Neues Zuhause. Geschichten vom Ankommen

"Zuhause ist temporär"

Die in Aserbaidschan geborene Schriftstellerin Olga Grjasnowa
Die in Aserbaidschan geborene Schriftstellerin Olga Grjasnowa © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Von Julia Eikmann  · 02.10.2015
Mit elf Jahren kam Olga Grjasnowa mit ihrer Familie aus Aserbaidschan nach Deutschland. Damals konnte sie kein einziges deutsches Wort. Heute ist sie eine preisgekrönte Schriftstellerin.
"Ich finde Heimat einen sehr schwierigen Begriff, weil er oft, also meistens, politisch missbraucht wird. In unserem heutigen Kontext ist es meistens territorial und meistens exklusiv. Und zwar so exklusiv, dass man das Recht auf Heimat ausschließlich über Blut bekommt. Man kann es sich nicht erarbeiten."
"Man kann gerne von Zuhause sprechen, auch weil Zuhause viel temporärer ist. Und auch viel realistischer."
Zuhause ist Olga Grjasnowa in Berlin. Seit fünf Jahren lebt die Schriftstellerin im multi-ethnischen Stadtteil Neukölln. Wie sie auf dem Sofa in ihrer Altbauwohnung sitzt, das dicke, rotblonde Haar zu einem lässigen Pferdeschwanz zusammen genommen, weiche Formen, hellwacher Blick, sieht sie jünger aus als ihre 30 Jahre. Mit einer Hand schaukelt sie den Kinderwagen. Vor acht Wochen ist ihre Tochter Anna geboren.
"Für mich ist es unvorstellbar, dass meine Tochter kein Russisch versteht. Viele meiner Kindheitserinnerungen sind auf Russisch. Obwohl mein Deutsch um einiges besser ist als mein Russisch, ehrlich gesagt. Aber trotzdem gehört Russisch irgendwie noch zu meiner Identität dazu."

Die in Aserbaidschan geborene Schriftstellerin Olga Grjasnowa
Die in Aserbaidschan geborene Schriftstellerin Olga Grjasnowa© Deutschlandradio / Julia Eikmann

Neuanfang in der hessischen Provinz

Ihr erstes Zuhause hatte Olga Grjasnowa in Aserbaidschan. Sie war elf Jahre alt, als ihre Eltern - er Jurist, sie Musikwissenschaftlerin - beschließen, den von Krieg und Korruption gebeutelten Staat zu verlassen. Die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, Juden aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge aufzunehmen, kommt ihnen gelegen. Alle Familienmitglieder erhalten von Anfang an eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung und später ohne Probleme die deutsche Staatsbürgerschaft. Die ersten Wochen allerdings verbringen auch sie in einem Flüchtlingsheim.
"Aber das war ehrlich gesagt auch nicht besonders schlimm. Das waren auch nur zweieinhalb Monate. Die waren auch sogar ganz witzig. Weil es da natürlich sehr viele Kinder gab aus sehr vielen unterschiedlichen Kulturen. Und für mich war das natürlich Exotik pur. Aber das hatte nichts mit irgendeiner Flucht zu tun. Das war extrem entspannt, mit dem Flugzeug nach Frankfurt Main, dann rüber in die S-Bahn. Also die S-Bahn zu finden war schon das größte Abenteuer auf der sogenannten Flucht."
Und das "Abenteuer Neuanfang" hat für den Teenager Olga ohnehin keinen Reiz: Alltag in der hessischen Provinz. Erst wird die Familie nach Nieder Mockstadt geschickt - Olga Grjasnowa spricht es aus wie Niedermurksstadt - dann zieht sie nach Friedberg (Hessen).
"Das ist auch ne außergewöhnlich hässliche Kleinstadt. Das ist die Endstation der Linie S6, wenn man von Frankfurt fährt. Und ich glaube, es war auch die Endstation der Karriere von Elvis Presley."
Auf dem Gymnasium wird die Elfjährige in die vierte Klasse zurückgestuft. Sie ist die einzige Ausländerin auf der ganzen Schule. Und die einzige, die kein Wort Deutsch spricht.
"Das war wirklich unschön, weil ich wirklich kein Wort verstanden habe. Manchmal wusste ich nicht einmal, welches Fach wir gerade haben."
Zwei Jahrzehnte und viele Tausend gelesene Buchseiten, Schreibwerkstätten und Stipendien später. Olga Grjasnowa ist eine preisgekrönte Schriftstellerin. Sie schreibt auf Deutsch und ihre ersten Romane "Der Russe ist einer, der Birken liebt" und "Die juristische Unschärfe einer Ehe" werden von Kritikern wie Publikum gleichermaßen gefeiert.

