Nicht das Opfer ist schuld

Von Aurelie Winker · 07.03.2013
Anzüglichkeiten, Übergriffe, Massenvergewaltigungen: In Ägypten hat die Gewalt gegen Frauen zum Teil drastische Ausmaße angenommen, vielfach auch in der Nähe des Tahrir-Platzes. Inzwischen trauen sich immer weniger Frauen an den Ort, der vor kurzem noch für Freiheit und Aufbruch stand.
Ein Alarmsignal kündigt an, dass die Metro einfährt. Für Frauen in der ägyptischen Hauptstadt Kairo eine unangenehme Situation. Denn im Gedränge an öffentlichen Orten werden sie angemacht und angefasst. Deshalb gibt es in der Kairoer Metro eigene Frauenabteile.

Heute stehen etwa ein Dutzend junger Frauen und Männer am Bahnsteig. Sie tragen alle die gleichen blauen Poloshirts mit der arabischen Aufschrift "Basma" – das bedeutet "Fingerabdruck". Sie sprechen die Fahrgäste an, die aus dem Zug steigen.

"Ich heiße Amira, ich bin von der Initiative Basma. Wir sind eine soziale Initiative, nicht politisch und nicht religiös. Wir sind heute hier, weil wir uns gegen sexuelle Belästigung einsetzen."

Zwei Frauen bleiben stehen, um mit Amira zu diskutieren: Was machen sie, wenn ein Mann in das Frauenabteil steigt, wenn sie belästigt werden? "Oft steigen wir einfach aus", sagen sie. Zum Schluss gibt Amira den Frauen einen Flyer. Darauf wird unter anderem erklärt, wie Frauen sexuelle Belästigung anzeigen können.

Der Flyer vermittelt die Grundbotschaft von Basma: Sexuelle Belästigung ist ein gesellschaftliches Problem, deshalb müssen alle gemeinsam dagegen vorgehen.

"Die Frauen Ägyptens sind die rote Linie", rufen hunderte Frauen gleichzeitig. Niemand darf sie anrühren. Salma erklärt, wobei es bei der Demonstration geht.

"Die Demonstration heute ist von verschiedenen feministischen Organisationen und Frauen initiiert. Wir wollen ein Statement abgeben, wir wollen gegen die Massenvergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz demonstrieren."

Auf dem symbolträchtigen Tahrir-Platz geht es längst nicht mehr um alltägliche sexuelle Belästigung: Immer öfter werden dort Demonstrantinnen angegriffen, misshandelt und vergewaltigt. Der erste Übergriff dieser Art wurde im Jahr 2005, noch unter Präsident Mubarak, bekannt. Der bis jetzt schlimmste war am 25. Januar 2013, dem zweiten Jahrestag der Revolution. Mindestens 19 Frauen wurden an diesem Tag auf dem Tahrir-Platz Opfer von Massenattacken, eine wäre fast verblutet, berichtet Eba’a.

"Wir sprechen hier von einem Mob von fünfzig bis hundert Männern, die eine Frau angreifen. Sie ist eingequetscht zwischen ihnen, wird von allen begrabscht. Oft wird sie ausgezogen, mit den Fingern vergewaltigt. In einem Fall wurde eine Frau mit einem Messer an den Genitalien verletzt."

Amr hat einen dieser Angriffe miterlebt.

"Ich und mein Freund Markus haben einen Schrei gehört. Ein Mädchen hat geschrien. Wir haben so versucht, sie zu beschützen. Diese Männer haben ihre Hose ausgezogen, auf der Straße. Markus hat versucht, sie wieder anzuziehen, aber der Mob hat ihn bewusstlos geschlagen, mit einem Knüppel. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, haben wir Freunde angerufen und sind zu sechst zurückgegangen. Sie haben gerade angefangen, das Mädchen zu vergewaltigen. Wir waren zu spät!"

Um solche Misshandlungen zu verhindern, hat sich im November die "Operation gegen sexuelle Belästigung" gegründet. Die Mitglieder der Organisation versuchen, wenigstens das Schlimmste zu verhindern: Wenn eine Frau von einem Mob umzingelt ist, holt ein sogenanntes Eingreifteam sie da raus. Das Sicherheitsteam leistet Erste Hilfe und versorgt sie mit Kleidung, wenn sie ausgezogen wurde.

Augenzeugen berichten, dass die Angriffe häufig sehr systematisch ablaufen. Oft beginnen sie zur gleichen Zeit an den gleichen Orten. Viele glauben deshalb, dass die Angriffe organisiert sein müssen, sagt Salma. Auch sie ist Mitglied der "Operation gegen sexuelle Belästigung".

"Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Angreifer organisiert sind, dass Leute auf den Platz geschickt werden, um Frauen anzugreifen und Chaos zu verursachen, profitieren Anstifter wie Angreifende davon, dass sexuelle Belästigung in Ägypten verankert ist. Und wenn sie 100 Leute schicken, werden schon 2000 Männer freiwillig mitmachen."

