Neue Urbanität an der Moldau

Prager erobern sich ihre Altstadt zurück

Prag
Sommerabend am Ufer der Moldau in Prag. © Foto: Kilian Kirchgeßner
Von Kilian Kirchgeßner · 24.08.2015
Prags Altstadt wurde lange als reine Verkehrsfläche verspottet. Die Bewohner fuhren nur zur Arbeit in das Zentrum, außerhalb war die Lebensqualität besser. Nun wandeln sich die Ufer der Moldau zu Erholungszonen mit Bars und Grünflächen.
Es ist Abend in Prag, eine laue Sommernacht, und wer den Puls der Stadt fühlen will, der muss hierher kommen: An das Ufer der Moldau, diesen kilometerlangen Streifen, auf dem eine breite Promenade direkt am Wasser entlang führt. Dicht an dicht drängen sich hier die Flaneure, alle paar Meter gibt es einen Stand mit Bier und Live-Musik und über allem thront in der Ferne die hell angestrahlte Prager Burg, das Wahrzeichen der Stadt.
"Der Ort hier, das ganze Ufer, war am Anfang tot. Ich war mir sicher, dass man hier etwas draus machen könnte, wenn man eine gute Idee hat. Also habe ich angefangen, darüber zu verhandeln, hier eine dieser ungenutzten Kojen zu mieten – das sind diese schlauchartigen Räume, die in die Mauer eingebaut sind, mit der die Stadt vor Hochwasser geschützt werden soll. Ich habe das gemacht, weil ich die Sehnsucht hatte, in Prag etwas zu verändern; mir kam die Stadt ungenutzt, irgendwie undurchdringlich vor."
Martin Kontra sitzt hinter dem Ausschank, ein Mann Ende 40, schwarz gekleidet, Punk-Frisur. Er ist es, der den Boom an der Moldau ausgelöst hat: Seit er hier seinen Stand eröffnet hat, geht es mit der vorher ungenutzten Brache bergauf: Vom berühmten Nationaltheater sind es fünf Spazier-Minuten moldauaufwärts bis zum Tanzenden Haus, der Ikone der modernen Architektur in Prag. Hier ist, ein paar Meter unter der Uferstraße, der breite Streifen, den sich die Prager jetzt erobert haben: Es sind vor allem junge Leute, die sich hier treffen, tausende jeden Abend, die neben den Bands tanzen oder einfach die Füße ins Wasser baumeln lassen – und je mehr Besucher gekommen sind, desto mehr Stände haben aufgemacht am Uferstreifen und desto mehr Live-Bands spielen abends. Heute ist der Platz so knapp geworden, dass umfunktionierte Lastkähne hier festmachen, die mit Bierbänken oder auch einem schwimmenden Theatersaal das Geschehen auf den Fluss verlagern. Am dichtesten sind die Menschentrauben aber stets bei Martin Kontra; Bajkazyl hat er seinen Laden genannt, mit dem er gleich mehrere Ziele hatte.
"Nach vielen Jahren, in denen ich nur geredet und geträumt habe, wollte ich mich auch engagieren. Ich fahre seit 30 Jahren täglich auf dem Fahrrad, was in Prag lange Zeit sehr, sehr ungewöhnlich war. Ich benutze es in der Stadt als einziges Verkehrsmittel. Ich wollte eine Anlaufstelle gründen, wo Radler Unterstützung bekommen. Ich bin aber natürlich kein Fahrradhändler, deshalb habe ich Kultur-Aktivitäten damit verbunden. Diese Anlaufstelle, so wie ich sie mir vorgestellt hatte, sollte die Atmosphäre in der Stadt verändern."
Wer an der Moldau entlang radelt, kann hier bei Martin Kontra die Reifen aufpumpen oder die Bremsen nachstellen, dabei den Bands zuhören, ein Bier trinken und den Blick auf die Prager Burg genießen. Einer, der den Wandel vom einstmals toten Ufer zum Mittelpunkt des urbanen Lebens beobachtet, ist Martin Ourednicek. Der Wissenschaftler beschäftigt sich mit der Sozialen Geographie der Stadt.
"Das ist tatsächlich so, das kulturelle Leben spielt sich mehr an der Moldau ab, vielleicht ein bisschen nach dem Pariser Modell. Allein schon die Boote: Früher gab es hier vier Ausflugsdampfer, heute sind es gefühlt hundert. Da trifft das alte Sprichwort wieder zu, nach dem die Prager in der Moldau getauft sind – das ist ein Teil der Identität."
