Neues Zuhause. Geschichten vom Ankommen

"Der Sommer '89 bleibt ein nicht zu nehmendes Glück"

Die Schriftstellerin Ines Geipel
Die Schriftstellerin Ines Geipel © Deutschlandradio / Bettina Straub
Von Sabine Adler · 11.10.2015
In der DDR war sie eine gefeierte Sportlerin, doch aufgrund ihrer Kontakte zur Opposition wurde ihr eine Dissertation verwehrt: Ines Geipel floh kurz vor dem Mauerfall in den Westen. Die hartnäckige Antidoping-Kämpferin ist mittlerweile auch als Schriftstellerin bekannt.
Ines Geipel, die früher Ines Schmidt hieß, war eine Sprinterin der Extraklasse, ihr größter Erfolg: der Weltrekord der 4x100-Meter-Staffel bei den DDR-Meisterschaften 1984.
"Startschuss. Ines Schmidt hat die Dresdnerin schon deutlich überholt. Ein guter Kurvenlauf. Feiner Wechsel von Ines Schmidt auf Bärbel Wöckel. Und nun der Wechsel auf Marlies Göhr. Ah, ist Marlies etwas zeitig weggelaufen? Eine Idee vielleicht. Aber das wird eine gute, eine sehr gute Zeit. 42,19 - Weltrekord für Klugstaffeln, eine Superzeit. Klasse für die Dresdner, äh für die Jenaer."
Eine DDR-Sport - und wie sie herausfand, Doping-Vergangenheit, die sie grauste, wie die ganze DDR-Diktatur. Dass die Universität Jena ihr zu promovieren verbot, weil sie Kontakte zur Opposition hatte, brachte das Fass zum Überlaufen. Mit 29 Jahren hielt sie in der Heimat nichts mehr.

Immer wieder Flucht

"Meine Modelle in der Kindheit waren immer Fluchtmodelle. Ich bin in den Sport geflohen, in bin von zu Hause weg. Dann eben die reale Flucht."
Im August '89 schlug sie sich durchs ungarisch-österreichische Grenzgebiet. Ihr vorläufiges Zuhause wurde Darmstadt, wo sie im Dirndl als Kellnerin in einem Hotelrestaurant Wein ausschenkte, statt als Germanistin ihre Dissertation zu schreiben.
"Für mich war wichtig, dass ich schnell in eine konkrete Arbeit gekommen bin, mit konkreten Menschen zu tun hatte. Mit Hakim, meinem türkischen Chef. Ich hatte von vornherein mit Menschen zu tun, die um meine Geschichte wussten."
Sie beginnt ein Philosophie- und Soziologiestudium. Im Jahr 2000 ist sie Nebenklägerin des großen Berliner Doping-Prozesses und wird staatlich anerkanntes Doping-Opfer, später beantragt die Ex-Sprinterin die Streichung ihres Weltrekords aus den Annalen, sehr zum Ärger ihrer Mitläuferinnen. Ines Geipel wird eine der hartnäckigsten Antidoping-Kämpferinnen, sowohl, was die Vergangenheit angeht, als auch im Jetzt. Ein Kampf gegen starke Gegner vor allem im Sport, aber längst kein Grund, nochmal die Flucht zu ergreifen.
"Wo fliehst du hin? In einer Welt, in der du ja sowieso an jeden Punkt kannst? Also dieses Projekt Flucht hat sich erledigt. Und es war das Wichtigste in meinem Leben. Tatsächlich wirklich Nein zu etwas zu sagen. Und nach vorne zu gehen, ohne zu wissen, wo du landest, ohne zu wissen, was es wird. Das ist etwas Starkes, sehr Persönliches."

