Negt: Für die SPD hätte es noch schlimmer kommen können

Oskar Negt im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 28.09.2009
Der Soziologe Oskar Negt meint, die Fortsetzung der großen Koalition wäre für die Sozialdemokraten schlimmer gewesen als die Wahlniederlage und der Gang in die Opposition. Die "Profilnot" der SPD sei groß, betonte Negt. Jetzt bestehe wenigstens die Chance, dass in der Opposition wieder sozialdemokratische Ziele sichtbar würden.
Liane von Billerbeck: Dass es kein besonders rosiges Ergebnis für die SPD werden würde, das hatte sich abgezeichnet. Dass es so schlecht ausfallen würde, hat viele SPD-Mitglieder dann doch überrascht. Nur 23 Prozent der Wähler haben sich für die Sozialdemokraten entschieden. Bedeutet dieser Absturz das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters?

Wir haben uns dazu zum Gespräch verabredet mit dem Soziologen und einstigen SPD-Mitglied Professor Oskar Negt – Jahrgang 1934, der 1961 wegen seiner Mitgliedschaft im SDS aus der SPD ausgeschlossen wurde, der aber für Frank-Walter Steinmeier Wahlkampf gemacht hat – und mit Steffen Kopetzky – 1971 geboren, SPD-Mitglied und einer der wenigen jungen Schriftsteller, die sich für die Sozialdemokraten öffentlich eingesetzt haben. Oskar Negt und Steffen Kopetzky sind jetzt telefonisch zugeschaltet. Einen schönen guten Tag!

Steffen Kopetzky: Hallo!

Oskar Negt: Guten Tag!

Liane von Billerbeck: Professor Negt, eines Ihrer Bücher heißt "Wozu noch Gewerkschaften?" Da liegt die Frage nahe: Wozu noch SPD?

Oskar Negt: Ich glaube, dass es hätte schlimmer kommen können für die SPD, nämlich eine Konstellation, in der sie eine zweite Legislaturperiode große Koalition macht. Ich glaube, dass die Profilnot dieser Partei so groß ist, dass eben ganz bestimmte Fragestellungen, die mit ihr verknüpft waren – die Gerechtigkeitsfragestellung und natürlich früher auch die ökologische Fragestellung –, ausgegliedert waren und ich sehe durchaus eine große Chance in der Opposition, dass die ursprünglichen sozialdemokratischen Zielsetzungen wieder öffentlich sichtbar werden.

Liane von Billerbeck: Steffen Kopetzky, Sie gehören zu der eher seltenen Spezies unter der jüngeren Schriftstellern, die Frank-Walter Steinmeier und die SPD unterstützt haben. Sie sind ja auch SPD-Mitglied. Nun ist Schluss mit Großer Koalition, aber auch mit einer SPD an der Macht. Ist das gut oder schlecht?

Steffen Kopetzky: Ja, nachdem es erstaunliche Phänomene gab – wie zum Beispiel vor Kurzem ein älterer Herr, der beim Wahlkampf gemeint hat, die SPD sei die einzige Partei, die Hitler hätte verhindern können, und weil sie es nicht geschafft habe, müsse man ihr dann eigentlich auch dieses Desaster der deutschen Geschichte ankreiden – ist es vielleicht ganz gut, dass die SPD tatsächlich mal aus dieser Schusslinie gerät, in der sie seit elf Jahren tatsächlich einfach war.

Es ist so: Seit sie an die Macht kam mit Gerhard Schröder, ging es kontinuierlich eigentlich nach unten und bergab, und ich glaube, was Oskar Negt sagt, ist richtig. Es ist jetzt die Zeit, sich zu konsolidieren, aber nicht in Form von Machterhalt oder von Postengeschacher, sondern es geht jetzt darum, die Dinge, die einfach auf Intellektuelle genauso interessant wirken wie auf Arbeiter, nämlich gesellschaftlicher Fortschritt, was bedeutet es eigentlich heute, nicht fünf Euro, sieben Euro oder zehn Euro Mindestlohn – diese Detailfragen interessieren und bewegen letztlich niemanden mehr. Ich sehe eigentlich einer ganz aufregenden Zeit entgegen, für mich ist die SPD das spannendste, politische Projekt, das wir haben.