Prag im Umbruch
Es ist aber nicht nur das Ufer, das sich verändert: Seit einigen Jahren befindet sich ganz Prag in einem gewaltigen Umbruch. Straßenzüge verwandeln sich in Ausgeh-Meilen, im Sommer gibt es an fast jedem Wochenende irgendwo in der Stadt ein Musik-, Theater-, Gourmet- oder Kunstfestival, es eröffnen angesagte Restaurants und Cafés mit Tischen zur Straße, die an Paris erinnern – und überall stehen die Besucher Schlange.
"Für ein bestimmtes Publikum ist die Stadt anziehend, ganz klassisch für junge Leute und Studenten. Irgendwann kommt dann der Punkt, wo man – wie ich selbst – kleine Kinder hat und nicht mehr ins Restaurant oder ins Kino gehen kann. Da wohnt man dann im Grünen und nimmt die Pendelei in Kauf. Das ist für uns ein neues Phänomen: Vorher hatten die Leute nicht die Wahl, sie bekamen einfach eine Wohnung und fertig."
Für Forscher Martin Ourednicek ist die veränderte Wohnungssituation der Schlüssel zu den Neuerungen in der Stadt – und genau dadurch verläuft die Entwicklung in Prag anders als in München, Hamburg, Wien oder anderen westlichen Großstädten: Noch im Sozialismus, erläutert er, sei die wichtigste Funktion der Stadt gewesen, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Wer ein paar Zimmer in einer der Satelliten-Siedlungen ergattert hatte, war froh darüber – und diese staatlich verordnete Zuteilung von Wohnraum habe den Umgang der Menschen mit ihrer Stadt beeinflusst.
"Der Rhythmus war fremdbestimmt. Man fuhr morgens in der Rush-Hour in die Arbeit, abends wieder zurück – das war schon alles, und genau das war für das sozialistische System kennzeichnend. Und dann natürlich die ähnlich gleichförmige Bewegung am Wochenende: Da ist man auf die Datsche gefahren, die irgendwo im Umfeld der Stadt lag."
Platz für urbanes Leben blieb da nicht – die Stadt erfüllte ihre Aufgabe als Arbeitsstätte, das eigentliche Leben der Prager aber anderswo ab. Viele hatten ihre Datsche in ihrem Geburtsort, von dem aus sie für die Arbeit in die Stadt ziehen mussten. In jeder freien Minute zogen sie sich zurück – ins Private, in ihr Dorf, das sie immer noch als Heimat empfanden.
"Heute haben die Prager gute Wohnungen, sie haben einen anderen Lebensrhythmus, sie wollen ihr Leben anders genießen. Daran haben auch diejenigen einen Anteil, die von außen kommen. Sie müssen sehen, dass Prag ja im Sozialismus ausgesprochen homogen war: Die Juden waren ermordet, die Deutschen vertrieben – hier waren 96 bis 98 Prozent Tschechen. Jetzt bietet sich ein ganz anderes Bild. Allein hier bei uns an der Fakultät: Die Hälfte der Studenten ist über Erasmus hier, wir haben Studenten aus Amerika und Neuseeland. Die Lebensstile sind sich sehr ähnlich geworden. Wer hierher kommt, nimmt etwas vom Prager Leben mit zurück, bringt aber auch etwas von außen mit zu uns."
Prager Altstadt 
Verkehrschaos in den Straßen der Prager Altstadt. © Foto: Kilian Kirchgeßner
Verkehrschaos in der City
An diese Impulse knüpfen dann Aktivisten wie Martin Kontra an mit seiner Vision vom lebendigen Moldau-Ufer – oder solche wie Marek Belor.
Belor sitzt auf dem Steinsockel eines Denkmals; ein Platz mitten in Prag, gesäumt von Jugendstil-Häusern mit prächtiger Fassade. Der junge Mann hat für diese Schönheit aber keinen Blick; er schaut auf die Ampel, vor der sich ein langer Stau bildet. Das sei hier das übliche Bild, seufzt er.
"Das hier ist eine der schlimmsten Kreuzungen der Stadt, und das mitten im Zentrum. Schauen Sie nur: Vier Straßen treffen aufeinander, auf allen fahren Straßenbahnen und Autos. Die Ampel kommt nicht hinterher und für Radfahrer ist schon gleich gar kein Platz, obwohl hier einer der wichtigsten Radwege der Stadt entlangführt."
