Neue Perspektive auf RAF-Terroristen

30.07.2010
Mit seinem gerade abgedrehten ersten Spielfilm will der bislang für seine Dokumentarfilme bekannte Regisseur Andres Veiel ein neues Licht auf das Leben der RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin werfen.
Dieter Kassel: "Wer, wenn nicht wir", so heißt der neueste Film von Andres Veiel, oder so wird er vielleicht heißen und vielleicht auch nicht, sollte ich schon an dieser Stelle sagen, denn wir wollen heute über einen Film reden, den es noch nicht gibt. Die Dreharbeiten sind fertig, der Film wird wahrscheinlich erst nächstes Jahr in die Kinos kommen, aber es gibt zwei sehr interessante Dinge an diesem Film, die dafür sorgen, dass es sich lohnt, heute schon drüber zu reden: Zum einen ist dies ein Film, der die Geschichte erzählt von Gudrun Ensslin, Bernward Vesper und Andreas Baader, aber nicht so, wie sie schon oft in Dokumentationen, in Büchern und in längeren Zeitungsessays erzählt wurde, denn er erzählt die Geschichte dieser drei Menschen in den 1960er Jahren.

Er erzählt die Geschichte von drei Menschen, bevor dann zwei davon als gesuchte Terroristen in jedem Polizeirevier auf dem Fahndungsplakat zu sehen waren. Und – und das ist bei Andres Veiel wirklich interessant – er erzählt diese Geschichte in Form eines Spielfilms. Andres Veiel ist zwar ein erfolgreicher Regisseur mit Filmen wie "Der Kick" und "Black Box BRD" ausgezeichnet, aber so gesehen jetzt doch auch wieder eine Art Anfänger. Über all das wollen wir reden, denn er ist heute bei mir im Studio. Guten Morgen, Herr Veiel!

Andres Veiel: Hallo!

Kassel: War das denn so ein Gefühl, als wenn man ein Anfänger ist, wenn man das erste Mal – Sie haben mit Schauspielern durchaus gearbeitet schon -, aber wenn man das erste Mal so einen kompletten Spielfilm dreht?

Veiel: Also es war schon so, dass es Neuland war, und ich hab am Anfang, ich weiß noch, wie wir … vor dem ersten Drehtag saßen da 80 Leute in einer Hotelhalle, die ich dann begrüßt habe, und da war mir schon klamm, wo ich dachte, was ist das jetzt für eine Maschine, die ich angeworfen habe – also ich habe die Geister gerufen, da waren sie plötzlich alle da.

Und ich habe aber dann sehr schnell gemerkt, dass es Menschen sind, die sich ganz rein begeben, denen ich vertrauen kann, und mir fällt das schwer, also ich bin ein Kontrollfreak. Normalerweise ist es so, bei einem Dokumentarfilm habe ich fünf, sechs Leute, und da achte ich wirklich ganz auf jeden, und hier musste ich abgeben.

Und das ist erst mal schwergefallen, weil ich nicht genau einschätzen konnte, wie sind die drauf, machen die wirklich das, was ich mir - in drei Jahren habe ich das vorbereitet - setzen die das um, kriechen die in meinen Kopf so weit rein, begreifen die das, was ich von ihnen will? Und habe dann schnell gemerkt, die sind eben in Vielem besser als ich.

Kassel: Waren Sie denn – Sie haben sich gerade ja selber als Control Freak bezeichnet – in der Lage, dann auch so ein bisschen loszulassen und den Schauspielern, vielleicht auch noch anderen, dieses Ausmaß an Mitarbeit zu erlauben?

Veiel: Das war eben auch eine gute Erfahrung. Ich habe ja sehr lange gecastet und habe Schauspieler gehabt, also August Diehl für Bernward Vesper, Lena Lauzemis für die Gudrun Ensslin, Alexander Fehling für Andreas Baader, die sehr selbstständig sind, die eigene Vorschläge haben und die manchmal besser waren als das, was ich mir im Drehbuch ausgedacht habe.

Ich merk das ja immer, wenn mir das so den Rücken rauf und runter läuft, wo ich gemerkt habe, an bestimmten Punkten, ja, da entsteht eine Tiefe, da entsteht etwas, was eigentlich gegen das geht, was ich ursprünglich konzipiert habe und wo ich dann verführt werde, noch mal neu zu denken. Und das ist das Schöne, gerade weil die Vorbereitung gut war, konnte ich mich verführen lassen, auch in neue Räume. Und ich habe immer wieder gestaunt.

Kassel: Warum haben Sie sich in einem Punkt das Leben so schwer gemacht, nämlich bei Ihrem ersten Spielfilm die Lebensgeschichte von drei Figuren, drei Hauptfiguren - es spielen ja noch andere eine Rolle -, zu verfilmen, die wirklich gelebt haben? Das Ganze basiert ja ein bisschen auf einem Buch. Sie haben sicherlich selber noch mal recherchiert, wie haben die gelebt. Wäre es nicht leichter gewesen, einfach drei Menschen, von denen zwei dann RAF-Terroristen wären, zu erfinden und eine völlig fiktive Geschichte zu erzählen?

