Neskovic: Vorratsdaten helfen nicht bei Strafermittlungen

Moderation: Ernst Rommeney und Michael Groth · 12.05.2012
Mit der Vorratsdatenspeicherung werde "das Misstrauen gegen alle Bürger institutionalisiert", meint der Rechtspolitiker Wolfgang Neskovic von der Linken-Bundestagsfraktion. Bei den Ermittlungen gegen die Zwickauer Terrorzelle hätte das Verfahren ohnehin nichts gebracht.
Deutschlandradio Kultur: Mit Wolfgang Neskovic, dem Justiziar und Rechtspolitiker der Bundestagsfraktion Die Linke sprechen heute Ernst Rommeney und Michael Groth.

Seit 2005 ist er Abgeordneter des Wahlkreises Cottbus-Spree-Neiße und zuvor war er Richter - erst am Landgericht Lübeck, dann am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Bereuen Sie es, nicht mehr Richter zu sein?

Wolfgang Neskovic: Das kann ich nicht eindeutig mit Ja und Nein beantworten. Als Richter hat man ein hohes Maß an Unabhängigkeit. Das habe ich mir auch in der Politik bewahrt, aber in der Politik ist das ein Problem, sich Unabhängigkeit zu bewahren, weil Unabhängigkeit bedeutet, dass man auch bei allen Fragen sich nicht an Strömungen hält, sondern immer die Sachfrage zum Gegenstand seiner Beurteilung und seiner Meinungsbildung macht. Das ist in der Politik auf Dauer nicht durchzuhalten.

Deutschlandradio Kultur: Viele Politiker sind Juristen. Aber wenn man sich den juristischen Sachverstand in der Politik anschaut, dann wachsen einem ja doch manchmal die grauen Haare. Geht Ihnen das auch so?

Wolfgang Neskovic: Das ist völlig korrekt. Das ist die andere Seite, die ich eben beschreiben wollte. Wenn ich im Rechtsausschuss die Diskussionen erlebe, dann erschreckt es mich, auf welchem fachlichen Niveau dort diskutiert wird. Als Richter hat es mich immer bewegt, dass wir handwerklich häufig schlechte Gesetze bekommen haben. Und ich habe jetzt einen Erlebnisbericht, wie so etwas stattfindet.

Das liegt nicht daran, dass auf der handwerklichen Seite schlechte Entwürfe ins Parlament kommen, sondern das liegt weitgehend daran, dass dann im Parlament irgendjemand noch einen Absatz 3 oder einen Absatz 4 in ein Gesetz aus irgendwelchen Gesichtspunkten einflicht. Und das passt dann nicht mehr in den rechtlichen Zusammenhang.

Das heißt also, die Fähigkeit, auch Gesetze handwerklich richtig zu machen, ist im Parlament nicht besonders ausgeprägt. Gute handwerkliche Gesetze kriegen wir eigentlich nur, wenn wir gute Juristinnen und Juristen in den Ministerien einstellen.

Deutschlandradio Kultur: Nun tritt ja eine neue Bewegung auf, nämlich die Piraten. Sie haben sehr viel Erfolg. Aber auch die Piraten verkünden auf der einen Seite die Freiheit, auf der anderen Seite haben sie so ihre Probleme mit den althergebrachten Rechten. Macht Sie das schaudern oder finden Sie das eher eine Chance, dass die anders diskutieren?

Wolfgang Neskovic: Das sehe ich eher als Chance, weil ich diesen Politikbetrieb hier in Berlin als sehr verkrustet empfinde. Neue Ideen, neue Vorstellungen, auch neue Fragen zu stellen, auch die sogenannten dummen Fragen zu stellen, ist unbedingt notwendig, um diesen verkrusteten Betrieb aufzulockern. Also, allein auf der Ebene haben die Piraten schon von ihrer Art des Denkens meine Sympathie.

Deutschlandradio Kultur: Sie waren erst Sozialdemokrat. Sie waren Grüner. Nun sind Sie parteilos. Sie arbeiten aber als Abgeordneter in der Fraktion der Linkspartei. Warum treten Sie nicht ein?

