Neue Sicherheitstechniken im Deichbau

Aufrüsten gegen die nächste große Flut

Die Wellen der Nordsee schlagen am 04.01.2017 in Dagebüll (Schleswig-Holstein) an einen Anleger.
Sturmfluten werden zu einer immer größeren Gefahr. © dpa
Von Achim Nuhr · 22.03.2018
In den Küstenmetropolen der Welt wächst die Gefahr durch Überschwemmungen und Sturmfluten. Städte wie Rotterdam bauen deshalb "lebende Deiche" mit integrierten Restaurants und Häusern hinter Panzerglas.
Winter 1953
"Die Nordsee hatte wieder zugeschlagen – mitleidlos. Am frühen Morgen des ersten Februar brachen die Deiche zwischen Rotterdam, Vlissingen und Antwerpen. Fast zehn Prozent des niederländischen Bodens gingen verloren. 1835 Menschen ertranken."
Rotterdam, am Amerika-Kai des alten Hafens. Seit Jahrhunderten fließen hier durch dichtbesiedelte Wohngebiete Flüsse und Kanäle, bevor sie in die nahe Nordsee münden. Weil das Wasser steigt, müsse die Küstenmetropole jetzt umgebaut werden, meint der Forscher Peter van Veelen.
"Diese Strategie, Deiche immer höher und stabiler zu bauen, wird natürlich noch eine Zeit lang helfen. Aber langfristig wird in unserer Epoche des Klimawandels und des Anstiegs der Weltmeere nur eine doppelgleisige Strategie helfen: Wir brauchen zwar weiterhin den klassischen Flutschutz. Aber wir müssen darüber hinaus lernen, mit dem Wasser zu leben. In den Niederlanden haben wir traditionell all diese großen Deichsysteme. Deshalb verschwenden die meisten Bürger keinen einzigen Gedanken an den Hochwasserschutz; sie setzen unsere hohen Sicherheitsstandards einfach bis in alle Ewigkeit voraus."

Wir müssen mit dem Wasser leben

Peter van Veelen leitet an der Technischen Universität Delft ein Forschungsprogramm für urbane Flussmündungen. An den Deltas der Flüsse wird sich die Zukunft vieler Menschen entscheiden, denn weltweit leben dort hunderte Millionen. Flutschutzsysteme müssen rechtzeitig aufgerüstet werden, um gewaltige Flutkatastrophen zu vermeiden. Auch Rotterdam muss sich verändern: Die Alte und die Neue Maas nehmen das Stadtzentrum in die Zange, und im Westen droht die stürmische Nordsee. Heute stehen im Stadtgebiet viele unauffällige Deiche, die man im Alltag leicht übersieht:
"Vor allem im Zentrum von Rotterdam dienen die meisten Deiche der städtischen Infrastruktur: Auf manchen fahren sogar Straßenbahnen und niemand käme darauf, dass diese Hügel zuerst dem Flutschutz dienen. Das macht sie aber auch verwundbar: Der öffentliche Wasserverband muss immer streng darauf achten, dass er diese Anlagen ordentlich warten kann und dass sie stets in sicherem Zustand bleiben. Sie sind nicht nur für Rotterdam sehr wichtig, sondern auch für das Umland."
Peter Van Veelen fährt am liebsten mit dem Fahrrad durch die Stadt, um nach Schwachstellen zu suchen. Auf internationalen Konferenzen zeigen seine Präsentationen zuerst große Deichpanoramen, aber sie enden mit Fotos von ein paar unscheinbaren Treppenstufen, die in ein Wohnhaus führen. Denn der 32 Kilometer lange Afsluit-Deich für den Großraum Rotterdam und die kleine Treppe erfüllen prinzipiell dieselbe Aufgabe: Sie halten Wasser auf, bevor es Schaden anrichtet. Die Kernbotschaft: In Zukunft werden nur noch breitgefächerte Flutschutz-Systeme die vielen dicht bevölkerten Küstenstädte schützen können.
"Wir brauchen weiterhin die großen Deiche, weil unser Land unter dem Meeresspiegel liegt. Aber das Wasser steigt, und die Landmasse sinkt ab. Außerdem sind konventionelle Ingenieurstechniken teuer, vor allem im städtischen Raum. Falls es gelingt, den Flutschutz in die allgemeine Stadtentwicklung zu integrieren, wird er schon mal billiger und gleichzeitig besser: Denn dann erschließt er zum Beispiel neues Bauland in begehrten wassernahen Lagen. In diese Richtung entwickelt sich nun die Gesamtstrategie für den Flutschutz in Rotterdam und den Niederlanden."