Zur Heirat nach Dänemark

"Ich dachte eigentlich, ich wäre ganz angekommen. Auch in Deutschland. Bis ich versucht habe, in Deutschland zu heiraten. Das war so das Highlight meines Migrantendaseins bisher."
Obwohl sie längst eingebürgert ist, muss Olga Grjasnowa beim Standesamt eine Ehefähigkeitszeugnis aus der Heimat vorlegen. Ihr Mann, ein Syrer, unfreiwillig und ohne Papiere in Deutschland hängen geblieben, hat gar keine Chance: Wie soll er sich eine Geburtsurkunde in seiner vom Islamischen Staat okkupierten Heimatstadt ausstellen lassen? Aber der Standesbeamte beharrt auf Ordnung.
"Wir haben dann in Dänemark geheiratet."
Die kleine Anna wächst in einem Leben zwischen den Kulturen auf - oder besser: kulturübergreifend. An den Wänden gerahmter sowjetischer Realismus. An der Decke ein orientalisch verspielter Leuchter.
Ihre Mutter spricht Russisch mit ihr, der Vater Arabisch. Untereinander sprechen die Eltern eine Mischung aus Englisch und Deutsch. Und wenn sie aus dem Fenster schauen, dann sehen sie auf der anderen Seite der Sonnenallee das Teehaus Baku. Und nur ein Haus weiter eine arabisch geführte Druckerei.
Olga Grjasnowa kam mit elf Jahren aus Aserbaidschan nach Deutschland und wuchs in der hessischen Provinz auf. Die 30-jährige Schriftstellerin lebt in Berlin-Neukölln.
Fühlen Sie sich inzwischen in Deutschland zu Hause?
"Ja. Definitiv. Schon alleine, weil Deutsch die Sprache ist, die ich am besten kann. Und ich glaube so langsam habe ich das deutsche System auch mehr oder weniger verstanden.
Ich meine, ich fühle mich in Berlin auch gerade sehr wohl. Bin glaub ich seit fünf Jahren in Berlin und seit fast 20 Jahren in Deutschland. Das ist schon eine Zeitspanne, in der es schwer ist, sich irgendwas anderes vorzustellen."
Wie lange hat es gedauert anzukommen?
"Relativ lange. Ich kam in dem Alter von elf Jahren, also mitten in der Pubertät. Anfangs war es ziemlich schwierig. Zum einen, weil ich natürlich die Sprache nicht kannte, und eigentlich nichts verstand, was um mich herum vorging. Und auch die Umgebung, in die wir kamen, war nicht gerade sehr förderlich für eine gesunde Entwicklung. Das war ein Dorf, beziehungsweise eine Kleinstadt dann später. Und auch die Schule, auf die ich kam, war nicht gerade ausländerfreundlich. Ich habe immer gespürt, dass ich nicht dazu gehöre. Und dass mir auch nicht die Möglichkeit gegeben wird, dazu zu gehören. Ich hatte immer das Gefühl, an mir haftet irgendein Mangel. Eigentlich die ganze Schulzeit hindurch."
Hat die neue Heimat Sie verändert?
"Es ist ne schwierige Frage. Ich glaube definitiv schon alleine durch die Zeitspanne. Ich habe Zweidrittel meines Lebens in Deutschland verbracht. Und das ist sehr prägend."
Was ist Ihr Lieblingsort? Wo ist der?
"Kreuzberg und Neukölln. Ich fühle mich am wohlsten in den beiden Bezirken. Auch schon weil ich seit fünf Jahren regelmäßig eigentlich immer in den beiden Bezirken gewohnt habe. Also mittlerweile fühlt es sich an wie das kleine Zuhause."
Wollen Sie hier alt werden?
"Alt werden, das ist schwer vorstellbar. Also, ich würde glaube ich ganz gerne die nächsten fünf Jahre in Deutschland bleiben. Aber dann ... Mal schauen wie es sich entwickelt. Also, das ist wirklich schwer zu sagen, zum Beispiel mein Partner kommt aus Syrien. Natürlich, in den nächsten fünf Jahren wird sich in Syrien nichts ändern. Aber wenn es sich doch mal wieder bessert, dann würde er glaube ich schon ganz gerne mal wieder für ne Weile zurückgehen. Und dann würde ich mitkommen. Wenn der Krieg vorbei ist. Aber das sind natürlich ein paar Sachen, die per se gar nichts mit Deutschland zu tun haben, sondern eher mit der eigenen Lebensentscheidung. Aber natürlich, wie jeder gute Deutsche kann ich mir auch vorstellen, nach Italien für ne Weile zu gehen. Nur glaube ich nicht, dass das passieren wird."