Wolfgang Neskovic: Also, ich bin mit Herz und Seele Sozialdemokrat gewesen und habe eben erleben müssen, dass zu Beginn der 90er-Jahre sich die Sozialdemokratie von wesentlichen Grundprinzipien verabschiedet hatte. Es war der Auslandseinsatz deutscher Soldaten. Es war der "Große Lauschangriff". Und es war die faktische Abschaffung des Asylrechts. Das waren für mich drei zentrale Punkte, die meine politische Überzeugung tragen. Und in einer Partei, die sich so von wesentlichen Grundsätzen auch ihrer Geschichte verabschiedet, wollte ich nicht länger bleiben.

Ich habe mich dann entschlossen, 1995 zu den Grünen zu gehen. Und durch den Kosovo-Krieg haben die Grünen auch einen ihrer zentralen Grundsätze verraten. Und ich muss sagen, nachdem ich mich zweimal geirrt hatte, wollte ich mit meiner eigenen Irrtumsanfälligkeit selbstkritisch umgehen und meinte, ich müsse mir einen solchen erneuten Irrtum nicht nochmal antun, und habe deswegen darauf verzichtet, in die Partei der Linken einzutreten und habe das auch so immer wieder erklärt. Und man hat das auch akzeptiert.

Deutschlandradio Kultur: Aber auch diese Partei Die Linke holt ja immer wieder die Vergangenheit ein, zuletzt bei Joachim Gauck, wo die Linke ja eine gewisse Aversion pflegt, auch gegenüber den Opfern des alten Regimes, so als sei sie immer noch die Staatspartei. Macht Ihnen das auch Schwierigkeiten, dass man da nicht zu einer klareren Haltung kommt?

Wolfgang Neskovic: Also, Gauck ist ein völlig verfehltes Beispiel. Gauck ist jemand, der den Bereich, der mich auch dazu gebracht hat, überhaupt zu den Linken zu gehen, überhaupt nicht im Visier hat. Er hat nicht erkannt, dass eigentlich das Erbe der Französischen Revolution darin besteht, Freiheit und Gleichheit miteinander zu verbinden, zu erkennen, dass es ohne Freiheit keine Gleichheit und ohne Gleichheit keine Freiheit geben kann.

Und jemand, der so offenkundig das Thema soziale Grundrechte oder das Thema des Sozialstaates überhaupt vernachlässigt und nicht diesen untrennbaren Zusammenhang zwischen Gleichheit und Freiheit erkennt, ist jemand, den ich nicht wählen kann, jemand, der den Afghanistankrieg befürwortet und der auch sonst in diesem Bereich wenig Bereitschaft erkennen lässt.

Da spielt es für mich überhaupt keine Rolle, wie es gewesen ist, dass er nun die Gauckbehörde geleitet hat, das ist für mich kein Thema und für viele andere auch nicht, sondern es ist diese völlige Verkennung des Zusammenhangs zwischen Freiheit und Gleichheit.

Deutschlandradio Kultur: Da gibt's nicht alte Rechnungen zu begleichen?

Wolfgang Neskovic: Also, ich kann das für mich eindeutig ausschließen und für viele andere meiner Fraktion auch, aber ich kann natürlich nicht für jeden reden.

Deutschlandradio Kultur: In der Führungsriege der Linken geht's ja drunter und drüber. Ein Ergebnis sind - zumindest in westdeutschen Bundesländern - auch ziemlich schlechte Wahlergebnisse, in Schleswig-Holstein zum Beispiel. Andererseits - beispielsweise in Thüringen, in den Kommunalwahlen - legt die Partei zu.

Stehen wir da vor einem abermaligen Trennungsstrich, dass sich die Partei tatsächlich so als Ostpartei wieder etablieren sollte?

Wolfgang Neskovic: Es gibt drei inhaltliche Themen, die uns alle in Ost und West einigen. Das eine ist das Thema des Schutzes des sozial Schwachen, das ist die Sozialpolitik. Das zweite ist die Benachteiligung Ostdeutschlands und das dritte ist die Friedenspolitik. In diesen drei Bereichen gibt es keinen Trennstrich.

Es gibt allerdings unterschiedliche Auffassungen, wie man mit diesen drei Politikfeldern erfolgreich Politik betreiben kann und sich durchsetzt und das auch zumindest in der täglichen Politik erkennbar machen kann.

