Neue Christen, neue Juden

Von Lioba Keuck und Étienne Roeder · 08.02.2013
Vor rund 500 Jahren wurden die Juden in Portugal zwangsweise getauft. In dem Bergstädtchen Belmonte haben sich jüdisch inspirierte Bräuche bis in die Gegenwart erhalten. Inzwischen ist diese kryptojüdische Gemeinde wieder offiziell zum Judentum zurückgekehrt.
Zu Beginn jeder Unterrichtsstunde wird erst einmal das hebräische Alphabet wiederholt. Aufmerksam lauschen die Teilnehmer der spanisch gefärbten Aussprache von Rabbiner Elisha Salas. Der Chilene hat erst vor elf Jahren aliyá gemacht und bietet nun in dem portugiesischen Bergstädtchen Belmonte jeden Mittwoch einer ausgewählten Gruppe Interessierter einen Schnellkurs im Hebräischen an. Er ist trotz hohem Tempo geduldig und belohnt jeden noch so kleinen Erfolg seiner Schüler mit einem herzlichen Lachen.

"Ich liebe das Hebräische, weil es die Neuronen im Kopf zum Arbeiten bringt", schwärmt der agile Rabbi leidenschaftlich. In insgesamt vier Unterrichtseinheiten sollen die Teilnehmer sich mit der neuen Sprache und Grammatik vertraut machen und schließlich auch Grundkenntnisse im Sprechen des Hebräischen erlangen, die ihnen dann den Umgang mit jüdischen Touristen erleichtern soll. Denn seit hier die letzte kryptojüdische Gemeinde Portugals zum offiziellen Judentum zurückgekehrt ist, kommen die immer zahlreicher in das gerade einmal 3000 Einwohner zählende Städtchen am Rande der Serra da Estrela, dem Sternengebirge. Dieser Prozess war historisch so einmalig, dass hier nun auch das einzige Jüdische Museum des westeuropäischen Landes steht.

Belmonte liegt leicht erhöht auf einer Bergkuppe, die Mittelalterburg thront über der Landschaft und seit 15 Jahren auch die Synagoge Beth Eliahu. Die Synagoge steht symbolisch genauso für das neue Selbstbewusstsein der Juden Belmontes wie ihr engagierter Rabbiner, der hier im Ort hohes Ansehen genießt. Das Potenzial, das die jüdische Geschichte des Ortes birgt, haben Stadtverwaltung und Bürgermeister schnell erkannt. Sie waren es schließlich auch, die den Rabbiner gebeten haben, diesen Kurs im sonst strukturschwachen Nordosten des Landes anzubieten.
Seit dem Mittelalter wurde hier kein Hebräisch mehr unterrichtet. "Unser Herr Rabbi", wie ihn die mehrheitlich katholischen Teilnehmer des Kurses liebevoll nennen, erklärt warum das so war:

"Nachdem die Juden 1492 aus Spanien ausgewiesen wurden, kamen viele von ihnen hier nach Portugal. Als der portugiesische König Don Manuel einige Jahre später die spanische Königstochter Isabel heiraten wollte, stand er jedoch plötzlich vor einem Dilemma. Isabel kündigte nämlich an, keinen Fuß auf portugiesischen Boden zu setzen, solange die Juden noch hier verweilten. Da Manuel nicht den gleichen Fehler begehen wollte wie die spanischen Könige, die alle Juden ausgewiesen hatten, erdachte er sich kurzerhand eine List. Er ließ alle zwangsweise taufen und konnte sich somit sicher sein, dass sie blieben."

Die Zwangskonversion hatte weitreichende Folgen, schließlich betraf sie gut 100.000 Personen, damals ein gutes Zehntel der Gesamtbevölkerung des kleinen Landes. Durften die Juden vormals weder Land erwerben, noch Häuser bauen oder ihren Beruf frei wählen, so folgte dem anfänglichen Schock der Taufe dann jedoch tatsächlich eine Verbesserung ihrer Lebenssituation. Rabbi Elisha Salas erklärt, welche Folgen das für die portugiesischen Juden hatte.