Welchen Anforderungen müssen Deiche standhalten?

Welche Deiche den zukünftigen Herausforderungen gewachsen sein werden, wird in Delft getestet. Dort steht ein Mann am Ende eines langen Wasserkanals und spricht in sein Funkgerät.
Mark Klein Breteler schaut zum gegenüberliegenden Kanalende, wo sich Wasser zu türmen beginnt. Immer höhere Wellen rollen direkt auf ihn zu, was durchaus bedrohlich wirkt. Würde das jemand überleben, wenn er hier reinfiele?
"Nein. Deshalb stehen wir hier in sicherer Entfernung auf einem Steg – aber gleichzeitig nahe genug, um die Wellen gut beobachten zu können. Wichtig ist, wie sie am Kanalende gegen die Wand schlagen: ob sie dabei Schäden verursachen, zum Beispiel Risse, oder ob die Wand hält. Okay, ein bisschen sollten wir natürlich auch auf uns aufpassen: Die höchsten Wellen können einen selbst hier noch nassmachen."

Der Wellenkanal ist 300 Meter lang, fünf Meter breit und bis zu neuneinhalb Meter tief. Er führt zuerst über eine grüne Wiese auf dem Gelände des Forschungsinstituts Deltares, das die Wellenmaschine betreibt. Die Maschine heißt "Delta Flume": "Flume" bedeutet im Englischen "Messkanal" - und "Delta" steht für die vielen Flussmündungen der Niederlande. Der "Delta Flume" produziert Brecher von maximal 4,5 Metern Höhe – das ist der aktuelle Weltrekord.
Am Ende führt der Wasserkanal durch ein großes Loch in einer Seitenwand in die Werkshalle. Die Seitenwände ragen hier zwei Meter hoch. Von seinem erhöhten Ausguck beobachtet Mark Klein Breteler, wie nun eine Welle nach der anderen auf die graue, steinerne Wand kracht. Die Mauer ragt nicht senkrecht vom Kanalboden, sondern ist in einem sanften Winkel von etwa 140 Grad geneigt – wie ein stark zurückgelehnter Autositz.
"Die Mauer hier ist eine Kopie eines sehr alten Deichs, der so in den nördlichen Niederlanden steht – wir haben ihn hier genau nachgebaut. Die Wasserbehörde möchte seine Stabilität messen."
Ein Spaziergänger läuft an der Nordseeküste bei Hooksiel (Niedersachsen) am Deich entlang und kämpft dabei gegen den Wind an.
Viel der heutigen Deiche werden den steigenden Fluten nicht mehr standhalten.© dpa / Mohssen Assanimoghaddam