Wir haben ein zweites Problem: Im Osten gibt es eine viel stärkere organisatorische Verfestigung. Dort ist die Linke Volkspartei. Im Westen ist das nicht der Fall. Im Westen haben wir davon profitiert, dass es den Protestfaktor gab. Wir haben davon profitiert, dass Hartz IV 2005 eine ganz andere Bedeutung hatte. Viele Menschen haben zum ersten Mal erlebt, was das heißt - auch im Westen.

Und wir hatten mit Lafontaine und Gysi zwei starke Führungsfiguren. Lafontaine ist nicht mehr da. Ich bin in beiden Fraktionen gewesen, in der Fraktion mit Lafontaine und Gysi und in der jetzigen Fraktion. Und er fehlt uns einfach. Er ist in dieser Situation unentbehrlich. Und diese schlechteren Wahlergebnisse sind insbesondere diesen Umständen zuzuschreiben.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man verfolgt, wie Sie Rechtspolitik machen, könnte man auch meinen: Warum gehen Sie nicht gleich zu den freien Demokraten?

Wolfgang Neskovic: Ich hab das ja eben schon angedeutet und die Antwort ist ganz einfach, weil Freiheit und Gleichheit für mich untrennbar miteinander verbunden sind. Und das ist gerade bei der FDP nicht der Fall. Die FDP meint, Freiheit sei das Einzige, ähnlich wie Herr Gauck auch, und erkennen nicht, dass die Freiheit eigentlich ihren Wert nur hat, wenn es auch den Menschen materiell möglich ist, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen.

Ich kann das Demonstrationsrecht nur in Anspruch nehmen, wenn ich auch die Möglichkeiten habe, nach Berlin fahren zu können, wenn dort eine Demonstration stattfindet. Wenn ich aber in Bayern oder in Schleswig-Holstein wohne, muss ich die Möglichkeit haben dieser politischen Teilhabe. Und das muss für jeden gewährleistet sein. Und das Recht auf menschenwürdiges Existenzminimum, das das Bundesverfassungsgericht gefordert hat, muss also auch solche Faktoren berücksichtigen. Das ist nicht der Fall. Deswegen käme die FDP für mich nie in Betracht, weil sie diesen Zusammenhang einfach nicht sieht und berücksichtigt.

Man kann das auch bei der Verstaatlichung von Banken sehen. Die FDP sieht immer nur Eigentum als Möglichkeit, damit Gewinne zu machen. Dass Eigentum aber eine sozialstaatliche Seite hat, so steht es im Grundgesetz drin, "Eigentum verpflichtet", wird überhaupt nicht wahrgenommen. Dass man auch Enteignen kann zugunsten der Gemeinschaft, steht in Art. 15 unseres Grundgesetzes drin. Das ist überhaupt nicht im Wahrnehmungshorizont der FDP drin. Das heißt, diese Seite des Grundgesetzes wird ignoriert und überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

Deutschlandradio Kultur: Nun hat die FDP als Regierungspartei durchaus geprüft, ob es nicht sinnvoll ist, auch Konzerne, wenn sie denn zu groß und wettbewerbsgefährlich werden, zu zerschlagen, auch Banken, die systemrelevant sind und gefährlich werden, zu zerschlagen. Warum haben Sie die FDP nicht beim Wort genommen?

Wolfgang Neskovic: Also, ich kenne nur einen FDP-Politiker, der das ernsthaft gefordert hat. Und der hat in der FDP eine besondere Stellung. Das ist Herr Kubicki. In dem Punkt hat er Recht. Aber das ist nicht die Position der FDP.

Natürlich können wir … und das ist ja gerade das, was ich eben sagte, unser Grundgesetz lässt eine Enteignung einer Bank ohne Weiteres zu, auch noch in der Form, dass es in Gemeinwirtschaft übergeführt wird, das heißt, dass wir als Öffentlichkeit dann über den Inhalt der Geschäftspolitik einer Bank mit entscheiden. Das sieht unser Grundgesetz ausdrücklich vor. Und die FDP hat ausdrücklich die Abschaffung dieses Artikels im Rechtsausschuss gefordert. Also, eine solche Partei kommt für mich nicht mal in den schlimmsten Träumen vor.

Deutschlandradio Kultur: Aber was die Vorratsdatenspeicherung angeht, da sind Sie doch ganz bei der FDP-Justizministerin.

