Neue Eindrücke vom Jakobsweg

Irrwege in der glühenden Hitze

Jakobsweg: Ein Pilger auf dem mühsamen Weg nach Sahagun, Spanien, Kastilien und Leon
Ein Pilger auf dem Jakobsweg in Kastilien und Leon © imago/blickwinkel
Von Susanne von Schenck · 03.07.2016
Der Jakobsweg, der nach Santiago de Compostela in Galizien führt, ist der Pilgerweg schlechthin. Aber noch längst nicht alles ist erzählt über diesen Leidensweg. Der französische Arzt und Schriftsteller Jean-Christophe Rufin hat ein neues Kapitel hinzugefügt.
Jean-Christophe Rufin hatte nicht vor, über seinen Weg nach Santiago de Compostela ein Buch zu schreiben. Er sei ohne "spirituelle Ambitionen" aufgebrochen, sondern wolle wandern, um dabei über ein Projekt nachzudenken. Unterwegs habe er sich keinerlei Notizen gemacht, sagte der Autor im französischen Rundfunk.
Wenn etwas wichtig ist, erinnert man sich, es kommt wieder hoch. Wenn es einen nicht wirklich berührt, hilft es auch nichts, wenn man es aufschreibt. Als Pilger hat man nur die Welt und sich selbst, keine Mauern, nichts. Warum also etwas aufschreiben?
900 Kilometer wanderte er auf dem Camino del Norte, der Nordroute, die sich erst an Spaniens Küste entlangzieht und dann durch das karge kantabrische Gebirge bis nach Galicien zu dem Ort führt, an dem sich angeblich das Grab des Heiligen Jakobus befinden soll. Dann, im Winter 2013, ein gutes halbes Jahr nach seiner Rückkehr, schrieb Jean-Christophe Rufin doch ein Buch – aus der Erinnerung, wie er sagt. Denn als der Alltag seine Pilgererfahrung schon längst wieder überlagert hatte, stiegen, nach einem Gespräch mit einem befreundeten Verlegerpaar, plötzlich die Emotionen in ihm auf.

Zunehmende "Clochardisierung" wegen mangelnder Hygiene

Der Titel "Pilgern für Skeptiker" ist Programm: das Buch ist eine Mischung aus einer guten Portion Selbstironie, Rufins gelegentlichen Zweifeln angesichts der langen Strecke und unterhaltsamen Geschichten von abzockenden Herbergsvätern und einsamen Pilgerinnen. Aber vor allem ist es die Ehrlichkeit, mit der der Skeptiker Jean-Christophe Rufin beschreibt, wie ihn dieser "ewige Weg" letztendlich in seinen Bann gezogen und verwandelt hat.
"In dem Maße, wie uns das Leben formt, wie es uns mit Verantwortung und Erfahrungen belädt, erscheint es uns zunehmend unmöglich, ein anderer werden zu können zu werden und das drückende Korsett abzuwerfen, das unsere Pflichten, Erfolge und Irrtürmer für uns geschneidert haben. Der Jakobsweg aber vollbringt dieses Wunder."
Amüsant schreibt er über das wilde Campen, ihn verfolgende Hunde, über Irrwege in der glühenden Hitze. Er bewundert die Schönheit der Landschaft, nicht ohne auch auf ihre streckenweise Zerstörung durch Schnellstraßen und Industrieanlagen hinzuweisen. Auch Blasen an den Füßen und die zunehmende "Clochardisierung" wegen mangelnder Hygiene thematisiert er, um dann zu folgender Erkenntnis zu gelangen: "Die körperliche Verwandlung des Pilgers ist jedoch nichts im Vergleich zu seiner geistigen Metamorphose." Er verlässt die Küstenstrecke und stößt ins karge Landesinnere vor.
"Ich habe alle Kirchen, Einsiedeleien und Klöster besichtigt. Der spirituellste Augenblick auf der Reise war in den Bergen Asturiens, weg von der Küste hinein in die Berge. Man verliert sich, ist allein zwischen wilden Pferden und klaren Bergseen. All die vorangegangen Tagen mit ihren Entbehrungen haben einen darauf vorbereitet. Das war ist eine sehr starke spirituelle Erfahrung."
"Auf dem Umweg über den Körper und die Entbehrungen verliert der Geist sein sprödes Wesen und vergisst die Verzweiflung, in die ihn die Vorherrschaft des Materiellen über das Spirituelle gestürzt hatte, die Vorherrschaft der Wissenschaft über den Glauben, die Vorherrschaft der Langlebigkeit des Körpers über die Ewigkeit des Jenseits. Plötzlich wird er von einer Energie durchflutet, die ihn selbst erstaunt und mit der er im Übrigen nicht so recht etwas anzufangen weiß."

In Santiago beherrscht der Katholizismus die Szenerie

Längst nicht alle Pilger machen diese Erfahrungen, die Rufin hier beschreibt. Manche bewältigen die Strecke sportlich mit dem Mountainbike, andere reisen per Bus und Auto an oder kommen gar mit dem Flugzeug. Je mehr Jean-Christophe Rufin sich seinem Zielort nähert, desto voller wird es auf dem Weg. Die Herbergen werden gestürmt, und manch einer rühmt sich lautstark seiner Entbehrungen auf dem Jakobsweg. Hatte Rufin während seiner Wanderung eine Leere erfahren, die er "buddhistisch" nennt, beobachtet er, wie in Santiago de Compostela der Katholizismus die Szenerie beherrscht.
"Ich finde, das Pilgern ist nicht etwas Katholisches, sondern es ist die Quelle der Spiritualität. Wenn man in Compostela ankommt, gibt es eine tolle Liturgie, die Pilgermesse. Wer Glück hat, kann von seinem Stehplatz aus ein paar Männer sehen, die vorn im Kirchenschiff ein riesiges Weihrauchgefäß schwenken, das ist wirklich wunderbar. Ein Italiener erzählte mir später, dass die Mönche im Mittelalter diese Methode angewandt haben, weil die Pilger so stanken. Es gibt immer diese beiden Seiten, eine prosaische: es stinkt, also Weihrauch. Und die spirituelle Seite. Wie bei allen großen Initiationen geht über den Körper, und das ist gut."
Jean-Christophe Rufins Buch ist eine Einladung an seine Leser, sich auf den Weg zu machen – zu sich selbst. Pilgern sei Entspannung für Körper und Seele gleichermaßen und wirke lange nach.
"Warum schleppst du drei Pullis mit? Weil du Angst hast, dass Dir kalt wird? Warum hast du so viel Wasser dabei? Weil du Angst hast, Durst zu bekommen? Über all das denkt man nach. Und wenn man dann zuhause ist, geht dieser Prozess weiter. Ich habe zu Hause viele Sachen weggetan, die zu nichts nütze sind. Wenn man mir etwas vorschlägt, frage ich mich jetzt: willst du dir das wirklich auf den Rücken packen? Denn das, was man auf seinem Rücken trägt, ist das Leben. Es ist eine Metapher, die weiterwirkt, auch wenn man zurückkehrt."

Jean-Christophe Rufin: Pilgern für Skeptiker. Meine Reise auf dem Jakobsweg
Aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch
Knaus Verlag, München 2016
256 Seiten, 19,99 Euro

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