Mit der Wellenmaschine lassen sich verschiedene Deichtypen testen

Mark Klein Breteler ist Fachmann für "Küstenstrukturen und vertikale Seemauern". Mit seiner Wellenmaschine überprüft er viele Deichtypen. Schon vor Jahrhunderten begannen Bauern, Steine zu sammeln und an der Küste auf zu schichten, um ihre Felder vor dem Meer zu schützen. Erst im 20. Jahrhundert wurden diese Steinhaufen nach und nach mit Beton übergossen und zu Mauern stabilisiert. Am "Delta Flume" steht jetzt ein fünf Meter breiter Nachbau eines Deichs aus Alkmaar.
"Für diesen Deich und dessen Stabilität ist die Wasserbehörde von Alkmaar verantwortlich. Laut Gesetz müssen sämtliche niederländischen Deiche alle zwölf Jahre dahin untersucht werden, ob sie extremen Ereignissen weiterhin standhalten können. Deshalb testen wir hier gerade ein außergewöhnliches Wellen-Szenario, das statistisch nur alle 3000 Jahre vorkommt. Wir können hier also unseren eigenen Sturm anrühren, auf den man draußen sehr lange warten müsste."
Extremtests alle zwölf Jahre – das alleine wird kaum reichen, um Sicherheit zu gewährleisten. An den kleinen Kontrollen vor Ort hat sich aber bisher trotz der neuen Herausforderungen kaum etwas geändert, weiß Professor Holger Schüttrumpf vom Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft der RWTH Aachen:
"Mindestens einmal im Jahr gehen die Verantwortlichen raus, sehen sich die Deichen an und prüfen, ob alles in Ordnung ist. So etwas nennt man dann Deichschau. Das zweite, was wir haben, sind die Maßnahmen im Falle eines Hochwasserereignisses: Da schickt man dann den sogenannten Deichläufer nach draußen. Der prüft, ob zum Beispiel Wasser durch den Deich durchsickert und veranlasst dann gegebenenfalls Maßnahmen. Wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, dann klappt das und dann schickt man ein Team heraus, was dann die bekannten Sandsäcke legt. Das Ganze stößt dann natürlich ein bisschen an Grenzen, weil der Deichläufer nicht zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort an einem Deich sein kann. Ein Deich kann ja leicht eine Länge von mehreren Kilometern haben."

1000 Kilometer Küste in Niedersachsen

Allein im Bundesland Niedersachsen stehen laut Landesbetrieb für Küstenschutz die Deiche auf mehr als 1000 Kilometern Länge an Küsten und Flussmündungen. Außerdem werden auch an der deutschen Nordseeküste die Deichsysteme ausgebaut. Bald könnte es nicht mehr reichen, ab und zu vor Ort vorbeizuschauen. Deshalb basteln Holger Schüttrumpf und sein Team an einem Frühwarnsystem mit dem Arbeitstitel "rechtzeitig am Deich":
"Earlydike soll uns liefern eine Verbesserung der Frühwarnsysteme. Wir wollen wissen: Was passiert im Deich selbst? Wir können gezielt warnen, wir können lokal warnen, können aber auch die Deichverteidigung an der Stelle unterstützen. Unser Auto liefert uns ja auch Signale, zum Beispiel das Signal ‚der Öltank ist leer‘. Und es macht natürlich Sinn, das Öl nachzufüllen. Und das nicht erst, wenn der Öltank leer ist und irgendwann der Motor ein Problem bekommt."
"In der Technikhalle des Instituts für Wasserbau steht scheinbar eine Miniaturausgabe des Delfter "Delta Flume". Doch hier rauscht das Wasser sogleich über den knapp zwei Meter hohen Deich in ein asphaltiertes Rückhaltebecken. Simuliert wird eine gezielte "Überflutung". Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Verena Krebs betreut den "Earlydike":
"Wir testen hier die Widerstandsfähigkeit dieses Deckwerks gegenüber Strömungsereignissen. Man sieht ja einige Messgeräte: unter anderem die Ultraschall-Sonden auf der Binnenböschung, die in der Lage sind, Wasserstände zu erfassen. Hier vorne sieht man auch ein paar Druckmess-Dosen, die unter dem Deckwerk Drucke messen und aufnehmen. Ferner wird hier vorne die Geschwindigkeit gemessen, sodass wir die Einwirkung auf das Deckwerk sehr genau beschreiben können."
Der Clou: Im Innern sind die einzelnen Deichschichten aus Sand und Kies mit "intelligentem Geo-Textil" voneinander getrennt. Die Wissenschaftler haben diese filzähnlichen Textilfolien mit Fühlern bestückt. Verena Krebs:
"Wir benutzen diese Geotextilien als Trägermaterial und sticken auf diese Textilien Sensorfasern auf. Diese Sensorfasern bestehen aus Carbonfasern und an diesen wird eine Spannung angelegt. Und zwischen zwei dieser Sensorfasern kann dann eine abfallende Spannung gemessen werden, sobald das umgebende Medium feucht wird. Die Sensoren messen eine abfallende Spannung. Das wäre ein Zeichen dafür, dass eine Feuchtigkeit im Deich gemessen wird, die an dieser Stelle im Normalfall nicht zu erwarten ist. Die Signale werden dann ausgewertet und verglichen mit anderen Daten wie zum Beispiel dem Wasserstand vor dem Deich und Hinweisen auf ein Hochwasser."