Wolfgang Neskovic: Das ist völlig richtig. Das liegt eben daran, weil Freiheit und Gleichheit für mich eben zwei Seiten der nämlichen Medaille sind. Und so intensiv und energisch, wie ich für soziale Rechte kämpfe, kämpfe ich auch für Freiheitsrechte. Das ist auch wieder das Bild unseres Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist die Aufgabe aller staatlichen Gewalt". Das bedeutet, dass ein Mensch im Grunde genommen zwei Möglichkeiten hat, durch den Staat geschützt zu werden, einmal vor dem Staat, indem der Staat ihn entrechtet, und durch den Staat, indem der Staat ihm etwas gibt, was er unbedingt braucht. Das sind genau die beiden Seiten.

Und Ernst Bloch hat das ja mit dem Bild vom aufrechten Gang beschrieben. Der Mensch kann nur aufrecht gehen, wenn er die beiden Lasten, die auf seinen Schultern ruhen, nämlich staatliche Bevormundung und Entrechtung, und Not und Elend, befreit wird. Deswegen hat das Grundgesetz genau diese beiden Bereiche auch zusammengeführt. Und ich sehe nur in der Linken die einzige Partei, die sich dessen bewusst ist.

Deutschlandradio Kultur: Also weniger Speicherung staatlicher Daten, auch wenn möglicherweise die Untaten, zum Beispiel der NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), dann vielleicht doch eher entdeckt worden wären?

Wolfgang Neskovic: Also, ich bin lange Richter gewesen. Ich bin lange auch Strafrichter gewesen. Und ich habe mich jetzt im Grunde genommen seit über 30 Jahren darüber geärgert, wie es immer wieder geschehen kann, dass Schreckensszenarien entworfen werden, die mit der Realität nichts zu tun haben, die aber dann letztlich politische Entscheidungen determinieren.

Es gibt keinen Nachweis dafür, dass zum Beispiel die Vorratsdatenspeicherung in der Überführung von Tätern einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Ich hab das seit den 80er-Jahren erlebt. Organisierte Kriminalität war damals im Grunde genommen das Mittel, mit dem man versuchen wollte, die Menschen dazu zu bringen, den Abbau von Freiheitsrechten zu ermöglichen. "Großer Lauschangriff": Ich habe das eingangs gesagt, wir wissen, dass der "Große Lauschangriff" bisher wenig gebracht hat.

Ich kann mich in der Zeit als Vorsitzender einer großen Strafkammer nicht erinnern, dass ich ein einziges Mal zum Beispiel eine Telefonüberwachung zur Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung gemacht habe. Also, die klassischen Mittel - Aussagen, Täterspuren, Sachverständigengutachten -, das sind die klassischen Mittel zur Überführung. Dieser ganze EDV-Bereich kann im Einzelfall mal von Bedeutung sein. Aber wegen einzelner Fälle zum Beispiel mit Vorratsdatenspeicherung eine ganze Bevölkerung unter Generalverdacht zu stellen, halte ich für nicht tragfähig.

Unsere Grundrechte sind Abwehrrechte gegen einen unvernünftigen Staat. Sie institutionalisieren also ein Misstrauen gegen den Staat. Und bei der Vorratsdatenspeicherung ist es genau umgekehrt. Da wird das Misstrauen gegen alle Bürger institutionalisiert, weil man sagt, es könnte ja irgendetwas sein. Und deswegen bewahren wir eure Daten auf. Das wäre so, als wenn man sagen würde: Jeder Brief, der in der Bundesrepublik verschickt wird, wird geöffnet, eingescannt, wieder verschlossen, an die Adressaten versandt - es kann ja irgendwann mal sein, dass irgendeiner derjenigen, der einen Brief geschrieben hat, einer Straftat verdächtig ist. Dann öffnet man diese Briefe und guckt nach, ob es dort ein Beweismittel gibt oder nicht. Da erscheint absurd. Das ist genau das Prinzip der Vorratsdatenspeicherung.

Deutschlandradio Kultur: Aber gerade bei den Ermittlungen um die Mordfälle, um die Mordserie der Täter aus dem rechtsextremen Lager ist ja die Frage: Wenn die Täter denn tot sind, sich selbst getötet haben, wie will man die Vergangenheit ermitteln? Und da sagen eben die Staatsanwaltschaften und auch die Polizei, es wäre gut, wir könnten diese Bewegungsdaten aus dem Telefonnetz und aus dem Internet noch nachträglich aufarbeiten.