Deswegen will die Organisation Basma aufklären. Die Metro ist wie ein Querschnitt der Gesellschaft und deshalb ein guter Ort, findet Abd al-Fatah, einer der Gründer. Die Kampagne läuft gut.

"Die Leute sagen: ‚Ihr seid die Hoffnung, wir sind sehr stolz, dass ihr das macht. Jetzt merken wir, dass Veränderung wirklich möglich ist.‘ Aber das Wichtigste ist, dass sie einfach zuhören. Danach kommt die Magie, dann fangen die Leute an, anders zu denken."

Amr schleppt eine Kiste mit neuen Flyern an und stellt sie auf dem Bahnsteig ab. Die meisten Leute reagieren positiv, bestätigt er, aber selber Verantwortung übernehmen – das ist etwas anderes:

"Etwas Merkwürdiges passiert: Die Frauen sagen, ihr müsst mit den Männern über das Problem sprechen. Die Männer sagen, ihr müsst mit den Frauen sprechen."

Bei einer ägyptischen Studie von 2008 gaben 83 Prozent der Frauen an, schon sexuell belästigt worden zu sein. 67 Prozent von ihnen waren verschleiert. Schon damals erklärte die Hälfte der befragten Frauen, täglich belästigt zu werden.

"Natürlich ist es in den letzten Jahren viel schlimmer geworden", sagt Nadia. Sie arbeitet bei einer Frauenrechtsorganisation. Jeden Tag fährt sie mit dem Taxi zur Arbeit, auch wenn es teuer ist.

"Auf den Straßen wird eine Frau ständig belästigt. Jemand schlägt sie zum Beispiel auf den Rücken oder greift an ihre Brust und rennt weg. Oder er rennt nicht weg und macht immer weiter, wenn sie sich nicht wehrt."

Die Revolution 2011 hat den Frauen in Ägypten ein neues Selbstbewusstsein gegeben. Auf die politische Teilhabe wirkt sich das bislang nicht aus. Die neue Verfassung vom Dezember 2012 stellt Frauen und Männer nicht gleich, Frauen spielen im öffentlichen Leben nach wie vor eine untergeordnete Rolle.

Aber die Frauen haben ihr Schweigen gebrochen. Und das sei ein wichtiger Schritt, erklärt Nihal.

"In der ägyptischen Kultur ist Schweigen ein Ausdruck von Zustimmung. Wenn Frauen nichts sagen, denken die Männer, sie finden deren Verhalten gut. Also geht es nach diesem Muster weiter. Irgendwann haben die Frauen es selbst geglaubt. Sie haben sich mehr und mehr verhüllt, weil sie dachten, sie seien schuld, nicht der Angreifer."

"Unsere Mütter und Großmütter sind viel freizügiger durch die Straßen gelaufen als die Frauen heute", erzählt Hussain. In den 70er-Jahren begann die Prägung der Gesellschaft mehr und mehr durch religiöse Werte. Soziale und ökonomische Probleme seien dazugekommen, sagt er.

"Es kulminierte in einem schlimmen Ausbruch von Belästigung in den 90er-Jahren. Das geht weiter bis heute und wird noch brutaler. Die Belästigung ist politisiert, es gibt Mobs. Die Menschen haben sexuelle Belästigung akzeptiert und das war falsch. Heutzutage helfen die Leute den Angreifern sogar, sie schauen zu, wie Frauen öffentlich vergewaltigt werden."

Hussain arbeitet bei Harassmap, einer der ersten Organisationen, die sich gegen sexuelle Belästigung eingesetzt haben, seit 2010.

In einem hellen Raum mit Holz-Fußboden sitzen drei junge Männer und eine junge Frau vor ihren Laptops. Auf dem Tisch liegen Brot, Käse und Obst. Das Büro ist offenbar auch eine Art zweite Wohnung.

Harassmap dokumentiert sexuelle Belästigung. Die Freiwilligen gehen aber auch in ihren eigenen Wohnvierteln auf die Straße und versuchen, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Sie reden mit den meist männlichen Kioskbesitzern, mit Türstehern und allen, die auf der Straße präsent sind. Eba’a hat die Erfahrung gemacht, dass Männer sexuelle Belästigung oft verteidigen. Ihre häufigste Entschuldigung: Im konservativen Ägypten ist Sex vor der Ehe verboten. Vor allem die jungen Männer seien deswegen sexuell frustriert.

"Aber Belästigung befriedigt niemanden sexuell. Und nicht jeder, der Single und in der Pubertät ist, belästigt Frauen. Außerdem gibt es Kinder, die das machen und verheiratete Männer. Wir glauben, es ist eine Form der Schikane. Die Menschen wurden in diesem hierarchischen System so lange unterdrückt, dass sie es an jemandem auslassen, der schwächer ist."