Wie müssen Deiche aufgebaut sein?

Auch diese Auswertung ist Pionierarbeit: Ab welchem Spannungsabfall wird es ernst, wann reicht eine Inspektion in ein paar Tagen, und wann droht kurzfristig ein Deichbruch? Eine solche Werteskala wird nun erstmals an der RWTH Aachen entwickelt. Holger Schüttrumpf:
"Wir haben 1962 die Sturmflut gehabt in Hamburg, und 1953 die große Sturmflut in den Niederlanden. Nach diesen beiden Sturmfluten haben wir ganz viel gelernt, wie wir Deiche bauen müssen. Und ich glaube, da haben wir einen sehr guten Standard inzwischen erreicht. Aber wir können Deiche noch sicherer machen für ein sehr, sehr seltenes Ereignis. Dazu brauchen wir diese Sensoren, um uns rechtzeitig warnen zu können."
Hamburg war von der Flutkatastrophe 1962 besonders schwer betroffen.
Hamburg war von der Flutkatastrophe 1962 besonders schwer betroffen.© imago
Rotterdam liegt rund 30 Kilometer von der offenen Nordsee entfernt. Die Hafenstadt ist aber über Kanäle und Flüsse direkt mit dem Meer verbunden. Deshalb standen hier bei der großen Flutkatastrophe von 1953 viele Häuser meterhoch unter Wasser.
Der Wetterbericht von Radio Hilversum um 18 Uhr. Über dem nördlichen und dem westlichen Teil der Nordsee wütet ein schwerer Sturm. Vermutlich wird der Sturm während der kommenden Nacht anhalten. – Der Sturm hält sich. Der Nordweststurm mit Windgeschwindigkeiten von über 180 Kilometern pro Stunde fällt mit der Springflut zusammen. An der Ostküste Englands durchbricht das Wasser an über 500 Stellen die Deiche, mehr als 300 Menschen ertrinken. Überschwemmt wird auch ein schmaler Küstenstreifen von Ostende bis Dünkirchen. Am schlimmsten trifft es aber die holländische Provinz Seeland.
"Wir stehen da und möchten weinen. Die Katastrophe ist entsetzlich. Man kann sich kaum vorstellen, wie Wasser und Wind sein können."
Eine Springflut, kombiniert mit Windstürmen und Wolkenbrüchen, verursachte damals eine Tragödie mit fast 2000 toten Menschen, über 200.000 toten Tieren und enormen Sachschäden.

Neue Wohngebiete ohne Schutz

Nach dieser Katastrophe entstanden die "Deltawerke", eines der größten Deichsysteme der Welt mit gewaltigen Bollwerken wie dem Oosterschelde-Sturmflutwehr. In den folgenden Jahren verzeichnen viele Hafenmetropolen einen großen Zulauf, die Menschen fühlen sich sicher. Gleichzeitig steigt aber an den Ufern bereits das Wasser. Es droht ein Szenario, bei dem immer mehr Menschen auf schwindenden Wohnflächen hinter immer höheren Deichen leben müssen. Neue Konzepte sollen diesen verhängnisvollen Kreislauf stoppen. Peter van Veelen:
"In Rotterdam gibt es inzwischen neue Wohngebiete zum Beispiel in der früheren Hafengegend, die von dem existierenden Deichsystem gar nicht mehr geschützt werden können. Sie liegen natürlich über dem Meeresspiegel, und bei Sturmflut wird das Maeslant-Sperrwerk geschlossen. Aber selbst dann bleibt das Hafengebiet ungeschützt gegen Flüsse, die aus dem Osten kommen und hier in die See münden. Die Flüsse verursachen zwar nicht extreme Fluten wie das Meer, aber sie können doch etwa einen Meter hoch ansteigen. Deshalb wäre die Stadt früher gesetzlich verpflichtet gewesen, zuerst einen großen Deich zu bauen, bevor hier Menschen wohnen dürfen. Aber nun werden die Gebäude anders geschützt. Das ist neu. Als Vorbild diente auch die Hamburger HafenCity."
"Der Orkan nähert sich mit Windstärke zwölf, die Behörden warnen vor einer schweren Sturmflut an der Nordseeküste. - Nun wollen wir noch eine Sturmwarnung schreiben für Norddeich Radio. – Für Hamburg jedoch erkennen sie die Gefahr nicht. Im Laufe der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 drücken die Wassermassen immer stärker auf die Stadt, Deiche brechen. Dass Autos vorbeischwammen die sonst auf den Parkstreifen standen, das haben wir dann schon gesehen. Da hat man schon gehört die Schreie."
Als die Hamburger Landesregierung einen Teil des alten Hafens für private Bauherren freigab, musste sie zuvor Gesetze ändern. Denn auch dieses Hafengebiet liegt außerhalb großer Deiche und damit der "öffentlichen Hochwasserschutzlinie", in deren Bereich die Bürger geschützt werden müssen. Stattdessen verpflichtet eine separate "Flutschutzverordnung" private Bauherren, ihre Gebäude in der HafenCity auf flutsicheren Sockeln zu errichten. Lage, Höhe und Ausstattung geben die Behörden vor. Inzwischen leben und arbeiten über 15.000 Menschen hier.