Wolfgang Neskovic: Ich bin Ihnen für diese Frage ausgesprochen dankbar, weil sie eben beweist, wie unredlich hier argumentiert wird. Die Vorgänge, um die es hier geht, betreffen die Jahre von 1998 bis 2006/ 2007. Selbst die Vorratsdatenspeicherungspflicht beträgt maximal sechs Monate. Also, für diesen gesamten Bereich würde die Vorratsdatenspeicherung nicht das Geringste bringen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Neskovic, Sie werfen dem Verfassungsschutz und der Polizei vor, bei den Ermittlungen in Sachen NSU nicht genug zusammengearbeitet zu haben. Was sind Ihre konkreten Punkte?

Wolfgang Neskovic: Also, das werfe ich denen nicht vor. Ich werfe ihnen vor, dass sie versagt haben, aber nicht mit dieser Begründung. Sondern ich werfe ihnen vor, dass sie nicht das richtige Bewusstsein gehabt haben. Also, es gibt seit Ende der 70er-Jahre eine Bewegung in der kriminalistischen Arbeit, die von sogenannten Profilern betrieben wird. Wir kennen das aus dem Fernsehen. Das sind also Fachleute, häufig psychologisch ausgebildet, die aus dem Opferbild Rückschlüsse auf die Täter ziehen.

Wenn man sich hier auch nur annähernd dieser Methode bedient hätte, man hat das ja in Bayern getan, aber sie dann auch weiter verfolgt hätte, dann hätte man erkennen können, dass dann, wenn ich eine Tatwaffe habe, die bei allen Taten verwandt wurde, insoweit praktisch die Täter zusammenfügt, auch immer erkenne, dass es Ausländer sind, die getötet worden sind.

Und es sind auch bestimmte Ausländer getötet worden. Es sind nämlich die Ausländer getötet worden, die - wenn man eine rechtsradikale Sicht hat - diejenigen sind, die in der Bevölkerung akzeptiert sind. Das ist der Ausländer, der eben seinen Blumenladen hat, das ist der, der sein Internetcafé hat, und der, der seinen Döner-Laden hat.

Das sind diejenigen, wo ein Rechtsradikaler sagen muss: Die tragen dazu bei, dass eigentlich unsere Ausländerfeindlichkeit abgebaut wird, weil sie akzeptiert sind. Mit denen unterhält man sich. Die bringen Dienstleistungen und Waren für den Alltag. - Wenn man sich also in diese Welt richtig hineingedacht hätte, hätte man schon sehr frühzeitig, viel frühzeitiger erkennen können, wo eigentlich der Täterkreis zu suchen ist. Und dann wäre es auf eine koordinierte Zusammenarbeit angekommen.

Aber da man dieses Bewusstsein nicht gehabt hat, ist es dazu nicht gekommen. Herr Fromm hat ja selbst zugegeben, wir konnten uns das nicht vorstellen, ein peinliches, ein desaströses Eingeständnis für dieses Waterloo der Sicherheitsbehörden.

Wenn man sich vor Augen führt, die haben V-Leute. Es gibt keinen Bereich, der so - ich will mal sagen - mit V-Leuten verseucht ist, wie der rechtsradikale Bereich. Und wir wissen mittlerweile, die waren nicht abgeschottet. Es gibt eine ganze Menge Unterstützer. Und das hat alles nichts gebracht. Auch das ist ein beispielloses Versagen und zeigt, dass auch überprüft werden muss, ob die nachrichtendienstlichen Mittel, hier zum Beispiel V-Leute, die gehören ja dazu, ob man die nicht abschaffen sollte.

Man gibt diesen V-Leuten Geld. Wir finanzieren praktisch die rechtsradikale Szene, damit die im Grunde genommen ihre Arbeit besonders gut machen können. Ob die Informationen, die von dort gekommen sind, irgendetwas bringen, wissen wir nicht. Hier wissen wir in jedem Fall, sie haben nichts gebracht. Also, ich bin der Meinung, auch die V-Leute müssten zum Beispiel abgeschafft werden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Fromm, das werden nicht alle Hörer wissen, ist der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Und trotzdem argumentiert die Politik ja widersprüchlich. Denn zum einen ist es ja ein altes Thema zu sagen, Polizei und Verfassungsschutz sind verschiedene Institutionen, die auch unterschiedliche Mittel haben und getrennt voneinander arbeiten müssen.

