Neue Musik auf dem selbstspielenden Klavier

Von Stefan Zednik · 27.10.2012
Das selbstspielende Klavier war das Lieblingsinstrument des Komponisten Conlon Nancarrow, der heute vor 100 Jahren in den USA geboren wurde. Er entwickelte die längst aus der Mode gekommenen automatischen Klaviere in technischer wie in klanglicher Hinsicht weiter und komponierte 40 Jahre fast nur für sich selbst.
"Conlon Nancarrows Musik ist die größte Entdeckung seit Webern und Ives. Sie vereint die amerikanische Tradition mit der Polyphonie Bachs und der Eleganz Strawinskys – für mich ist Nancarrow einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts."

So urteilte György Ligeti, nachdem er im Jahr 1980 in einem Pariser Plattenladen eine Schallplatte des Berufskollegen entdeckt hatte, die ihn umgehend zum Advokaten des musikalischen Outsiders werden ließ. Nancarrow war nicht nur durch räumliche, selbstgewählte Abgeschiedenheit ein völlig unbeschriebenes Blatt in der Neuen Musik, sondern er fiel auch mit der Wahl seines bervorzugten Klangkörpers aus dem Rahmen. Denn die meisten seiner Kompositionen sind für ein Instrument, das es seit langem nicht mehr gibt: das selbstspielende Klavier.

Conlon Nancarrow wird am 27. Oktober 1912 in dem Städtchen Texarkana im Süden der USA geboren. Zu dieser Zeit sind Musikautomaten außerordentlich populär. Sie dienen nicht nur in Gasthäusern als Ersatz für kostspielige Orchester – auch in Privathaushalten stehen oft mechanische Klaviere, die mit Gassenhauern, Klassikhits oder beliebten Opernmelodien mittels Lochstreifenrollen gefüttert werden. So auch im Haus der Nancarrows, einer konservativ-christlichen Kaufmannsfamilie.

Conlon lernt Trompete, spielt als junger Mann in Jazzcombos und Tanzkapellen. Ein in Boston begonnenes Musikstudium enttäuscht ihn, fortan bringt er sich autodidaktisch sein kompositorisches Handwerk bei. Doch das intellektuelle Zentrum Boston politisiert den 21-Jährigen, er wird Mitglied der kommunistischen Partei und schließt sich 1937 der Abraham-Lincoln-Brigade an, um im spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschismus zu kämpfen.

Das gescheiterte Unternehmen hat auch für ihn nachhaltige Folgen. Als er, zurück in den USA, einen neuen Pass beantragt, wird ihm dieser wegen seiner kommunistischen Vergangenheit verweigert. Wie viele Spanienkämpfer findet er Aufnahme im damals linksregierten Mexiko. Hier setzt er seine kompositorische Arbeit fort. Doch Versuche, die damals noch für konventionelle Instrumente geschriebene Musik aufzuführen, machen ihn zunehmend illusionsloser. Nancarrow über die Vorbereitungen zu einem Konzert im Jahr 1940:

"Es war ein Konzert mit verschiedenen Stücken, ich hatte ein Septett geschrieben. Dort waren sehr gute Musiker, die mit solcher Musik Erfahrung hatten. In der ersten Probe kamen vier Musiker, in der zweiten ebenfalls vier, davon waren aber drei neu! Sie hatten sogar einen Dirigenten, denn das Stück ist ein bisschen kompliziert. Im Konzert kamen sie einfach nicht zusammen, alle waren verloren, es war ein totales Desaster! Es gab keine einzige Probe mit allen Beteiligten!"

Nancarrow verzichtete fortan auf menschliche Interpreten, entwickelte die längst aus der Mode gekommenen automatischen Klaviere in technischer wie in klanglicher Hinsicht weiter und komponierte 40 Jahre fast nur für sich selbst. Loch für Loch stanzte er in die Papierrollen, bei bis zu 200 Tönen pro Sekunde arbeitete er für ein dreiminütiges Stück mitunter mehr als ein halbes Jahr.

Gelegentlich tauchte sein Name in Musikzeitschriften auf, er stand in Kontakt mit John Cage, die Merce-Cunningham-Compagnie verwendete seine Musik für Tanzperformances. Doch ins Bewusstsein der musikalischen Avantgarde geriet seine Musik erst durch das Engagement Ligetis. 1987 fand in Amsterdam das erste "Live"-Konzert mit einem selbstspielenden Bösendorfer-Flügel statt. Publikum und Kritik waren begeistert. Und so erntete der 1997 verstorbene Nancarrow in den letzten zehn Jahren seines Lebens den Ruhm dafür, die rhythmischen Möglichkeiten von Musik um eine Dimension erweitert zu haben.