Sturmflut in der Hamburger HafenCity

Im Herbst 2017 flutete der Sturm "Herwart" die HafenCity. Obwohl Hamburg über 100 Kilometer von der Elbmündung entfernt landeinwärts liegt, drückten starke Winde das Wasser in die Stadt. Das neue Hochwasserkonzept ging auf: Dem Wasser wurde dort Raum gegeben, wo niemand wohnen darf. Bald standen öffentliche Plätze wie der Fischmarkt unter Wasser, ebenso Gebäude wie die Markthalle, die nach der Flut aus öffentlichen Mitteln gereinigt wurde.
In Rotterdam entwirft der Landschafts-Architekt Cees van der Veeken futuristische Deich-Typen, die neue Tragödien verhindern und langfristig auch gegen den Meeresanstieg schützen sollen. Sein Büro liegt mitten im Stadtzentrum am Museumpark. Bei der Begrüßung hat er gleich eine Überraschung parat:
"Der Hang, den wir hier gerade hochsteigen, ist ein Deich. Die Autos, die Fußgänger, die Radfahrer, sogar die Straßenbahn: Alle sind mitten in der Stadt auf einem Deich unterwegs, und die meisten ahnen das nicht mal. Sie wissen nicht, dass dieser Deich zum zentralen Sicherheitsring rund um den Stadtkern von Rotterdam gehört. Oben auf dem Deich ist man den Elementen am stärksten ausgesetzt."

Cees van der Veeken und sein Büro Lola-Landschafts-Architekten wurden durch ein Buch über "Hollands Deiche" landesweit berühmt: Die Autoren erfassten erstmals systematisch sämtliche Deiche und Deichtypen. Das Ergebnis war beeindruckend: Über 22.000 Kilometer beträgt die Gesamtlänge der niederländischen Küsten- und Inland-Deiche – im Vergleich sind die natürlichen Küstenlinien gerade mal 500 Kilometer lang. Viele Deiche dienen auch anderen Zwecken, zum Beispiel der Landgewinnung. Oder sie schützen als Sommerdeiche das Marschland, das bei gutem Wetter als Weideland genutzt werden kann.
"In den Niederlanden verbessern wir den Küstenschutz kontinuierlich. Für Architekten ist das ein faszinierendes Thema, weil die Deiche längst zu einem Landschaftselement geworden sind. Alle Typen sind vertreten: altertümliche Deich-Relikte, aber auch Super-Hightech-Systeme mit integrierten Sensoren, die draußen und mitten im Deich die Feuchtigkeit messen. Das fasziniert dann die Ingenieure. In den Niederlanden wird gerade über den nächsten großen Schritt diskutiert: Wie reagieren wir auf das Steigen der Weltmeere? Wie können wir uns selbst schützen, und wie können wir anderen Nationen mit unserem Wissen helfen?"
Ein Auto steht am 29.10.2017 in Hamburg während einer Sturmflut am Fischmarkt im Wasser.
Sturmtief "Herwart" in Hamburg im Jahr 2017© dpa-Bildfunk / Daniel Bockwoldt

