Neu im Kino

Unfassbarer Überlebenskampf

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Regisseur Pepe Danquart und die Hauptdarsteller von "Lauf Junge lauf", Andrzej (links) und Kamil Tkacz © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Von Hans-Ulrich Pönack · 16.04.2014
Im von der Wehrmacht besetzten Polen lebt ein kleiner Junge monatelang allein im Wald, gejagt von den Nazis. Regisseur Pepe Danquart gibt eine filmische Schulstunde, die lange im Gedächtnis bleibt.
Es gibt Filme, die vertragen keine herkömmliche Filmkritik-Betrachtung. Die stehen emotional packend = gedanklich traurig und wütend so für sich da. Deren politische Wucht und menschliche Empörung ist dermaßen enorm, dass die Form, also Gestaltung und Inszenierung, zweitrangig ist. Und auch vorab: "Lauf Junge lauf" gehört künftig in die filmischen Schulgeschichtsstunden. Zum Diskutieren und als historische Verbrechensaufarbeitung dringend wie nachhaltig empfohlen.
Zu den Fakten: Sein Name Yoram Fridman. Als die Deutschen Polen überfallen, ist Yoram, der damals noch Strulik heißt – die Koseform von Israel – fünf Jahre alt. Er wird mit seiner Familie aus ihrem Heimatdorf Blonie, das für den Film in Breslau (im heutigen Wroclaw) nachgebaut wurde, ins Warschauer Getto deportiert. Im Sommer 1942, als die Massendeportationen beginnen, schmuggelt ein polnischer Bauer, der Abfallkübel aus dem Getto holt, den knapp neunjährigen Jungen auf seinem Fuhrwerk an den deutschen Wachen vorbei. Bringt ihn in den Wald. Zu einer Gruppe jüdischer Kinder. Der unglaubliche, unfassbare Überlebenskampf des jüdischen Jungen beginnt. Wäre dies eine fiktionale Geschichte, würde man sie für "nicht glaubwürdig" abtun. Doch sie ist passiert. Beschämend "so" geschehen. Wobei der Film diese nicht chronologisch nacherzählt, sondern mit Rückblenden erklärt.
Ein kleiner Junge lebt wochen- und monatelang allein im Wald. Zieht von Gut zu Gut, arbeitet für die Bauern. Als seine Hand beim Antreiben der Pferde, die die Dreschmaschinen bewegen, zwischen die Mahlräder gerät und seine Finger zermalmen, weigert sich ein polnischer Arzt im Krankenhaus, das Kind zu behandeln. Weil er es für "jüdisch" hält. Als der Chefchirurg den Jungen am nächsten Morgen sieht, kann er ihm nur noch den Arm amputieren. Weil der die Behandlung ablehnende (junge) Arzt den kleinen Strulik, der sich jetzt "arisch" Jurek nennt, an die Gestapo verrät, muss der Junge wieder zurück. In die Wälder. Allein. Bis zum Kriegsende kämpft er sich durch. Als Hühnerdieb und Erntehelfer. Inmitten des Erwachsenenwahns, ein Kind zu jagen, um es zu vernichten.
Rührend, kitschig, disharmonisch
Der Film ist schlicht und bieder erzählt. Als ein trauriges "Huckleberry Finn"-Abenteuer in schlimmen Zeiten. Mit kindlichen rührenden Großaufnahmen. Musikalisch kitschig untermalt. Konzertant als Getöse begleitet. Die Bedrohlichkeiten, also Schmerzen und Angst, eher abschwächend. Das Fürchterliche wird in nur wenigen Motiven deutlich. Nahe. Berührend. Etwa wenn die widerwärtigen Höflinge der Nazis auftreten. Wie dieser junge Arzt, der aus Karrieregründen seinen Eid "vergisst". Oder wenn ein SS-Oberst eine zwar eklige, aber immerhin doch auch etwas "differenzierte Person" andeutet. Und sich nicht nur als plumpes Nazi-Abziehbild von Ungeheuer vorzeigt.
Am Schluss allerdings wird es gänzlich "disharmonisch". Ein junger israelischer Amtsträger holt den Jungen nach Kriegsende aus seiner Pflegefamilie, wo er inzwischen liebevoll umsorgt aufgenommen und gut behütet ist, um ihn in ein jüdisches Waisenhaus zu transportieren. Weil der Staat Israel nun auf "solchen Nachwuchs" setzt. Dem Jungen wird erst keine Wahl gelassen, dann aber doch. Das Bild und vor allem der gedankliche Ton versagen hier gänzlich. Die Abholung des Jungen sieht wie eine weitere Verschleppung aus. Ist zwar offensichtlich anders gemeint, kommt aber ziemlich ungut rüber. Ist geradezu unangenehm inszeniert. Mit diesem aggressiven "jüdischen Befehlshaber".
Ein schwacher starker Film. Dessen Wahrheit beziehungsweise Wahrheitsgehalt auch heute wieder fürchterlich erschreckt. Was imponiert. Zum Nie-Vergessen. Und wichtigen Immer-Wieder-Erinnern. Deshalb empfehle ich den Film nachhaltig. Auch, weil die Zwillingsbrüder Andrzej und Kamil Thacz, die sich die Rolle des introvertierten, sensiblen wie draufgängerischen Jungen teilen, in ihrer Körpersprache den seelischen Horror unangestrengt-überzeugend wie grausam zu vermitteln verstehen. Und deshalb lange im entsetzten Gedächtnis bleiben – werden.

"Lauf Junge lauf" von Pepe Danquart (D/Fr/Polen 2013; B: Heinrich Hadding, nach dem gleichnamigen Roman von Uri Orlev und der Lebensgeschichte von Yoram Fridman, unter Mitarbeit von Pepe Danquart; K: Daniel Gottschalk; M: Stéphane Moucha; 108 Minuten)

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