Veiel: Das Spannende war ja schon in der Recherche für mich, dass ich ganz bald festgestellt habe, es gibt die Wahrheit nicht. Also ich habe eine Situation, zwei Protagonisten, die ich befragt habe: Ging darum, dass Gudrun Ensslin hochschwanger in der Klinik lag und einer der Befragten dabei war, mit ihrem Mann, und die Befragte erzählt mir, es war für sie die schrecklichste Situation, dicker Bauch und Gudrun Ensslin liegt da, es ist nach dem 2. Juni 1967, nach den Schüssen auf Benno Ohnesorg, und sie haut mit den Fäusten auf den Bauch und sagt, das war alles ein Fehler, ich hätte niemals schwanger werden dürfen. So.

Und dann ist der Mann, der auch anwesend war, der sagt, so ein Blödsinn, das hat sie nie gesagt, das Kind war überfällig, und die wollte einfach, dass der rauskommt und die hat sich wahnsinnig auf diesen Sohn gefreut. Und zwei Menschen, beide in der Situation anwesend, die zu so unterschiedlichen Erinnerungen kommen. Und das zeigt, wie schwierig das scheinbar authentisch genau Recherchierte ist, aber es gibt Freiheit.

Kassel: Das heißt, es war ein bisschen auch die Erkenntnis, ich kann über die drei gar keinen Dokumentarfilm machen, weil ich die Fakten so nicht zusammenkriege?

Veiel: Nein – ich meine, dokumentarisch wäre es möglich gewesen, wenn alle bereit gewesen wären, dann vor die Kamera zu treten, aber es waren eben sehr, sehr viele, die gesagt haben, ich möchte nicht darüber vor der Kamera sprechen, also gerade im Umfeld auch von Gudrun Ensslin. Und deshalb war für mich sehr früh die Entscheidung klar, okay, wenn jetzt eben die entscheidenden Personen entweder tot sind oder nicht bereit sind zu sprechen, dann gehe ich in die Fiktion und – und deshalb habe ich das Beispiel erzählt – es zeigt ja, wenn die Wahrheit eben so komplex und widersprüchlich ist, letztendlich gibt es die Wahrheit nicht.

Das heißt, selbst wenn Gudrun Ensslin noch leben würde und ich sie jetzt dokumentarisch befragen würde, dann würde sie ja auch nur rekonstruieren, was sie vermeintlich aus ihrer heutigen Sichtweise damals für richtig erachtet und so in Erinnerung gehalten hat. Und das gibt mir Freiheit. Es ist eine Erzählung, und in 10 oder 20 Jahren wird man vielleicht eine andere wieder machen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Andres Veiel über seinen neuen Film, der im Moment noch "Wer, wenn nicht wir" heißt. Das ist der Arbeitstitel, weil der Film auch nicht fertig ist. Er ist fertig gedreht, aber nicht fertig gemacht und kommt erst im nächsten Jahr in die deutschen Kinos.

Hatten Sie das Gefühl, dass Sie – ich denke jetzt auch schon an die Zeit vor Beginn der Dreharbeiten, beim Schreiben – dass Ihre Verantwortung jetzt vielleicht sogar noch größer ist, als sie bei einem Dokumentarfilmer ist? Denn Sie haben natürlich zum Teil Dinge erfunden, das ist ja Ihr Recht, wenn Sie einen Spielfilm drehen, aber das ist ja nichts Neues, dass ein Spielfilm gemacht wird, der auf historischen Tatsachen beruht. Das machen die von Hollywood bis zur Off-Szene immer mal wieder. Und dann passiert immer das Gleiche, dass auch intelligente Zuschauer, die es eigentlich besser wissen, denken, das ist die wahre Geschichte. Hatten Sie da nicht noch eine größere Verantwortung als jemand, der zum Teil was erfindet?

Veiel: Ja, also ich glaube, was wichtig ist, was mich interessiert hat, waren ja die tieferen Antriebskräfte, also warum ist später eine Gudrun Ensslin in den Untergrund gegangen, warum ein Andreas Baader. Und da sind es manchmal Halbsätze in der Recherche gewesen, die für mich Räume geöffnet haben.

Also beispielsweise bei Andreas Baader bin ich über einen Satz der Mutter gestolpert, die irgendwann in einem Interview gesagt hat: Der Andreas, der hatte den Mut, den mein Mann nicht hatte. So. Und dann habe ich da weiter recherchiert, und dann ist so … in der Recherche hat sich ein Bild herauskristallisiert, dass der Mann gerne Widerstandskämpfer geworden wäre, aber es eben aufgrund der Schwangerschaft der Mutter, die mit Andreas eben im Bauch zu Hause saß, diesen Schritt in den Untergrund nicht gemacht hat, dann an der Front gestorben ist.