Marek Belor ist Nahverkehrs-Experte bei der Prager Initiative Automat, die sich für eine bessere Verkehrssteuerung in der Stadt einsetzt. Er kennt etliche neuralgische Punkte in der 1,2-Millionen-Einwohner-Stadt, an denen der Verkehr regelmäßig kollabiert. Das grundlegende Dilemma: Die Prager Straßen mit ihrem Kopfsteinpflaster sind einfach zu schmal, um die vielen Tausend Pendler aufzunehmen, die täglich mit dem Auto in die Innenstadt wollen – da reicht dann schon einmal ein Linksabbieger, um für Minuten eine wichtige Straßenbahnkreuzung komplett lahmzulegen. Marek Belor:
"Das größte Problem ist, dass die Autos den öffentlichen Nahverkehr blockieren. In der Altstadt ist kein Platz für Busspuren oder separate Straßenbahn-Schienen. Die einzige Möglichkeit ist, den Transitverkehr aus der Innenstadt rauszuhalten und nur Anwohner reinzulassen. Das ist technisch machbar, davon sind wir überzeugt."
Auch die Prager Verkehrsplanung ist ein Spezifikum, das mit der Geschichte zusammenhängt. In den 90er-Jahren, kurz nach der Wende, ist das Auto im einst sozialistischen Land zum unverzichtbaren Statussymbol geworden. Den öffentlichen Nahverkehr belächelte man als "socka", als Verkehrsmittel für sozial Schwache. Nur: Das historische Zentrum, das mit seinen verwinkelten Straßen und den Kopfsteinpflaster-Gassen schon fast museal anmutet, kollabiert unter dem Ansturm der Autos. Die Politik hat nicht gegengesteuert, sondern noch zusätzlich eine autofreundliche Stadt propagiert – zu einer Zeit, als die Debatte im Westen schon längst um viele Jahre weiter war. Das Prager Prestigeprojekt ist ein milliardenteurer Stadttunnel, der in diesem Herbst eröffnet werden soll: Er bringt die Autos auf vielen Spuren durchs Zentrum. Immerhin: Dank solcher Maßnahmen, sagen Verkehrs-Experten, könnten die Prager endlich einsehen, dass ihre Stadt schlicht voll sei. Selbst eine City-Maut wie etwa in London wird immer wieder ins Gespräch gebracht; der zuständige Verkehrs-Experte Petr Dolinek aus dem Prager Stadt-Parlament hält diese Debatte allerdings für voreilig.
"Das ist eine der Möglichkeiten, wie sich künftig der öffentliche Nahverkehr bevorzugen lässt. Aber das ist eine Debatte für viele, viele Jahre. Derzeit ist eine Maut übrigens auch von der Gesetzeslage her gar nicht möglich."
Trotzdem: Allmählich ändert die Prager Politik ihre Schwerpunkte. Der Eröffnung des Tunnels, der vor vielen Jahren unter einer Vorgänger-Koalition geplant worden ist, setzt der aktuelle Magistrat eine andere symbolkräftige Geste entgegen: Ab diesem Sommer hat sie die Jahreskarte für den Nahverkehr um ein Viertel verbilligt – und das, obwohl sie auch bislang schon günstig war. Nur 130 Euro kostet sie nun – ein Spottpreis im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten – wohlgemerkt 130 Euro für das ganze Jahr. Petr Dolinek, der zuständige Abgeordnete im Stadtparlament:
"Natürlich ist das auch ein sozialer Schritt, das ist das Argument Nummer eins. Und als zweites wollen wir, dass die Prager den öffentlichen Nahverkehr dem eigenen Auto vorziehen."
Stadtplanung in Prag
Die Rückeroberung der Stadt, die viele Prager über Jahre hinweg nur als Verkehrsfläche gesehen haben, ist in vollem Gange. Ortsbesuch bei Marek Zderadicka, dem Chefplaner, wenn Prager Straßen und Plätze neu gestaltet werden. Der Ingenieur residiert in einer alten Klosteranlage am Rand des Zentrums. Nach vielen Jahren, sagt er, sei jetzt endlich eine Änderung in der Politik zu spüren.