"Als die Juden nun zwangskonvertiert wurden, änderte sich die Situation für sie schlagartig, sie wurden mit einem Mal als gleichwertige Bürger der Gesellschaft anerkannt. Nun durften sie mit einem Schlag alles, was ihnen vormals verboten worden war. Und da merkten sie natürlich, dass es gar nicht so schlimm war Christ zu sein, denn sie konnten ja zuhause im Geheimen weiterhin ihren jüdischen Bräuchen folgen. Für die Gesellschaft, in der Kirche, da waren sie Christen – Sogenannte Neue Christen. Alle, die heute Nachfahren dieser neuen Christen sind, haben jüdische Wurzeln."

Ganz so unproblematisch war die Konversion damals jedoch nicht und so hat sich bei den meisten der Nachfahren von Konvertiten das Bewusstsein ihrer jüdischen Herkunft über die Generationen hinweg verloren. Zu stark waren der gesellschaftliche Druck und die Angst vor Verfolgung und so wurde der Makel der Herkunft verschwiegen, vermieden und verleumdet. Nur hier in Belmonte, einem kleinen unbedeutenden Ort in den schwer zugänglichen Bergen, erhielten sich die jüdisch inspirierten Bräuche bis in die Gegenwart.

"Kurz nach der Zwangskonversion wussten die Leute noch, was es heißt jüdisch zu leben, sie wussten, wer zur Gemeinde gehört. Doch ohne Rabbiner und Talmud verlor sich das von Generation zu Generation immer mehr. Die zweite Generation wusste weniger darüber, die dritte noch weniger und die siebte Generation. Die wusste schließlich gar nichts mehr. Mit Ausnahme von Belmonte gab es im ganzen Land keine Gemeinden mehr und in 300 Jahren ist das ganze Wissen verloren gegangen. Auch hier. Bevor wir Rabbiner hierher kamen, hatten die Leute kaum Kenntnis vom Judentum. Für sie waren alle diese Bräuche eigentlich nur die Traditionen, die sie von ihren Eltern übernommen hatten. Sie durften ja nichts nach außen dringen lassen. Die jüdische Identität wurde zur Familienangelegenheit. Die Frauen hielten die Gebete lebendig, die sie von ihren Müttern gelernt hatten und die Väter gaben dem ganzen dann einen Namen und verrieten ihren ältesten Söhnen erst auf dem Sterbebett, dass sie Juden waren. Und heute gibt es wirklich Personen, die kommen zu mir und sagen: 'Ich weiß zwar, dass ich Jude bin, aber ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll.' Diese Person muss nun natürlich erst wieder lernen, was es heißt jüdisch zu leben. Und genau das ist meine Arbeit hier."

Neben den Museumsmitarbeitern und Reiseveranstaltern sitzen sich demnach auch einige Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Salas Unterricht. Der Präsident Antonio, sowie sein Cousin Joao – beide nicht mehr die jüngsten - legen ihre Stirn in Falten. Ist es für alle anderen das erste Mal, dass sie von einem orthodoxen Rabbiner unterrichtet werden, so sind die Gemeindemitglieder von Belmonte es bereits gewöhnt von ihm zu lernen, was es heißt jüdisch zu leben. Denn seit die Gemeinde von Belmonte 1988 aus dem Schatten der Geschichte getreten ist, sich also offiziell als jüdisch bezeichnete, geben sich die verschiedenen orthodoxen Rabbiner in Belmonte die Klinke in die Hand. Sie kommen vornehmlich aus Israel und haben sich zum Ziel gesetzt, den portugiesischen Kryptojuden den Weg zur Halacha zu weisen. Die örtliche Tradition weicht nämlich mitunter stark davon ab, was der eine oder andere Geistliche gewohnt ist.

Mit ihren 25 Jahren ist Monica, die ebenfalls hebräisch lernt, eines der jüngeren Gemeindemitglieder. Sie gehört zu der Generation, die anders als die Älteren in ein dynamisches und selbstbewusst nach außen getragenes Judentum hineingewachsen ist.