Leben hinter Panzerglas

Der Landschafts-Architekt möchte am Ufer der Neuen Maas einen "lebenden" Deich zeigen. Der Fluss hat die Stadt schon unzählige Male überflutet. Deshalb war das Hafenviertel Nieuw Mathenesse als Wohngegend und Businessviertel lange Zeit schlecht angesehen. Das hat sich geändert. Beispiel: Die Vierhavensstraat Hier steht ein neuer, circa 800 Meter langer Gebäuderiegel aus Backstein, der offensichtlich viele Passanten anzieht. Der zweistöckige, massive Gebäuderiegel mitsamt Geschäften für Bekleidung, Einbauküchen und vieles mehr ist der Deich. Nur wohnen darf hier niemand, aus Sicherheitsgründen. Die Geschäftsmieten seien billiger als anderswo, weil die Gewerberäume irgendwann einmal während eines besonders starken Sturms geflutet werden könnten.
"Die Uferpromenade ist hoch genug, um normale Stürme abzuhalten. Und der Gebäuderiegel ist derart versiegelt, dass schon sehr viel passieren muss, bevor dort Wasser eindringt. Diese Deich-Technologie ist absolute Weltspitze, etwas Besseres findet man nirgendwo."
In der Mitte wird die Backsteinstruktur von einer Wand aus Panzerglas unterbrochen. Dahinter ist das Foyer eines großen Restaurants zu erkennen. Eine Treppe führt auf das begrünte Flachdach des Gebäudes. Von oben erkennt man, dass das langgestreckte Gebäude an beiden Enden in einen konventionellen Deich mit Grasbewuchs übergeht. Die Vorderseite bietet einen herrlichen Blick auf den Hafen. Auf der Rückseite des Deichs führen asphaltierte Wege in Serpentinen durch einen terrassenförmig angelegten Park hinunter in ein Wohngebiet. Auf den Terrassen stehen Spiel- und Barbecue-Plätze sowie ein Nachbarschaftstreff, vor dem Leute auf Bänken sitzen. Ein "Lebender Deich" – ein durchaus treffender Begriff.
In Delft tüftelt Mark Klein Breteler an seiner Wellenmaschine, wie man die Brecher in Schach hält. Inzwischen türmen sich bei ihm die Wellen schon drei Meter hoch. Er trägt keinen Friesennerz, nur Signaljacke und Helm. Den Beobachtungs-Steg hat er ein paar Sekunden zu spät verlassen und läuft nun in nassen Hosen an dem Testkanal entlang. Auf halbem Weg türmen sich die Wellen zwar auch schon hoch, aber sie brechen noch nicht. Deshalb bleibt der nächste Beobachtungssteg erstmal trocken.

Experimentieren mit dem "Doppel-Deich-Modell"

