichert."

Eine neue Gesellschaft, kein neuer Mensch

"Die Utopie sozialer Gerechtigkeit", so lautet der Titel dieser philosophischen Überlegungen. Der Autor scheut sich darin nicht vor intellektuellen Höhenflügen. Doch wie nutzbringend sind diese Gedanken für die Realität? Müsste mit und in Dobras Theorie nicht ein neuer Mensch geschaffen werden?
"Nein, es ist überhaupt kein neuer Mensch, der da geprägt werden müsste. Es gibt ja in dieser Hinsicht auch andere, die sich Gedanken machen, zum Beispiel der Felber von Attac Österreich, der mit seiner Gemeinwohlökonomie auch versucht, das momentane Gesellschaftssystem nicht völlig über den Haufen zu werfen, sondern zu modifizieren. Ein neuer Mensch nicht, aber mit Sicherheit 'ne neue Gesellschaft. Ich glaube wirklich, dass das so 'ne republikanische Geste wäre, wenn jeder 18-jährige Mensch mit einem gleichen Startkapital ausgestattet werden würde."
Also in etwa auch das, was SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz kürzlich wieder ins Gespräch gebracht hat.
Ein "ethischer Sozialismus" schwebt Dobra vor, also ein erweitertes Konzept dessen, was Kantianer einst bereits vorgedacht haben. Das Privateigentum werde abgeschafft sein, der Gemeinschaftssinn würde gefördert werden, Funktionärsprivilegien würden der Vergangenheit angehören, glaubt der Philosoph und Politologe Dobra.
"Ich bin ein undogmatischer Linker. Ich war immer mit dem Marxismus sehr unglücklich. Und sobald man den Begriff 'Sozialismus' heutzutage verwendet, wird man in eine gewisse Ecke gestellt, in die ich nicht gestellt werden möchte. Ethischer Sozialismus bricht das auf igendwie so, weil es klar ist, dass es hier nicht um eherne Gesetzmäßigkeiten geht, die Hegel und Marx angeblich entdeckt haben und aus denen dann gewisse Konsequenzen folgen, sondern dass wir letztendlich, wenn wir ein neues System aufbauen, das man doch Sozialismus nennen mag, uns letztendlich auf unseren Gerechtigkeitssinn stützen müssen."

Käufer und Konsument begegnen sich auf Augenhöhe

"In der neuen Gesellschaft wird man sich auch dort anders begegnen, wo der heutige Käufer und Konsument nichts als die Beziehung seines Geldbeutels auf die gekauften Artikel und Images zu erkennen vermag. Denn in jedem gesellschaftlichen Tausch von Geld gegen Ware steckt die Arbeit aller an der Wertschöpfungskette Beteiligten drin, der Produzenten, Zulieferer, Dienstleister, Verkäufer und Käufer, die im ethischen Sozialismus alle gleich viel zählen. Man wird sich anders anschauen, es ließe sich brüderlich nennen."
Dobras Studie ist leider in weiten Teilen im staubtrockenen Seminarstil verfasst, voll von Substantiven und Adjektiven und ellenlangen verschachtelten Sätzen. Nur ein akademisch geschultes Publikum wird sich in dieser sehr komplexen "Skizze", wie Dobra seine Überlegungen nennt, zurechtfinden. Dennoch liegt hier ein Denkmodell vor, das viel Stoff zum Diskutieren und Weiterdenken bietet.

Nicolas Dobra: Die Utopie sozialer Gerechtigkeit. Zur Dialektik von Verdienst und Gleichheit.
Kulturverlag Kadmos, Juli 2017
308 Seiten, 29,80 Euro

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