Neue Therapieansätze in der Psychiatrie

Krisenbegleitung durch Krisengeprüfte

Ein Mensch sitzt auf einer Fensterbank und stützt seinen Kopf mit den Armen, im Gegenlicht sind nur seine Umrisse erkennbar.
Auf ihre Erfahrungen hätten Psychiatrie-Patienten gern verzichtet. Aber man kann sie auch nutzen, um anderen zu helfen. © dpa / picture alliance / Thomas Eisenhuth
Von Dörte Fiedler · 18.01.2018
Wer eine psychische Krise durchlebt hat, hat leidvolle Erfahrungen gesammelt. Doch dieses Erfahrungswissen birgt auch Potenzial: Beim Ausbildungsprogramm Ex-In werden ehemalige Psychiatrie-Patienten zu Genesungsbegleitern ausgebildet, die Therapieprozesse unterstützen.
"Mein Name ist Susanne Ackers. Ich bin 55 Jahre alt und ich habe in meinem vorigen Leben Kunstgeschichte studiert und dort auch gearbeitet viele Jahre."
Susanne Ackers Leben teilt sich gewissermaßen in ein Vorher und Nachher:
"Mit 35 erlitt ich einen Nervenzusammenbruch - Psychose. Und ich habe dann versucht, zunächst mich in den ersten Arbeitsmarkt zurück zu begeben, das endete mit einer zweiten Psychose."
Psychische Krisen bleiben, auch wenn die Person sie überwunden hat für die meisten nicht folgenlos: Sie verändern und die Betroffenen gehen mit Erfahrungen daraus hervor, auf die sie mitunter sicher gerne verzichten würden. Gesellschaftliche Stigmatisierung und Diskriminierung sind im Zusammenhang mit Psychiatrieaufenthalten immer noch verbreitet.

Ansprechpartner und Genesungsbegleiter

Dabei kann dieses Erfahrungswissen, wie man bereits aus der Selbsthilfebewegung weiß, große Potentiale bergen. Das Ex-In Ausbildungsprogramm ist deshalb seit mittlerweile zehn Jahren ein wichtiger Meilenstein in der psychiatrischen Versorgungslandschaft. Es hilft Betroffenen dabei, die individuellen Erfahrungen einer psychischen Krise als Ressource nutzbar zu machen:
"EX-In ist die Abkürzung für Experienced Involvement, und das bedeutet Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen in der psychiatrischen Versorgungslandschaft. Die Idee ist, dass zusätzlich zu den sogenannten Professionellen wie Psychologen, Sozialpädagogen, Ergotherapeuten, Ärzte usw. eben auch Psychiatrie-Erfahrene mit einem normalen Vertrag eingegliedert werden in das Team. Und auf diese Weise Menschen mit eigenen psychiatrischen Beeinträchtigungen als Ansprechpartner dienen sollen im weitesten Sinne."
Auch Susanne Ackers hat die EX-IN Ausbildung durchlaufen, heute ist sie Genesungsbegleiterin und bildet als Trainerin andere darin aus. Sie versteht Ex-In unter anderem als eine Art Übersetzungshilfe zwischen der Person in der Krise und bspw. dem Psychiater:
"Oft gibt es Konflikte zum Beispiel mit Medikamenten oder mit den Angehörigen. Und dann ist es ganz gut, wenn da jemand ist, der sagen kann: Mensch, ich hab das auch so erlebt und bei mir hat das und das geholfen, oder: Ich hab das damals so lösen können.
Was auch ganz wichtig ist, ist diese Funktion als Hoffnungsträger, dass man wenn man selbst in einer tiefen Krise steckt und denkt: Das bleibt jetzt das Leben lang so, dass man dann sieht: Mensch, da sitzt mir jemand gegenüber, der hat es geschafft rauszukommen und der hat einen Job als Genesungsbegleiter."
Die Ausbildung zur GenesungsbegleiterIn dauert ein Jahr, die TeilnehmerInnen durchlaufen dabei zwölf Module, die sich unter anderem mit Gesundheit und Wohlbefinden, Empowerment, Selbsterforschung, Fürsprache, Beraten und Begleiten und Krisenintervention befassen.