Liane von Billerbeck: Die SPD ist 146 Jahre alt, wenn man den Zeitpunkt nimmt, als Ferdinand Lasalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegründet hat 1863, und sie galt immer als Arbeiterpartei. Passt das Etikett eigentlich noch, oder gibt es, weil die Arbeiter verschwinden und sich die Gesellschaft immer mehr ausdifferenziert, auch keine Arbeiterpartei mehr?

Negt: Na ja, ich meine, Arbeiterpartei im engeren Sinne oder Proletariatspartei im engeren Sinne, das gibt es sicherlich nicht mehr. Aber natürlich sind die Unterschichtenmilieus geblieben und auch die Arbeitermilieus. Das hat sich differenziert auf der Unterseite der Gesellschaft, was Armutsquartiere betrifft, was aber auch Arbeitslosigkeit betrifft, das heißt, alle Probleme, die mit lebendiger Arbeit zu tun haben, mit der Ausgliederung aus lebendigen Arbeitsprozessen. Das heißt, die soziale Frage, wenn man die nimmt als Bündelung, die hat sich verändert, aber die ist nicht verschwunden, die ist nicht ausgestanden. Insofern ist auch das, was sozialdemokratische Politik als eine innergesellschaftliche Friedenspolitik betraf, nicht ausgestanden, ganz im Gegenteil.

Kopetzky: Und es gibt natürlich auch noch Bereiche, sage ich jetzt mal, zum Beispiel die Kinder, die Söhne und Töchter der Arbeiter, die eigentlich die erste Generation von Arbeiterkindern waren, die aufgrund der Politik der SPD ja zum Beispiel zu einem Studium kamen, die jetzt unsere ganze technische Intelligenz ausmachen.

Negt: Ja.

Kopetzky: Diese Leute sind heute FDP-, Grüne-Wähler, obwohl sie eigentlich für komplexeres Allianzmanagement und für komplexere Fragen von Politik extrem offen wären.

Negt: Ja.

Liane von Billerbeck: Dann sind doch diese Wähler eigentlich verdammt undankbar?

Negt: Na ja, undbankbar – sie sind angstbesetzt. Ich glaube, die Ideologie Wachstum, Wachstum, Wachstum, das ist ja ein Betrug, das ist ja eine Täuschung. Wachstum in unserer Gesellschaft bedeutet: Rationalisierung, Rationalisierung bedeutet, Freisetzung lebendiger Arbeit. Das heißt also, das wird nicht kompensiert, das Wachs… und im Übrigen ist Wachstum gerichtet eben auf Exporte und das Geld kommt nicht zurück in die Produktionsprozesse. Aber die Täuschung, dass durch Wachstum etwas bewirkt wird, eine Emanzipation, eine Befreiung und eine Besserstellung der Menschen – das ist einfach eine kompakte Ideologie, die zur Realität geworden ist.

Liane von Billerbeck: Trotzdem haben wir eben viele Menschen, obwohl das viele von Ihnen ja vermutlich wissen, eben nicht die Chance ergriffen und SPD gewählt. Was ist eigentlich aus diesem, ich will das mal Familiengefühl nennen, das die SPD ja früher auch zusammengehalten hat? Macht der Verlust dieses Gefühls der SPD besonders zu schaffen?

Kopetzky: Ich glaube, es gibt einfach eine ganz besonders anspruchsvolle Wählerschaft, Leute, die erwarten, dass die SPD – anders als andere Parteien – eben zum Beispiel nicht so sehr ihre eigene Machtposition immer wieder thematisiert, sondern Inhalte bringt und eine Hoffnungsträgerin ist. Ich bin da vielleicht noch zu romantisch, aber ich sehe, dass die SPD nicht gut sich selber verteidigt. Sie ist eigentlich ganz stark, wenn sie Positionen für andere in der Gesellschaft einnimmt, und wenn es immer nur zu sehr um die SPD geht, um die SPD geht, dann sagen die Leute: Kommt, also, reißt euch zusammen, es geht um Themen in der Gesellschaft, nicht nur um euch. Und klar, das ist anspruchsvoll, man würde sich wünschen, die Leute wären dankbarer, aber das gibt es halt nicht.

Liane von Billerbeck: Steffen Kopetzky, der Schriftsteller, und der Soziologe Professor Oskar Negt sind meine Gesprächspartner im Gespräch über das langsame Sterben der SPD. Ein Thema, das immer wieder angesprochen wurde von allen, die jetzt diese Wahlergebnisse kommentieren, ist der Umgang der SPD mit der Linken. Die wurde bundesweit von 12,5 Prozent der Wähler gewählt. Hätte die SPD die Linke nicht eher umarmen, in Klammern, erdrücken sollen, statt sie so brüsk von sich zu weisen?