"Sie ist von einem Faktor beeinflusst: der Qualität des Lebens in der Stadt. Das ist eine Tendenz, die überall in Europa zu beobachten ist. Es hängt damit zusammen, dass in 20, 30 Jahren die Mehrheit der Menschen in Städten wohnen wird. Also müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass die Stadt den Menschen gute Lebensbedingungen bietet. Die Straßen haben nicht mehr nur eine Verkehrsfunktion, sondern werden zu einem Ort, an dem sich das Leben in der Stadt abspielt."
Diese neue Urbanität zu fördern, ist jetzt erklärtes Ziel in Prag. Die Ufer der Moldau sollen zu Erholungszonen werden, und einige der schönsten Plätze in der Altstadt wie etwa der Kleinseitner Ring ganz in der Nähe der Karlsbrücke warten auf ihre Renovierung – sie sollen dort Platz bieten für Flaneure, wo jetzt noch große Parkplätze sind. Planer Zderadicka:
"Prag hat in seinem historischen Zentrum nicht so viel Platz wie Wien auf der Ringstraße oder Paris und Bukarest mit den großen Boulevards. Oft müssen wir also hart diskutieren, um Kompromisse zu finden, wer wieviel Platz bekommt. Wir versuchen, dem öffentlichen Nahverkehr am meisten Raum zu geben, aber auch Fußgänger und Radfahrer brauchen viel Platz."
An dieser Stelle trifft die Vision vom urbanen Leben auf die Verkehrspolitik. Einfach dürfte es nicht werden, fürchten Bürgerinitiativen, den Autofahrern immer mehr von ihrem angestammten Platz wegzunehmen.
Auf dem Weg zur Metropole
Dass das städtische Leben ohne Stau auch reizvoll sein kann, versuchen derweil Aktivisten überall in Prag zu zeigen. Einer von ihnen etwa hat quer über die Stadt verteilt dutzende alte Klaviere aufgebaut, angekettet in Unterführungen, Innenhöfen und Arkadengängen. Wer hier vorbeikommt, kann einfach den Deckel aufklappen und spielen. Der Effekt ist verblüffend: Auf einmal bremsen die Passanten ihren eiligen Schritt, sie bleiben stehen und hören zu. Prag, sagt Forscher Martin Ourednicek, schließe im Vergleich zu anderen mittel- und osteuropäischen Städten derzeit am schnellsten zu westlichen Metropolen auf.
Prag 
Buntes Treiben am Ufer der Moldau. Im Hintergrund ist die Prager Burg, der Hradschin, zu sehen.© Foto: Kilian Kirchgeßner
"Wenn man eine Analyse der früheren sozialistischen Staaten macht, sind es Tschechien und die einstige DDR, die sich am ehesten an Österreich oder Westdeutschland angeglichen haben. Das hat mit der gemeinsamen Vergangenheit zu tun: Vor dem Sozialismus hatten wir eine sehr ähnliche Industriekultur, aber auch eine ähnliche soziale Struktur in den Städten. Wien ist als Hauptstadt der Monarchie für Prag immer ein Vorbild gewesen. Wenn wir nach Warschau, Budapest oder auf den Balkan blicken – da war die Industrialisierung später dran als hier in Prag."
Deshalb könne man in Tschechien, das ist seine Schlussfolgerung, einfacher anknüpfen an die Entwicklungen, die der Westen genommen hat.
Unten an der Moldau-Promenade ist inzwischen die Nacht eingebrochen. An heißen August-Abenden, wenn die Luft einfach nicht abkühlen will, sitzen die Prager hier bis zwei Uhr morgens und freuen sich über die leichte Brise, die über den Fluss hineinweht in die Stadt. Die Musik spielt, das Bier fließt und Martin Kontra, der Mann mit seiner Bar, der das früher tote Ufer zum Leben erweckt hat, lehnt sich zufrieden zurück.
"Ich bin sicher beides, Missionar und Geschäftsmann. Eine Mission ist es insofern, als ich das neben meiner normalen Arbeit her betreibe, die ersten Jahre haben wir Verlust gemacht. Und auch jetzt investieren wir alles, was wir verdienen, wieder in neue Projekte. Wir haben so viele Ideen für Aktionen auf der Straße – da wollen wir unbedingt dranbleiben!"
Sie haben sich wieder ein Stückchen von ihrer Stadt zurückerobert, die Prager – hier an der Moldau ist das so gut zu sehen wir nirgendwo anders.
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