Und im Fall der Ermittlungen gegen eben diese Täter aus der rechtsradikalen Szene hat man auch den Vorwurf geprüft, in Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen wird das derzeit auch getan, dass sie nicht genug zusammenarbeiten. Da weiß der eine vom anderen nichts. Da hat man Informationen, die man nicht weiterreicht. Wo ist da die schlüssige Argumentation? Wie weit dürfen die Dienste mit der Polizei oder müssen die Dienste mit der Polizei zusammenarbeiten?

Wolfgang Neskovic: Die Zusammenarbeitspflicht ist unstreitig. Das sogenannte Trennungsgebot hat eine andere Zielrichtung. Beim Trennungsgebot geht es im Wesentlichen darum, dass man von den Erfahrungen des Dritten Reiches her nicht möchte, dass es eine Behörde gibt, die so allmächtig ist, dass sie alles wissen darf und alles tun darf, sondern man möchte diese beiden Bereiche trennen. Die Geheimdienste dürfen praktisch fast alles wissen, aber nichts tun. Und die Polizei darf nicht alles wissen, aber sie darf fast alles tun.

Das bedeutet, die einen sind für die Informationsansammlung zuständig und reichen dann die Informationen weiter. Das ist nicht zu beanstanden. Und die anderen sind diejenigen, die dann handeln, die jemanden festnehmen, die eine Durchsuchung vornehmen. Diese Aufgabentrennung wird im Wesentlichen gewahrt.

Wir haben nur eine Ausnahme zurzeit. Das Bundeskriminalamt darf im Bereich Terrorismus beides machen. Das heißt, man hat dort organisatorisch und personell die beiden Dinge zusammengeführt, die Aufgabenbefugnisse, die Geheimdienste und Polizei haben. Das halte ich für einen schweren Fehler. Es gibt keine Beweise dafür, dass diese Zusammenführung beim Bundeskriminalamt bisher irgendetwas gebracht hat.

Das Entscheidende bei der NSU ist das fehlende Bewusstsein gewesen, nicht die Kompetenzmittel. Wer jetzt eine neue Datei fordert, übersieht, dass Dateien nicht ermitteln, sondern es sind Menschen, die ermitteln. Und wenn das Bewusstsein nicht da ist, dann kann ich noch so viele Zusammenarbeitsvorschriften haben, ich kann noch so viele technische Mittel haben. Dann laufe ich immer in die falsche Richtung und gegen die Wand. Und genau das ist hier geschehen.

Deutschlandradio Kultur: Vor einiger Zeit gab es große Aufregung darüber, dass einige Spitzenpolitiker der Linken auch vom Verfassungsschutz beobachtet wurden. Nach Ihren Erkenntnissen, setzt sich das fort? Oder hat man das nach der Aufregung, die es dann öffentlich gab, inzwischen eingestellt?

Wolfgang Neskovic: Ich kann natürlich nicht aus dem parlamentarischen Kontrollgremium berichten, ich kann Ihnen allerdings sagen, wir haben ja dagegen geklagt. Die Klage steht jetzt zur Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht an. Wenn es so wäre, dass sie es nicht mehr täten, hätten sie das dem Bundesverfassungsgericht mitteilen müssen, weil sich dann der Gegenstand der Klage zunächst unmittelbar erledigt hätte. Man kann das dann vielleicht zu einer Feststellungsklage umwandeln. Aber im Kern können Sie davon ausgehen, dass diese Beobachtung weiterhin stattfindet. Und diesem Unsinn, diesem Spuk kann nur das Bundesverfassungsgericht ein Ende machen und ich hoffe, dass das auch geschieht.

Deutschlandradio Kultur: Sie, die Linke will auch klagen um der Parlamentsrechte willen gegen den Europäischen Fiskalpakt. Warum? Ist es so unsinnig, die europäischen Regierungen zu zwingen, nicht mehr Schulden zu machen als notwendig?

