"Nichts als Fehler"

Von Jochanan Shelliem · 31.08.2012
Am 5. September jährt sich der Überfall auf das israelische Olympia-Team 1972 in München zum 40. Mal. Bei den Hinterbliebenen mischt sich die Trauer über die elf getöteten Sportler mit Verbitterung und Zorn über die deutschen Behörden, die fast alles falsch machten und jahrzehntelang schwiegen.
Als sich die Terroristen in das Quartier der israelischen Olympiamannschaft stahlen, lag Ankie Spitzer, die Frau des Fechttrainers in Amsterdam in ihrem Elternhaus im Bett. Am Morgen hatte sie mit ihrem Ehemann die Tochter noch im Krankenhaus besucht. Danach hatte der Fechttrainer den Zug nach München verpasst.

"Wenn er den Abendzug genommen hätte, wäre er erst nach dem Attentat in München angekommen: bei dem Überfall der Palästinenser wäre er nicht im olympischen Dorf gewesen, er wäre nicht als Geisel genommen und nicht getötet worden. Ich aber hatte das Gefühl, dass er rechtzeitig zurück sein sollte und so schlug ich vor, den Zug in der nächsten Stadt abzufangen.

Wir rasten also los und rannten ohne Fahrkarte in den Bahnhof und der Zug stand noch da. Damals – vor vierzig Jahren – konnte man die Waggontüren noch per Hand vom Bahnsteig aus aufmachen und André sprang auf. Ich war so froh, dass er rechtzeitig nach München kommen und keinen Ärger kriegen würde und ich fuhr ins Krankenhaus zurück."

Shaul Ladany hatte am 5. September 1972 seinen Wettkampf im 50 Kilometer Gehen hinter sich. Als Kind war er aus dem Lager Bergen-Belsen gerettet worden, nun kam er mit den anderen aus dem Theater ins Olympische Dorf zurück und sortierte in der Conollystrasse 31 auf seinem Bett Zeitungsartikel über sich.

"Anatevka hieß das Stück, und der israelische Schauspieler Shmuel Rodensky ist der Hauptdarsteller gewesen. In der Pause wurden wir hinter dem Vorhang auf die Bühne eingeladen. Das Foto, was ich auch noch habe, ist für viele der Mitglieder die letzte Aufnahme, die es von ihnen gibt. Ein paar Stunden später waren sie tot."

Ladany überlebte. Um halb drei Uhr war er eingeschlafen, er erinnert sich.
"Plötzlich hat mich jemand geweckt und da stand Zelig-Shtorch, das ist der Schütze, der in der Wohnung über mir gewohnt hat und hat gesagt, die Araber haben Muni ermordet."

Im Pulk rennen und gehen er und die anderen Israelis aus dem Team über den Terrassenabhang aus dem Haus. Es dauert Stunden, bis sich die Polizei den Ernst der Lage zur Kenntnis nimmt. Ankie Spitzer verfolgt von Holland aus im Fernsehen die Ereignisse.

"Außerdem wurde ich auch von der israelischen und der deutschen Botschaft auf dem Laufenden gehalten. Hanan Bar On hat mich alle halbe Stunde angerufen.

'Was wollen diese Terroristen', fragte ich ihn.

'Sie wollen die Freiheit für 234 palästinensische Gefangene in Israel.'

'Und worauf wartet ihr?'
'Wir werden das nicht tun', sagte er dann.

'Aber warum? Mein Mann und zehn seiner Freunde sind in ihrer Gewalt und Sie könnten ihr Leben retten!'.

'Nun', sagte er, 'Golda Meir, die israelische Premierministerin, hat gesagt, dass es niemals Verhandlungen mit Terroristen geben wird, weil sonst das Leben aller Israelis und aller Juden auf der ganzen Welt gefährdet sei. Das ist unser Beschluss.'

Ich habe schlucken müssen. Prinzipiell mochten sie Recht haben. Sie bestimmen die Politik. Aber es war mein Mann, der da gefangen war."

In der Connollystraße versucht der zehnfache israelische Meister im Gewichtheben, Joseph Romano, sich gegen die Geiselnahme zu wehren. Er wird getötet und kastriert und André Spitzer soll am Fenster Politikern erklären, wie es den Geiseln geht.

"Um 17 Uhr 30 sah ich André zum letzten Mal, als er am Fenster stand und dem Krisenstab als Sprecher der Geiseln berichtete, was geschehen war. Ich sah ihn nur, hörte ihn nicht, die Fernsehbilder brachten nicht seinen Ton, aber ich sah, dass er im Unterhemd dastand und seine Brille nicht trug. Ich fand das sehr entwürdigend, weil ich wusste, dass er kurzsichtig war. Die Hände waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden worden.

Sie hatten ihn gefragt, wie es den Geiseln in dem Gebäude ginge. Und André hatte gesagt, bis auf einen ginge es allen gut. Dann fragten sie ihn 'Was ist mit ihm und wer ist es?' Doch als André antworten wollte, wurde er hinter den Vorhang gezerrt. Er bezog sich auf Joseph Romano, der in dem Zimmer gefoltert, getötet und kastriert worden war.

Kastriert.

Ich habe die Bilder gesehen. Es steht auch in seinem pathologischen Bericht."

Diese Berichte aber sind für die Angehörigen der Opfer nach der Tragödie verschollen. Auch sechs Jahre später, als Ankie Spitzer den vom Innen- ins Außenministerium gewechselten Hans-Dietrich Genscher in Tel Aviv befragt, erhält sie keine Auskunft.

