Neuer Erziehungsberater

13.05.2008
Globalisierung und die Veränderung des Arbeitslebens fordern neue Kompetenzen, die am besten bereits im Kindesalter erlernt werden. Stanley I. Greenspan, einer der bekanntesten amerikanischen Kinderpsychologen hat deshalb die zehn Eigenschaften zusammengestellt, von denen der Erfolg und das Lebensglück eines Kindes heute und in Zukunft abhängen.
Leon ist eines der mehr als Dutzend starken Kinder, die Stanley Greenspan mit kurzen Episoden in seinem Buch vorstellt. Der Junge ist älter als seine Schwester, aber kleiner als sie. Es macht den achtjährigen traurig, stets als kleiner Bruder angesprochen zu werden. Bis er für sich das Problem allein löst. Durch Beobachtung fällt ihm auf: Seine Mutter ist älter als der Vater und kleiner als er. Doch das ändert nichts daran, dass sie lustig, lieb und sogar cleverer als der Vater am Computer ist.

Durch eigenes Denken fand der Junge sinnvolle Bezüge zur Welt, die ihn optimistisch und handlungsfähig stimmten. Genau diese Eigenschaften zeichnen nach Auffassung des Autors starke Kinder aus: Sie können Beziehungen eingehen und Anteil nehmen, haben ein forschendes, neugieriges Bewusstsein, sind sprachfähig, besitzen ein reiches Innenleben und Selbstbewusstsein. Sie sind leidenschaftlich und ausgeglichen zugleich, können logisch denken und sie sind fähig, ausdauernd und mit Selbstkontrolle moralisch integer zu handeln.

Das sind die zehn Qualitäten, die Kinder erfolgreich und glücklich machen. Auffällig daran: Es sind vor allem emotionale Beziehungsqualitäten und nicht kognitive Leistungen und abfragbares Wissen, auf die der amerikanische Wissenschaftler und Autor setzt und von denen er überzeugt ist, dass sie die Kinder von heute fit machen für morgen. Diese Eigenschaften werden sie in die Lage versetzen, in einer globalisierten Welt einen erfüllenden Platz zu finden und ein zufriedenes Leben zu führen – gleich ob sie einmal Verkäufer oder Ärztin werden wollen.

Von der ersten bis zur letzten Seite ist Greenspans Buch gespickt mit Beobachtungen aus dem Alltag mit Kindern und dabei ist er ganz dicht an dem, wie die Mädchen und Jungen die Situation erleben mögen. Als Kinderpsychiater, Professor für Kinderheilkunde und Autor von mehr als vierzig Büchern über die frühkindliche Entwicklung und die Grundbedürfnisse von Kindern weiß der Autor, zu welchen emotionalen und kognitiven Leistungen ein Säugling, ein dreijähriges, zehnjähriges Kind oder ein Pubertierender in der Lage sind. Diese Sachinformation enthält er dem Leser nicht vor.

Greenspan baut auch neuste Erkenntnisse aus Pädagogik, Psychologie und Hirnforschung in seine Darstellung ein und dadurch entfaltet das Buch eine nahezu suggestive Wirkung. Man fühlt sich in die Seele des Kindes hineingezogen und beginnt verschiedene Etappen aus der Warte des Kindes zu erleben. Wie nimmt beispielsweise ein Kind sich selbst und seine Welt wahr, wenn seine Mutter ihm ein Kinderlied vorsingt und es dabei anlächelt? Es erfährt, ich löse etwas bei meinem Gegenüber aus. Und genau in vielen solchen kleinen Momenten entwickelt sich sein Selbstwert. Ganz und gar nicht dadurch, dass die Eltern dem Kind ständig erzählen, wie toll es sei – ohne dass es eine neue Hürde gemeistert hat.

Besonders spannend ist zu lesen, was für ein erzieherisches Handeln gegenüber einem Kind notwendig ist, damit es als Erwachsener mit innere Disziplin und doch nicht verbissen die selbst gestellten Aufgaben löst. Es braucht bereits als Baby und Kleinkind den unbedingten Freiraum, seine selbst gestellten Forscheraufgaben vom Anfang bis zum Ende ausführen zu dürfen und sei es, den Vater über Wochen mit ein und demselben albernen Ritual zu begrüßen und seine Reaktion zu erleben.

Greenspan fordert die Eltern heraus, zu schauen, was für die Kinder jeweils wichtig ist und sie von dieser Position aus zu begleiten. Keine leichte Aufgabe. Deshalb ist es seiner Meinung nach auch so wichtig, dass Kinder in Kindergarten und Schule andere Erzieher an ihrer Seite haben. Aus seiner Praxis weiß der Autor, dass ein Kind oft genug auch Menschen außerhalb der Familie als Verbündete braucht, wenn die Eltern vergessen, die Stärken ihres Kindes zu würdigen, stattdessen mehr und mehr fordern und übersehen, dass sie sie mit diesem Leistungsdruck eher demotivieren.

Kinder brauchen die Erfahrung, ich allein kann etwas erreichen. Wenn Eltern daran anknüpfen, erweisen sich auch im Erziehungsalltag immer wieder schwierige Themen wie das Bocken, Nörgeln, nicht zu Bett-Gehen-Wollen als spielerisch zu lösende Aufgaben.

Auch wenn das Buch kein klassischer Ratgeber ist: Greenspan würde aus solchen Situationen ein Rollenspiel machen und mit Puppen oder Teddys in der Hand spielerisch erkunden, was mit denen los ist, sie gerade gebrauchen und dadurch dem Kind eine neue Lernaufgabe stellen.

Rezensiert von Barbara Leitner

Stanley I. Greenspan: Starke Kinder. Die 10 Eigenschaften, die Ihr Kind erfolgreich und glücklich machen
Übersetzt von Andreas Nohl
Beltz Verlag, 2008
256 Seiten, 19.90 €