"Die Juden hier in Belmonte hatten über die Jahrhunderte hinweg vor allem eines: Angst. Das hat zum einen dazu geführt, dass sie sich gegenüber äußeren Einflüssen ziemlich abgekapselt haben. Andererseits war es diese Abkapselung, der wir es zu verdanken haben, dass es nach der Verfolgung durch die Inquisition hier überhaupt noch Juden gibt. Heute muss niemand mehr Angst haben offen zu sagen, dass er oder sie jüdisch ist."

Seit gerade einem halben Jahr läuft der Laden von Monica und er läuft gut. Mazal Tov prangt groß auf einem schweren Holzbalken über dem kleinen Geschäft in der Judiaria, dem historischen Judenviertel von Belmonte. Die großen, schweren Steine, aus denen die Häuser hier in den Bergen traditionell gebaut wurden, verleihen dem Geschäft mit der ausladenden Käsetheke einen Hauch von Mittelalter. Auf einem kleinen Podest, gleich neben dem koscheren Rotwein "Terras de Belmonte" zeigt Monica auf ein paar Lämpchen aus Silber.

"Das sind die Shabatlampen, die über die Jahrhunderte hinweg freitagabends entzündet wurden. Und da ja niemand mitbekommen durfte, dass die Neuen Christen immer noch Juden waren, haben die Leute sie im Wandschrank versteckt. Ich kann mich noch erinnern, wo meine Großeltern sie immer versteckt haben. Man wusste hier unter den Einwohnern Belmontes zwar immer, wer Jude war und wer nicht, aber man hat darüber nicht geredet, es war wie ein offenes Geheimnis."

Was schließlich dazu geführt hat, dass die Juden Belmontes nach ihrer Entdeckung vor 100 Jahren noch so lange brauchten um sich selbstbewusst zu ihrer Religion zu bekennen erklärt Rabbi Salas:

"Erst mit dem Ende der Diktatur 1974 schuf die Demokratie das geistige Klima sich wieder zu öffnen und mit den Nelken der Revolution blühte auch langsam wieder das jüdische Leben in Belmonte. Doch was es genau hieß, jüdisch zu leben, das hatte sich ja über all die Zeit verloren. Für die Kryptojuden war Belmonte die Welt, man kannte keine andere Form den Glauben zu leben. Und da mussten sie das erst mal lernen."

Am nächsten Tag muss der Rabbi für die 120-köpfige Gemeinde schächten. Antonio, der Gemeindepräsident und dessen 70-jähriger Vater fahren ihn zu einem entlegenen Hof, irgendwo in den portugiesischen Bergen. Die einstündige Fahrt führt über buckelige Sandwege, vorbei an zerfallenen Häusern und Dörfern ohne Ortsschild, immer im Blick: das Sternengebirge.

Als seien sie auf der Flucht, rasen die drei Männer durch die Landschaft, wirbelt ihr Wagen so viel Staub auf, dass es fast unmöglich ist, zu folgen. Irgendwann wird der Wagen langsamer, biegt ab und ein älterer Herr mit sonnengegerbten Händen und schmalen Augen öffnet das schwere Eisentor zu seinem Hof. Der Rabbiner muss viel Einfühlungsvermögen an den Tag legen, denn am liebsten wäre es allen, wenn keiner davon wüsste, dass er hier schächtet.

"Lange bevor es hier wieder Rabbiner gab, haben die Alten hier auf dem Land, versteckt vor den Augen der Christen, immer geschächtet. Denn man wusste hier schon noch, dass die Gemeinde nur geschächtetes Fleisch essen durfte. Doch das Wissen darüber, wie man das genau macht, hat sich mit der Zeit auch hier verloren. Also haben sie irgendwann nur noch Fisch gegessen. Über Jahrhunderte hinweg. Zuhause allerdings haben sich einige Bräuche über all die Jahre erhalten können, zum Beispiel haben sie den Shabbat begangen. Auch, wenn jemand starb oder zu Yom Kippur trafen sie sich außerhalb der Stadt, um nicht entdeckt zu werden. Die Königin Esther zum Beispiel ist hier besonders bei den Frauen über Generationen hinweg verehrt worden."