Das heißt, es gab ein Stück weit auch den Wunsch der Elterngeneration bei Andreas Baader und bei Gudrun Ensslin ähnlich, dass die Kinder etwas zu Ende führen, was die eigenen Eltern nicht geschafft haben. Und da war plötzlich für mich eine neue Perspektive, dass es eben nicht nur ein Kampf der Kinder war gegen die angeblich faschistoiden Eltern, sondern umgekehrt, dass auch von den Eltern ein Wunsch da war, dass die Kinder etwas tun – dummerweise in einer falschen Zeit, wo man diese Art von Gewalt oder politischer Gewalt so nicht gebraucht hat, es gab nicht den historischen Rückenwind dafür. Und das waren Räume, die sich geöffnet haben, und diese, ich nenne das jetzt mal die tieferen Wahrheiten im Sinne von Antriebskräften, das hat mich interessiert.

Kassel: Sie haben etwas gesagt, was mir so als das Grundmotiv Ihrer Arbeit - vielleicht mit Ausnahmen, aber im Großen und Ganzen - erscheint, nämlich diese Suche nach der Ursache von Gewalt, das haben Sie schon – oder nach der Entstehung vielleicht von Gewaltbereitschaft besser gesagt – wiederholt im Zusammenhang mit der RAF, "Black Box BRD" natürlich und andere Versuche, bei "Der Kick" ging es um einen bestialischen Mord in der Uckermark, der ganz andere Zusammenhänge hatte, aber auch da lernt man anhand von Protokollen oder kann vielleicht lernen, wie es am Ende dazu gekommen ist. Haben Sie denn bei dieser Beschäftigung in verschiedenen Zusammenhängen selber begriffen, wie Gewalt entsteht, oder ist es am Ende doch immer noch ein Rätsel für Sie?

Veiel: Also ich gehe ja gerne, wie ich das nenne, in das Ursachengestrüpp rein, das heißt, es ist eben nicht so, dass es jetzt drei Gründe gibt und dann hat man es begriffen, sondern es ist ein ganz komplexes Bild, wo Biografie, natürlich Einfluss der Eltern, politische Notwendigkeiten, historische Zusammenhänge, aber auch Liebesgeschichten - die Peergroup würde man es heute in diesem pseudosoziologischen Begriff benennen -, also die Menschen, die um die Hauptprotagonisten herum sind, eine Wettbewerblichkeit untereinander, wer ist schneller, radikaler, wer geht weiter als der andere?

Also da kommt ein ganzes Bündel von unterschiedlichen Gründen, aber eben auch die Politik, das ist mir ganz wichtig, dass man das jetzt nicht ins psychologische Mama-Papa-Kind-Dreieck einsperrt und sagt, aha, jetzt erkläre ich politische Gewalt aus der Erziehung oder dem Elternhaus, das ist natürlich Bullshit, das so zu reduzieren.

Aber ich glaube, die Quintessenz ist, in alle Nischen und Ecken reinzugehen und dann diese verschiedenen Punkte zusammenzutragen und erst mal in einem Netz neu zu verflechten, und dann kann der Zuschauer selbst bewerten. Das heißt, es sind Angebote in diesen Netzen, wo jeder sich das entweder in der ganzen Komplexität oder in einzelnen Punkten zusammentragen kann. Und in dieser Offenheit ist es immer vorläufig.

Ich sage ja nicht, das ist es jetzt, sondern ich sage, zum jetzigen Zeitpunkt der Recherche biete ich das und das an. Und es war ja oft so, dann habe ich einen Film fertiggestellt und dann kamen sehr viele Menschen, die mir noch was zugetragen haben, mich auf Waldspaziergänge eingeladen haben und mich in manchen Punkten eines Besseren belehrt haben. Und dann gab es noch ein Buch oder es gab in irgendeiner Form …

Kassel: … wie bei "Der Kick" zum Beispiel, wo Sie dann …

Veiel: … bei "Der Kick" oder auch bei "Black Box BRD" – und es sind immer vorläufige Forschungsergebnisse.

Kassel: Wir werden rechtzeitig im Deutschlandradio Kultur verraten, wie der Film denn am Ende heißt. Wenn er "Wer, wenn nicht wir" heißt, dann gehen Sie sofort rein, wenn nicht, gucken Sie bei uns nach, ob das nicht der ist, der früher mal als Arbeitstitel so hieß. Im Moment ist das noch der Arbeitstitel des Films von Andres Veiel über Gudrun Ensslin, Bernward Vesper und Andreas Baader und viele, viele andere - monatelange Arbeit. Ist das jetzt eigentlich die Phase, frag ich mich als Regisseur, jetzt ist ja Technik und in Räumen sitzen und schneiden und Farbe abmischen und, und, und - ist das jetzt der langweilige Teil oder ist das jetzt der richtig spannende?

Veiel: Er ist anders spannend, weil jetzt in den Nuancen, wie eine Szene gebaut wird, wie lasse ich den Schauspieler das Wort noch sagen, hier habe ich einen Augenaufschlag, da zuckt die Nase, aber dafür ist er emotional klarer – also dieses feine Justieren, womit ich eine Szene entweder rund mache oder eckig und kantig stehen lasse und zu Irritationen führe, das macht den Film dann aus. Und das ist eine sehr schöne, intensive Arbeit.

Kassel: Dann wünsche ich Ihnen auch bei der Arbeit viel Spaß und viel Erfolg und danke Ihnen, dass Sie da waren!

Veiel: Danke!
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