Am Rand der Halle steht ein Bürocontainer. Mitarbeiter analysieren am Computer, was das menschliche Auge nicht erkennen kann.
"Bei den Wellen muss man viele Aspekte berücksichtigen. Sie lösen komplizierte Prozesse aus, wenn sie an einem Deich brechen: Dabei entstehen zum Beispiel Luftblasen, die zunächst im Wasser eingeschlossen bleiben. Das Gemisch aus Wasser und Luftblasen wirkt je nach Wellengröße ganz unterschiedlich auf die Deichmauer ein: Bei der Computeranalyse merken wir, dass die großen Wellen den Steinen nur sanft zusetzen, aber für relativ lange Zeit. Bei den kleinen Wellen ist es umgekehrt: Das Gemisch wirkt gröber auf den Stein, aber dafür deutlich kürzer."
Der "Delta Flume" kostete rund 26 Millionen Euro, wurde zwei Jahre lang gebaut und 2015 eingeweiht. Nun arbeitet Deltares im Auftrag von Regierungen, Behörden, Institutionen wie der Europäischen Union sowie Unternehmen aus aller Welt.
Nun ist Mark Klein Breteler am anderen Ende des Wellenkanals angekommen. Hier produziert eine zehn Meter hohe und fünf Meter breite Metallplatte die Wellen, die in Richtung Versuchsdeich abgehen. Der Motor, der die Platte über Kolben hin und her bewegt, steht in einer eigenen Maschinenhalle. Bei laufendem Betrieb darf dort niemand hinein, weil das zu gefährlich wäre. Aus der Halle zischt es, als wäre eine Seeschlange eingesperrt, die schnell hinaus will in den Kanal.
"Drinnen in der Halle ist es trocken. Aber hier draußen, auf der anderen Seite, drückt das Wasser auf einer Fläche von 30 Quadratmetern gegen die Platte. Diese schwingt sieben Meter hin und her, und das im Fünf-Sekunden-Takt. Dabei werden jedes Mal 200 Kubikmeter Wasser bewegt, ein Gewicht von rund 200 Tonnen."
Am Computer kann Mark Klein Breteler programmieren, welchen Wellentyp er haben möchte. Für den niederländischen Deich produziert er heute Nordsee-Wellen: Die brechen relativ gleichförmig - nur ab und zu überlagern sich zwei und erzeugen einen größeren Brecher. Für den Nachbau eines australischen Damms wird der Forscher demnächst noch mehr Gas geben und noch größere Wellen durch den Kanal schicken als heute.
Um dem Ansteigen des Meeresspiegels und den Unwettern zu trotzen, werden im "Delta Flume" auch neuartige Deichtypen getestet: Vor und auf den Mauern sollen Pflanzen den Aufschlag der Wellen dämpfen. Beim "Doppel-Deich-Modell" bricht der erste die Wellen und der zweite stoppt das Wasser. Zwischen den Deichen kann man mit Nutzpflanzen experimentieren wie dem salztoleranten "Meer-Kohl", der geschmacklich dem Spargel entsprechen soll.

Es drohen Schäde in Milliardenhöhe

31. Januar 1953
"Die Nordsee ist wild geworden. An vielen Stellen steigen die Wellen über die Deichkronen und brechen die Dämme von der Landseite her auf. Durch bis zu 200 Meter breite Risse stürzen die Wassermassen auf das unter dem Meeresspiegel liegende Land. Die Menschen haben kaum eine Chance. Nach nur fünf Minuten steht das Wasser zehn Meter hoch - kaum Zeit für die Schlafenden, sich auf die Dächer ihrer Häuser zu retten. Es ist stockfinster, der Strom ist ausgefallen, man sieht die Hand vor Augen nicht."
Auch Peter van Veelen ist am Ende seines Rundgangs angekommen. Am Wilhelminaplatz treffen zwei ungleiche Stadtviertel aufeinander: Im Südwesten ist der alte Hafen längst gentrifiziert, das New York Hotel und das Niederländische Fotomuseum warten auf Besucher. Dagegen liegt im Nordosten am Nassaukai eine der ärmsten Gegenden Rotterdams. Hier probiert die Stadt eine lokale Flutschutz-Strategie: Neue Häuser für begüterte Bürger sollen mehrere alte Gebäude mit Sozialwohnungen schützen - zuerst nur vor Sturmfluten, dann auch vor dem ansteigenden Meeresspiegel.
"Noch stehen hier nur Sozialwohnungen. Den Bewohnern gehören sie nicht, und sie haben ohnehin andere Sorgen, als in Flutschutz zu investieren. Dort setzt die Strategie an: Wir erhöhen nicht nachträglich für viel Geld diese Sozialbauten. Stattdessen finanzieren wir aus dem Topf für Stadtentwicklung eine Erhöhung der Kaimauern. Die neuen Spundwände sind nicht so teuer, und bei dieser Gelegenheit entsteht gleich ein neuer, öffentlicher Uferboulevard. An diesem attraktiven Boulevard verkauft die Kommune attraktives Bauland, auf dem neue Apartmentblöcke entstehen sollen. Noch bleibt Zeit, diese Schritte nacheinander zu realisieren. Es eilt noch nicht. Bei der Stadtentwicklung nutzen wir nun praktisch jede Gelegenheit, die Ufer auszubauen und dabei gleichzeitig den Flutschutz zu verbessern.
Den 136 größten Küstenmetropolen der Welt drohen bald jährliche Flutschäden von rund 1600 Milliarden Euro, warnen die Weltbank und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – OECD. Rotterdam soll eine Vorzeige-Metropole werden, wie eine solche Entwicklung verhindert werden kann.
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