"Um sechs also empfing er mich und sagte 'Ankie, es gibt keine Dokumente.' Ich sagte: 'Schauen Sie, ich bin Holländerin, 25 Jahre lang bin ich Ihre Nachbarin gewesen, und ich weiß, dass in der Bundesrepublik alles dokumentiert wird. Ich weiß, dass es Untersuchungen gegeben hat, ich weiß, dass es Berichte gab und wir wollen diese Information.' Er wiederholte, dass es nichts gäbe und dass wir alles haben könnten, was da sei."

Weder das Deutsche Olympische Komitee, das Internationale Olympische Komitee noch die Bayerischen Behörden, alle sagen, da gäbe es nichts. Zwanzig Jahre nach dem Attentat von München beklagt Ankie Spitzer die Verantwortungslosigkeit der deutschen Behörden und die Verleugnung der Ermittlungsakten im Zweiten Deutschen Fernsehen.

"Eine Woche nach dem Interview setzte sich ein Zuschauer aus Deutschland mit uns in Verbindung und sagte: 'Sie haben Recht. Ich arbeite im Archiv des Bayerischen Landgerichts, in dem sich die Dokumente befinden. Und dort lagern Tausende von Akten.' Ich bedankte mich für den freundlichen Anruf, denn damals riefen viele Verrückte oder auch wohl gesonnene, empörte Menschen bei mir an. Und er sagte: 'Soll ich Ihnen Akten senden?' 'Sicher', sagte ich, 'ja.' Das tat er dann."

Mit diesen achtzig Seiten, die sich als Original erwiesen, wurde die bayerische Innenministerin dann im Fernsehen konfrontiert. Nach einer Woche musste Mathilde Berghofer-Weichner ihren Fehler eingestehen.

"Wir sandten unseren Anwalt daraufhin nach München, und er hat mehr als 4.000 Akten entdeckt. Da war ein Raum, in dem sich an drei Wänden die Papiere vom Boden bis zur Decke stapelten. Dazu fanden sich 900 Aufnahmen aus der Pathologie. Und damit wurde klar, wir haben einen Fall. Wir können gegen die Regierung klagen, gegen das deutsche Innenministerium, die bayerischen Regierung, die Sicherheitsbehörden der Stadt München."

Aus den Dokumenten ergaben sich Beweise für das halbherzige Vorgehen der deutschen Behörden gegen die Geiselnehmer. Für Shaul Ladany wurde auch die Absicht dokumentiert, die gewaltsamen Ereignisse aus dem Rampenlicht der Presse am Olympischen Dorf auf den Militärflughafen Fürstenfeldbruck zu ziehen.

Shaul Ladany: "Es war klar, dass es das Interesse der Organisatoren und im Grund des gesamten deutschen Volkes war, diese Rettung nicht unter den Augen der so vielen Journalisten, die sich im olympischen Dorf befunden haben, abspielen zu lassen.

Um nicht die Erinnerungen an das Dritte Reich wieder wach zu rufen, die doch gerade diese Olympiade vergessen machen wollte. Deshalb hat man diese Rettungsaktion, diese Befreiungsaktion außerhalb des olympischen Dorfes geplant."

Ankie Spitzer: "Es wurden alle Fehler gemacht, die man sich vorstellen kann: In der Lufthansamaschine für die Terroristen in Fürstenfeldbruck wurden siebzehn Polizisten postiert, die die beiden Anführer der Geiselnehmer hätten überwältigen sollen. Kurz vor Ankunft der Hubschrauber mit den Geiselnnehmern beschlossen diese Polizisten aber, dass ihnen der Einsatz zu gefährlich sei. Sie flüchteten.

Später habe ich Georg Wulff, den Einsatzleiter der Polizei gefragt: 'Warum haben Sie ihren Plan weiter verfolgt, obwohl er doch schon vor Landung der beiden Helikopter nichts mehr wert gewesen ist.' Und wissen Sie, was er hat mir gesagt hat: 'Ich blickte in die Augen der jungen Freiwilligen und sah, dass sie leben wollten. Darum konnte ich sie an ihrer Flucht nicht hindern.'

'Haben Sie die Augen meines Mannes und seiner Freunde gesehen,' fragte ich ihn, 'die mit gefesselten Händen, mit den Waffen der Terroristen im Nacken in den Hubschraubern gesessen haben? Glauben Sie, die haben nicht leben wollen?'"

Bis heute gilt der Anschlag der Terroristen vom Schwarzen September von 1972 als Geburtsstunde der deutschen Eingreiftruppe GSG 9. Was die israelischen Hinterbliebenen aber seit Sichtung der Akten sehr erzürnt: die Elite-Eingreiftruppe existierte 1972 schon. Sie wurde nicht eingesetzt, um sie im Kalten Krieg geheim zu halten.

Acht weitere Jahre benötigten die Hinterbliebenen und ein Gerichtsverfahren durch alle Instanzen bis nach Karlsruhe, das unter Justizministerin Zypries zu einem Vergleich abgebogen wurde, bis sich die Bundesrepublik zu ihrer Verantwortung bekannt hat.

"Und es hat weitere acht Jahre bis zu dem Besuch von Johannes Rau gebraucht, als er drei Jahrzehnte nach dem Attentat bei unserem Präsidenten Weizmann in Jerusalem aufgestanden ist und als deutscher Bundespräsident die Verantwortung für das Massaker übernommen hat."

Ankie Spitzer fühlt sich heute noch brüskiert.
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