Ergänzendes Angebot zur Therapie

Auch Rolf Netzmann hat mehrere psychische Krisen durchgestanden und absolviert gerade das EX-IN Ausbildungsprogramm, das Überwundenhaben und die relative Stabilität sind dabei eine Voraussetzung, um das Programm zu beginnen:
"Wie stellt man die Stabilität fest: Es gibt ja ein Vorgespräch. Was ich ganz wesentlich fand, war die Frage: Wie stabil ist das soziale Netz der Bewerber? Wenn da jemand ist und der sagt: 'Ich zieh das mal für mich alleine durch' - wird es nicht funktionieren. Man braucht ein stabiles Netz - Weil es natürlich auch eine Reise zurück ist in das, was ich erlebt habe. Und das sind bei keinem der Teilnehmer angenehme Erinnerungen.
Das Programm sei ausdrücklich keine Therapie, therapeutische Wirkung habe es aber schon, sagt Susanne Ackers. Und es wird immer ergänzend verfeinernd zu anderen Versorgungsangeboten gedacht und kommt keiner Ausbildung zum Therapeuten oder ähnlichem nahe:
"Wir gehen davon aus, dass die Menschen, die kommen, Experten durch ihre eigene Erfahrung geworden sind. Wir schulen sozusagen die Fähigkeit über die eigene Erfahrung zu reflektieren und mit dieser Reflexion so umzugehen, dass sie anderen Menschen helfen können."
Eine Mitarbeiterin steht in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Braunschweig.
Ehemalige Psychiatriepatienten bringen eine neue Perspektive in die Therapie.© dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte
Etwa die Hälfte der der EX-Inler, wie sie sich selbst nennen, finden nach der Ausbildung tatsächlich Jobs in psychiatrischen Einrichtungen und Trägern.
Die Bereitschaft, Erfahrungsexperten einzustellen, ist unterschiedlich, denn ihre Anwesenheit ist in jedem Fall eine Herausforderung in einem Klinikalltag, der von einem klassischen Verständnis von Behandlern und zu Behandelten ausgeht. Die Erfahrungsexperten bringen sozusagen eine dritte Perspektive mit in die Kommunikation.
"Es wird ganz oft berichtet von Professionellen, in deren Team dann ein Erfahrungs-Experte ist, dass die Sprache über die anderen Klienten anders wird. Also mehr auf Augenhöhe, wertschätzender, dass man keine abfälligen Bemerkungen macht über jemand, der sich gerade nicht so gut ausdrücken kann. Das ist so ein Qualitätsmerkmal was von vielen Kliniken sehr gewertschätzt wird und weswegen diese Einbindung von Psychiatrie-Erfahrenen und von Ex-Inlern auch sehr wirksam ist."

Professionelle Nähe

Die Teams, die mit Erfahrungs-Experten arbeiten, sehen sich mit ganz anderen Fragen konfrontiert, bspw der Frage nach deren Belastbarkeit und Distanzfähigkeit, der Begriff professionelle Nähe ist hier im Unterschied zu professioneller Distanz ein wichtiges Stichwort:
"Dass ich selbst als Psychotikerin keine Angst habe, wenn jemand da sitzt, der sich an der Wand festhält oder auf den Boden setzen muss, weil alles wackelt. Das erschreckt mich nicht, weil ich weiß, das kann so sein und es geht auch wieder vorbei. Und das sind, glaube ich, Kommunikationsebenen, die da unterschiedlich sind zwischen Profis oder jemandem, der weiß, wie sich das anfühlt. Und auch weiß, was derjenige vielleicht in der Situation gerade braucht."
Der Einfluss der Erfahrungsexperten im psychiatrischen Versorgungssystem bleibt dennoch begrenzt, sie fungieren als Teil des Systems und sind als Angestellte darin auch weisungsgebunden.
Die Perspektivveränderungen, die GenesungsbegleiterInnen durch ihre Arbeit und Anwesenheit mitbringen, sind deswegen aber nicht zu unterschätzen. Die eigene schwierige Erfahrung in eine hilfreiche Ressource für sich selbst und andere umzuwandeln, wird auf lange Sicht auch helfen, Stigmatisierungen aufzulösen.
"Ja, ich glaube das ist so das geheime Pfund, was da im Hintergrund sich bewegt, denn all die Menschen, die in eine EX-IN Ausbildung gehen, haben Angehörige, haben Freunde, haben Profis, und da wird davon erzählt. Also auch die Ausdehnung - oder eben durch Genesungsbegleiter, die schon auf der Akutstation arbeiten, und dann einfach diese Möglichkeit da ist, plötzlich zu sagen: nee, ich muss mich nicht verstecken, mit dem, was ich habe, und auch wenn es gesellschaftlich noch nicht so sehr anerkannt ist - es gibt diesen Weg, mich damit aktiv zu outen und damit dann auch Geld zu verdienen."
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