Neubeginn in Darmstadt

Ihre Beharrlichkeit zahlt sich aus, der Bundestag wird über eine 10,5-Millionen Euro-Hilfe für DDR-Dopingopfer abstimmen, die gleiche Summe soll der Deutsche Olympische Sportbund bereitstellen - ein großer Erfolg auch für Ines Geipel, die sich inzwischen auch als Schriftstellerin einen Namen gemacht hat. 1996 erschien ihr erstes Buch, zunächst war sie Herausgeberin der Texte von Inge Müller. Kurz nach der Flucht, als Ines Geipel mittellos in Darmstadt Fuß zu fassen versuchte, war ihr die Poetin und Ehefrau des Dramatikers Heiner Müller eine wichtige Gefährtin.
"Ich erinnere diese Wochen, das ging vielleicht ein Vierteljahr: Gesindestube, ein Tisch, ein Waschbecken, ein Bett, überhaupt keine Sachen. Ein einziges Buch: Inge Müller - Gedichte. Diese Gedichte, die man dann auswendig kann, weil man das Buch 500 Mal gelesen hat."
In diesen Tagen erscheint ihr 15. Buch. "Gesperrte Ablage" heißt es. Mit Joachim Walter bringt sie unterdrückte Geschichte und Literatur Ostdeutschlands ans Licht, um die verborgenen verdrängten, weggesperrten und in den Tod getriebenen Schriftsteller vor dem Vergessen zu bewahren. Ein Thema für sie seit 15 Jahren. In diesem Engagement, über die vielen geführten Debatten um das Erbe der DDR hat sich bei Ines Geipel das Gefühl eingestellt, zu Hause angekommen zu sein.
"Also ich habe diesen Moment immer verstanden als den des wirklichen Engagements: mit dem Beginn des Schreibens, mit dem Beginn von Öffentlichkeit, Streit, der Auseinandersetzung, der Kontroverse bei vielen Themen und die hatten ja auch viel mit der Vergangenheit zu tun."
Flucht, Doping, unveröffentlichte Literatur, eigene Prosa und Lyrik und immer wieder nervöse Themen der Gesellschaft. Ines Geipel ist eine politische Schriftstellerin. Ihr Werk über den Amoklauf in Erfurt wurde teils stark kritisiert. Sie stand das durch, kein Grund davonzulaufen.
Die Schriftstellerin Ines Geipel
Die Schriftstellerin Ines Geipel© Deutschlandradio / Bettina Straub
Ines Geipel, 55 Jahre alt, Schriftstellerin, im August 1989 aus der DDR geflohen
Fühlen Sie sich inzwischen in Deutschland zu Hause?
"Absolut. Also meine Modelle, meine Modelle in der Kindheit waren immer Fluchtmodelle. Ich bin in den Sport geflohen, in bin von zu Hause weg. Dann eben die reale Flucht. Aber wo fliehst du hin? In einer Welt, in der du ja sowieso an jeden Punkt kannst? Also dieses Projekt Flucht hat sich erledigt. Und es war das Wichtigste in meinem Leben. Tatsächlich wirklich Nein zu etwas zu sagen. Und nach vorne zu gehen, ohne zu wissen, wo du landest, ohne zu wissen, was es wird. Das ist etwas Starkes, sehr Persönliches."
Wie lange hat es gedauert anzukommen?
"Also ich habe diesen Moment immer verstanden als den des wirklichen Engagements: mit dem Beginn des Schreibens, mit dem Beginn von Öffentlichkeit, Streit, der Auseinandersetzung, der Kontroverse bei vielen Themen und die hatten ja auch viel mit der Vergangenheit zu tun. Das hat sich dann sehr nach zu Hause angefühlt und das war Selbstverständnis und ein permanenter Lernprozess. Wir haben so unwahrscheinlich viel gelernt in dieser Zeit de Flucht und in den Jahren danach. Und man durfte wachsen, ich durfte wachsen. Und das fand ich etwas sehr Glückliches und möchte diese Jahre der Auseinandersetzung nicht missen."
Hat die neue Heimat Sie verändert?
"Ich bin dankbar, dass es so eng war am Ende und ich mich tatsächlich bewegen musste, weil es eben an keiner Stelle mehr weiterging. Es gibt diese Erfahrung DDR und die muss auch gar nicht weggesprochen werden. Und alles was dazukam, war oder wurde ein immer reicher werden und das ist ja nicht zu Ende. Man behält dieses Modell schon im Kopf, eventuell auch ein drittes Leben zu beginnen. Die Welt, in der wir groß geworden sind, war ja eine sehr begrenzte und jetzt zu wissen, du kannst so eine Auseinandersetzung auch tatsächlich durchstehen, auch wenn es dich alle Nerven und Kraft kostet, also dass die Welt dazukommen konnte, mit diesem Sommer '89 bleibt ein nicht zu nehmendes Glück."
Was ist Ihr Lieblingsort? Wo ist der?
"Auf allen Schiffen dieser Erde fühle ich mich seltsamerweise gut. Oder in Zügen. Da kann ich so gut nachdenken in Bewegung. Das ist auch die Erfahrung der Flucht. Also man braucht den Computer, ich setz ich mit dem kleinen Computer in den Zug oder auf ein Schiff und es kann losgehen. Man kann leicht sein."