Negt: Na ja, das ist natürlich ein zentrales Problem. Diese Ausgrenzungsmentalität – natürlich auch jetzt noch von Westerwelle, also gewissermaßen die Ausgrenzung bestimmter Koalitionsmöglichkeiten – ist natürlich für die SPD eine fatale Sache, denn dadurch gliedert sie immer mehr Fragestellungen aus, die aufgegriffen werden von der Linkspartei. Dass die auf Anhieb mit zwölf Prozent reinkommt, bedeutet ja, dass zentrale Fragestellungen, die mit Gerechtigkeitsvorstellungen, mit Lebenszusammenhängen zu tun haben, aus dieser Partei ausgegliedert sind. Wenn die das nicht zurückholen und wenn sie es nicht zurückholen können, nicht ein anständiges, rationales Verhältnis zur Linkspartei entwickeln, dann rutschen die unter 20 Prozent.

Liane von Billerbeck: Wie müsste dieses Verhältnis zur Linkspartei denn sein?

Negt: Na, offen für Koalitionen, also dort, wo es naheliegt. Ich meine, im Saargebiet liegt es nah, in Thüringen liegt es nah.

Liane von Billerbeck: Und im Bund?

Negt: Auch. Ich glaube, das wird ein zentrales Problem sein. Möglicherweise ist es sogar so, dass das eine große Chance ist – in der Opposition muss man ja irgendwie miteinander kooperieren, um überhaupt Geltung zu haben im parlamentarischen System –, dass vielleicht hier Erfahrungen gemacht werden mit den anderen. Es hängt ja, ich meine, dieser Linkspartei hängt ja eben viel nach, und da sind ja auch viele Betonköpfe noch in dieser Partei. Das ist ja erst ein Protestsammelsurium. Und möglicherweise ist die gemeinsame Opposition, die ja … Wie Müntefering einmal sagte, Opposition ist Mist, aber Opposition kann auch sein, dass die Berührungsängste zu den anderen aufgearbeitet werden und das könnte der SPD nur nützen.

Liane von Billerbeck: Wenn Sie in die Zukunft schauen, Sie beide: Wie kann sich denn die SPD von dem 2009er-Debakel erholen? Oder ist die Zeit der Volksparteien abgelaufen und wir befinden uns längst im Zeitalter der Klientel-Parteien, die man eben sehr kurzfristig wechselt?

Kopetzky: Ja, Klientel-Parteien mag es geben, ich würde eher sagen, es sind Themenparteien, die jetzt auftreten, …

Negt: Ja, eben.

Kopetzky: … die sich natürlich leichter tun. Wenn man viele Dinge ausklammert, kann man natürlich leicht über das eine Thema sprechen. Ich glaube, dass gefragt sein wird in den nächsten Jahren zunehmend das, was man Allianzmanagement nennt, also die Fähigkeit, ein Bündnis aus drei, vielleicht sogar vier Gruppen, die ungefähr gleich stark sind, zumindest von der gefühlten Gewichtung, zum Funktionieren zu bringen. Das ist eine ganz andere Anforderung an die Politik, das erfordert weniger Machtpolitiker als eigentlich sowas wie Manager.

Moderator: Also auch andere Köpfe?

Kopetzky: Ja, mit Sicherheit werden andere Köpfe auf da sein, ist ja klar.

Negt: Jüngere vor allen Dingen.

Kopetzky: Natürlich.

Negt: Aber Herr Kopetzky hat ganz recht, ich meine, Politik muss wieder zu einem Arbeitsprozess werden.

Kopetzky: Absolut, ja.

Negt: Arbeitsprozesse leben aber davon, dass Kooperation ein wesentliches Element ist. Und wenn Parteien auf Ausgliederung, Ausgrenzung aus sind, um ihre Identität zu bewahren, dann hat das fatale Folgen. Das gilt für die SPD genauso wie für die anderen Parteien.

Liane von Billerbeck: Der Soziologe Oskar Negt und der Schriftsteller Steffen Kopetzky im Gespräch über die Wahlergebnisse der SPD. Ganz herzlichen Dank an Sie beide!

Negt: Wir danken!

Kopetzky: Sehr gern!