Wolfgang Neskovic: Wir haben ja eine Verfassung. Und eine Verfassung sollte man beachten. Dazu ist sie nämlich da. Das ist eigentlich so der gemeinsame Wertekanon, auf den man sich geeinigt hat. Und das Bundesverfassungsgericht ist dazu berufen, diese Verfassung auszulegen. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: So, wie unser Grundgesetz beschaffen ist, lässt es die Vereinigten Staaten von Europa nicht zu. Es lässt nur einen Staatenbund zu. Das, was mit dem Fiskalvertrag geschieht, ist eben der Weg nicht nur hin, sondern das ist eine bundesstaatliche Regelung. Es findet eine derartige Verzahnung statt im Bereich der Finanzpolitik, die eben einem Bundesstaat ähnlich ist.

Genau das ist das Überschreiten der roten Linie. Das heißt, unser Grundgesetz hat vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte bestimmte Besonderheiten. Dazu zählt die sogenannte Ewigkeitsklausel. Bestimmte Dinge dürfen wir als Kompetenz nicht auf andere supranationale Organe übertragen. Dazu zählt das Demokratieprinzip. Und zum Demokratieprinzip gehört die Budgethoheit des Parlaments.

Und wenn jetzt Rat und Kommission, also nicht durch das - auch europäische - Volk legitimierte Exekutivorgane, ein Genehmigungsvorbehalt für Staaten, die im Defizitverfahren sind, erhält, ist das ein Eingriff in das Königsrecht des Parlaments, nämlich in die Budgethoheit. Auch das wäre nach meinem Dafürhalten ein klarer Verstoß gegen das geltende Verfassungsrecht.

Deutschlandradio Kultur: Aber mit dieser Argumentation spielen ja auch Europagegner über Bande. Also diejenigen, die Europa die Demokratie nicht geben wollen, die wir vielleicht verlangen mögen, haben dieselben Argumente wie Sie, die Sie vielleicht doch am Ende meinen, ein Bundesstaat wäre auch nicht schlecht, wenn er verfassungsrechtlich genehmigt ist.

Wolfgang Neskovic: Genau das meine ich, wobei ich allerdings da sagen möchte: Wir brauchen ein Europa der Sozialstaatlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit. Und wir haben zurzeit ein Europa der Dienstleistungs- und der Kapitalfreiheit. Das ist was anderes. Die Vereinigten Staaten von Europa, die ich mir wünsche, sind Vereinigte Staaten von Europa, in denen diese sozialstaatlichen und rechtsstaatlichen Kriterien, die wir auch in unserer Verfassung angelegt haben, indem die europaweit gelten. Das ist meine Vision.

Und der andere Teil, auf den kann sich jeder berufen. Auch ein Rechtsradikaler kann sich darauf berufen, dass die Todesstrafe nicht gilt. Genauso kann sich ein anderer, der eine Zielrichtung verfolgt, auf bestimmte Grundsätze der Verfassung berufen. Das heißt, die Grundsätze der Verfassung hängen nicht von demjenigen ab, der sich darauf beruft, sondern sind für sich von eigener Wertigkeit. Und wenn andere sich auf die nämlichen Grundsätze berufen, kann ich sie nicht daran hindern. Man mag meine Motive werten und die zum Gegenstand einer Beurteilung machen, dann ist das in Ordnung. Und wenn man das anders werten will, mag man das tun.

Deutschlandradio Kultur: Stichwort: sozialstaatliche Kriterien. Wenn ich es richtig sehe, möchten Sie, möchte die Linke soziale Grundrechte in die Verfassung aufnehmen. Welche wären das?

Wolfgang Neskovic: Unser Grundgesetz, als es geschaffen wurde, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes darüber diskutiert. Und weil man der Auffassung war, das ist ja sowieso ein Provisorium, wir werden uns irgendwann wiedervereinigen, hat man die sozialen Grundrechte nicht reingenommen, sondern hat den Begriff des Sozialstaates ins Grundgesetz so als Programm reingenommen und hat gemeint, man müsse die Sozialstaatlichkeit besonders absichern, und zwar durch diese Ewigkeitsklausel. Also: Die Sozialstaatlichkeit kann man nicht abschaffen. Das geht nicht, weil das Grundgesetz das nicht zulässt, genauso wie das Demokratieprinzip und auch die Würde des Menschen, die unantastbar ist.