Ein wesentliches Merkmal der jüdischen Tradition Belmontes war es, biblischen gestalten, mit denen sich besonders die Frauen identifizierten, christliche Züge zuzuschreiben. Und so vermischten sich Elemente beider Religionen, beteten sie über Jahrhunderte zur "Rainha Santa Esther" der heiligen Königin Esther. Ganz besonders die Frauen hatten mit der mündlichen Weitergabe der Psalme, die allerdings nicht auf Hebräisch, sondern nur auf Portugiesisch erhalten blieben, maßgeblich dazu beigetragen, ein Bewusstsein jüdischer Identität über all die Jahrhunderte zu bewahren. Mit der Öffnung und Gründung der Gemeinde in den 80er-Jahren waren es dann auch die Mütter und Großmütter, die sich mit den größten Umwälzungen konfrontiert sahen. Der erste Rabbiner, der sich der Gemeinde annahm, war damals geschockt. Niemand sprach hebräisch und diverse andere Vorschriften, die sich in der Halacha finden, waren den Leuten komplett unbekannt. Der Lernprozess, bei dem eine Tradition eine andere ersetzt, heißt hier obra do resgate, zu deutsch "Befreiungs- oder Bergungsarbeit". Rabbi Salas bäckt donnerstags in der örtlichen Bäckerei persönlich das Brot für den Shabbat. Fast täglich besucht er die Weinkellerei im benachbarten Covilha, er zertifiziert die koscheren Käse und ist unermüdlich dabei, für die Gemeinde in Belmonte die möglichst besten Bedingungen dafür zu schaffen nach halachischem Gesetz leben zu können.

Wer nicht wie hier in Belmonte anhand der Inquisitionsdokumente nachweisen kann, dass er jüdische Wurzeln hat, muss einen formalen Prozess durchlaufen. Der "Retorno", portugiesisch für Rückkehr, kommt einer erneuten Konversion gleich.
Jorge Neves, ein Gemeindemitglied aus der weit größeren Hafenstadt Porto, hat an einer Rückkehr im Jahre 2007 teilgenommen.

"Es war uns schon immer wichtig, den Retorno nicht als Konversion zu verstehen. Ich meine, das ist schon paradox, wir hier sind Marranen, also Nachfahren von Juden, die im Mittelalter getauft wurden. Da müssen wir zu gar nichts konvertieren, wir kehren eher zurück nach Eretz Israel. Wir waren hier in Porto damals 2007 die ersten, die in einem orthodoxen Prozess zurückgekehrt sind. Dafür sind wir extra nach Israel gereist. Und unter der Aufsicht von drei Rabbinatsrichtern, die sozusagen Gottes Präsenz repräsentieren, mussten wir dann alle Aufnahmebedingungen auf einmal erfüllen. Die Beschneidung hatte ein Arzt aus Lissabon bereits durchgeführt, aber die BarMizvah, die man ja eigentlich mit 13 oder 14 macht, mussten wir dort nachholen. Außerdem mussten wir, damit das alles anerkannt wurde, auch noch mal heiraten."

Die Juden Belmontes haben ebenfalls ein weiteres Mal geheiratet, auch wenn sie dafür nicht nach Israel reisen mussten. Nachdem sie noch in den 80er-Jahren in einer zur Synagoge umfunktionierten Scheune geheim jüdisch heirateten, mussten sie sich auch im Standesamt und der Kirche das Ja-Wort geben. So war es über Jahrhunderte hinweg üblich, um den Schein aufrecht zu erhalten. Als nun die Rabbiner kamen und begannen das Judentum zu predigen, heirateten sie ein viertes Mal.

Zuhause werden die überlieferten Gebete und Psalme jedoch weiterhin gepflegt. Und das auch und vielleicht auch gerade, weil in der orthodoxen Synagoge von Belmonte vornehmlich die Männer den Kult leiten. Auf Hebräisch. Mit den Alten sterben die kryptojüdischen Bräuche und ihre Gebete nun langsam aus. Die Tradition, die hier über Jahrhunderte das Bewusstsein einer jüdischen Identität am Leben hielt, macht nun der neuen Religion Platz. Dem orthodoxen Judentum.

"Aqui me encosto, aqui me deito. Aqui é a minha cama, aqui é o meu leito. Seja Adonai, seja Abraao. Os Anjos do senhor comigo estarao. Amen. Senhor, ao ceu vá ao ceu chegue!"