Netzwerk Wissenschaftsfreiheit

Gibt es eine "Cancel Culture" an den Universitäten?

09:34 Minuten
Illustration: Diskussion in einer Gruppe von verschiedenen Menschen mit leeren Sprechblasen.
Steckt der Dialog in einer Krise? Ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern sagt ja. © picture alliance/Zoonar/scusi
Andreas Frings im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 04.02.2021
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Rund 70 Wissenschaftler klagen über ein Klima der Intoleranz an den Universitäten und haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, um dem entgegenzuwirken. Der Historiker Andreas Frings kann den Befund nicht nachvollziehen.
Rund 70 Wissenschaftler haben eine Initiative gegen angebliche Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit und eine aus ihrer Sicht falsch verstandene Political Correctness gegründet. Vielerorts sei an den Universitäten ein Klima der "Cancel Culture" entstanden, in dem abweichende Positionen und Meinungen an den Rand gedrängt und moralisch sanktioniert würden, erklärt die Initiative "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit". Sie will sich nun gegen die "zunehmende Verengung von Fragestellungen, Themen und Argumenten" in der akademischen Forschung wenden.

Ein Manifest mit drastischer Sprache

Der Mainzer Historiker Andreas Frings sieht im Manifest der Initiative eine "unangemessene Dramatisierung": "Da ist davon die Rede, dass der Freiheit von Forschung und Lehre wissenschaftsfremde Grenzen gesetzt werden, dass ein Konformitätsdruck erzeugt wird, dass Debatten im Keim erstickt werden, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erheblichem Druck ausgesetzt sind und Forschungsprojekte verhindert werden."
Bei der "Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit" falle ihm zuerst die Situation von Wissenschaftlern in Ungarn, Polen oder Weißrussland ein - und nicht die deutsche Diskussion um "Cancel Culture", sagt Frings. Die Initiatoren des neuen Netzwerks hätten schließlich wegen ihrer wissenschaftlichen Positionen niemals vor Gericht gestanden und seien zudem als Beamte in ihrer dienstlichen Stellung unangreifbar, schreibt Frings auf seinem Twitter-Account. Das Manifest des Netzwerks verwende eine drastische Sprache, betont der Historiker. Es werde ein manichäisches Bild gezeichnet, als ob die Wissenschaften in Deutschland kurz vor dem Untergang stünden.

Virologen und Klimaforscher erhalten Morddrohungen

Wenn man über Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland rede, müsse man eher über die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen, "die immer wieder, und manche von ihnen täglich, mit Morddrohungen zu tun haben. Und da würde ich zu allererst an die Virologinnen und Virologen denken, die sehr heftig angegriffen und zum Schweigen gebracht werden sollen, oder an Klimaforscher." Ein weiteres Beispiel sei der Angriff auf die Feministische Bibliothek der Universität Mainz vorletztes Jahr. "Mein Eindruck ist, dass im Manifest die falschen Phänomene angesprochen werden."
Natürlich gebe es strategische Überlegungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wenn sie über die Finanzierung künftiger Forschungsprojekte nachdächten, sagt Frings. Da könne es durchaus zu einer Selbstkonformisierung kommen, um die nötigen Gelder zu akquirieren:

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse an den Universitäten

"Ich sehe aber einen viel größeren Druck der Selbstkonformisierung in prekären Beschäftigungsverhältnissen an den Universitäten. Das ist ein seit vielen Jahren diskutiertes Problem, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die noch keine Professur haben, oft in immer wieder auf ein Jahr befristeten Verträgen lehren und forschen und darüber nachdenken, was sie im Umfeld ihres Arbeitsbereichs äußern, weil das dazu führen kann, dass der Vertrag nicht verlängert wird." Die Kritik an dieser Art von Selbstkonformisierung vermisse er im Manifest des Netzwerks.
(rja)
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