Das Justizministerium hat ein neues Gesetz speziell gegen "sexuelle Belästigung" angekündigt. Aber es gibt bereits Gesetze, die "Unsittliches Handeln" und "Tätlichkeit" unter Strafe stellen, sagt Eba’a. Sie werden nur zu selten angewandt.

"Anstatt uns für ein neues Gesetz stark zu machen, wollen wir die Kultur auf der Straße ändern, die sexuelle Belästigung toleriert. Wegen dieser Kultur haben die Belästigungen in den letzten 10 bis 15 Jahren so stark zugenommen. Die Leute kommen einfach zu leicht damit durch."

Vonseiten der Politik bekommen die Frauen wenig Unterstützung. Einige Parteien haben die Massenattacken inzwischen zumindest verurteilt und harte Strafen für die Täter gefordert. Mehrere Mitglieder des islamistisch geprägten Schura-Rats, des Oberhauses, geben aber den Frauen Schuld für die Angriffe. Sie seien in der Öffentlichkeit zu präsent und provozierten die Attacken. Amira von Basma wünscht sich da mehr Solidarität mit den Frauen.

"Vor allem der Fall in Indien hat mich inspiriert. Als es zu der Massenvergewaltigung im Bus gekommen ist, in dessen Folge das Mädchen gestorben ist. Inspiriert hat mich, dass das ganze Land dagegen protestiert hat. Das war nicht nur ein Frauenmarsch - das ganze Land hat revoltiert, weil das passiert ist. Ich glaube, so etwas das brauchen wir auch in Ägypten."

"Die Sicherheitskräfte sind Verbrecher", rufen die Frauen. Wer die Menschen in Ägypten fragt, ob die Polizei die Frauen nicht schützen kann, erntet nur ein mitleidiges Lächeln. Fast jeden Tag gibt es neue Schlagzeilen über Polizeigewalt. Der bekannteste Fall in jüngster Zeit ist der von Hamada Saber. Er wurde Anfang Februar vor dem Präsidentenpalast von Polizisten ausgezogen und misshandelt. Das Video sorgte auch im Ausland für Empörung. Eine Demonstrantin hält ein Bild von Hamada Saber in die Höhe.

Jetzt sind es nicht mehr nur die Frauen, die ausgezogen und misshandelt werden, sondern auch die Männer. Sie haben uns im Stich gelassen, jetzt passiert ihnen das Gleiche.

In einem Sportstudio im Stadtteil Muhandeseen stehen elf Mädchen in Trainingskleidung vor einer Spiegelwand. Fünf von ihnen tragen Kopftücher. Ein Trainer zeigt ihnen verschiedene Kicks.

Der Kurs wird organisiert von der Initiative "Shuft Taharrush", das heißt auf Deutsch: "Ich habe Belästigung gesehen."

"Wir haben in der letzten Zeit gesehen, wie die sexuelle Belästigung zunimmt. Und wir haben beschlossen, dass die Mädchen lernen müssen, sich zu verteidigen. Denn sie können ja nicht immer einen Bodyguard auf die Straße mitnehmen."

Fatih deutet auf ein besonders zierliches Mädchen mit Kopftuch und Leggins, das seine Kicks übt. Der Trainer hält ein dickes Kissen vor seinen Bauch. "Tritt zu", sagt er. Das Mädchen traut sich nicht. "Das sind nicht eure Freunde, die belästigen euch", ruft der Trainer. Die nächste tritt mit voller Kraft zu. Auch Nihal ist zierlich, macht aber seit langem Kickboxen. Frauen haben die sexuelle Belästigung viel zu lange hingenommen, sagt sie.

"Unsere Freunde haben immer gesagt, ignoriert es einfach, wenn jemand etwas Blödes sagt. Aber ich glaube, man muss antworten, man muss der Belästigung etwas entgegensetzen."

Der Selbstverteidigungskurs ist eine Möglichkeit zu reagieren. Manche Frauen greifen sogar zu drastischeren Maßnahmen, erzählt Nihals Freundin Reem.

"Wir sind alle gerüstet. Manche haben Pfefferspray, andere Messer. Es ist so gefährlich. Und wir können nicht warten, bis das Innenministerium seine Arbeit macht. Ich trage eine Schere bei mir und ich überlege ernsthaft, ob ich meinen Bruder um sein Messer bitte. Pfefferspray habe ich schon."

Die Massenangriffe auf dem Tahrir-Platz sind natürlich extreme Auswüchse, sagt Reem. Aber sie passen in das Klima im Land.

"Das ist Teil des allgemeinen Trends in Ägypten, Frauen zu belästigen. Es ist Teil der Gewalt, die sich über ganz Ägypten ausbreitet. Sie sagen den Frauen: Seid nicht politisch aktiv. Und wir senden einfach eine Botschaft zurück: Wir werden nicht aufgeben!"
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