Und das Bundesverfassungsgericht hat jetzt zum ersten Mal bei seiner Hartz-IV-Entscheidung gesagt, dass es ein subjektives Recht gibt auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Das wäre ein soziales Grundrecht, eines der wichtigsten nach meiner Auffassung. Dann ist da das Recht auf Bildung, das Recht auf Wohnen, dann sind das natürlich auch das Recht auf Arbeit, das Streikrecht, das Asylrecht, also Dinge, die man wieder abgeschafft hat. Es gibt eine Fülle von sozialen Grundrechten, die als subjektiv einklagbare Rechte - so wie ich mich dagegen wehren kann, dass der Staat in meine Rechte eingreift und in meine Freiheitsrechte, muss ich mich auch davor schützen können, dass der Staat es unterlässt, mir bestimmte Dinge, die zum sozialen Dasein erforderlich sind, dass er mir die nicht mit zur Verfügung stellt oder es nicht unterstützt.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie versprechen ja dann, würden Sie so etwas in die Verfassung hinein nehmen, etwas, was Sie nicht halten können. Das alte Argument gegen zu weitreichende Grundrechte ist: Der Staat kann bestimmte Dinge eben nicht garantieren. Er kann den Bürger unterstützen, aber garantieren kann er ihm die Wohnung nicht, die Arbeit nicht und vieles andere mehr.

Wolfgang Neskovic: Doch, er kann natürlich eine ganze Menge mehr tun. Zum Beispiel bei der Wohnung ist es so: Wer seine Wohnung verliert, weil er sie nicht bezahlen kann, muss der Staat, und das kann er jederzeit, Ersatzwohnungen zur Verfügung stellen. In der Brandenburgischen Verfassung gibt es eine Bestimmung, die auch dann, wenn ein Vermieter jemandem kündigen kann, es keine Möglichkeit gibt, ihn aus der Wohnung zu entsetzen mit Hilfe des Gerichtsvollziehers, solange nicht eine Ersatzwohnung zur Verfügung steht.

Das können Sie bei dem Recht auf Bildung, wenn es jetzt darum geht, dass jeder einen Anspruch hat, einen Kita-Platz zu erreichen, auch das ist ein subjektives soziales Grundrecht. Und keine Studiengebühren zu zahlen, ist auch das Recht auf Bildung. Auch das kann der Staat garantieren.

Schwierig ist es in der Tat bei dem Recht auf Arbeit. Das haben wir auch gesehen. Ich kann nicht einen bestimmten Arbeitsplatz garantieren, darum geht es nicht. Aber ich kann einen Mindestlohn garantieren. Das ist auch das, was man in die Verfassung reinnehmen könnte. Niemand bestreitet ernsthaft, dass wir durch ein einfaches Gesetz einen Mindestlohn, einen staatlich flächendeckenden Mindestlohn schaffen könnten. Wir wollen das sogar in die Verfassung aufnehmen.

Und das Bundesverfassungsgericht hat schon 1956 gesagt, dass das Sozialstaatsprinzip eigentlich verpflichtet, unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit dafür Sorge zu tragen, dass es einen "zureichenden" Lohn gibt. Das ist die Begrifflichkeit des Bundesverfassungsgerichts, was den Mindestlohn anbetrifft. Keiner kennt das, weil insbesondere - ich sagte es ja eingangs - auch die Rechtspolitiker des Lesens oder der Erinnerung nicht mehr ausreichend mächtig sind.

Deutschlandradio Kultur: Und wo bleibt dann die Pflicht, sich selbst aus einer sozialen Notlage herauszuholen, das heißt, die Hilfe zur Selbsthilfe, von der man immer so spricht?

Wolfgang Neskovic: Ich finde das anmaßend, entschuldigen Sie, sozusagen, als wenn jeder von uns die gleichen intellektuellen, charakterlichen Merkmale hätte. Wir haben beide das Glück, dass wir - glaube ich - ganz gut mit unserem Verstand umgehen. Wir sind willensstark. Es werden Menschen ganz anders geboren. Und der Sozialstaat soll Schicksalskorrektor sein. Er soll genau das korrigieren, was der andere nicht beeinflussen kann. Und der Sozialstaat versucht eben dem Schwächeren, der vom Schicksal nicht so begünstigt ist, als Hand-Ausstrecker zu begegnen und ihn auf die Ebene auch der anderen zu heben.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Wolfgang Neskovic.
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