Neel Mukherjee: "Das Leben in einem Atemzug"

Von Geistern, Dienstmädchen und Tanzbären

Buchcover Neel Mukherjee, "Das Leben in einem Atemzug"
Neel Mukherjee, "Das Leben in einem Atemzug" © imago/Mint Images/Kunstmann/Deutschlandradio
Von Sieglinde Geisel · 20.12.2018
Fatalismus, Armut, Migration: Neel Mukherjee erzählt von Menschen, die in der Gesellschaft Indiens "ein Nichts" ist. Seine Imaginationskraft ist beeindruckend, sein Stil virtuos – doch der Roman "Das Leben in einem Atemzug" hat etwas Gemachtes.
Er habe einen Roman "ohne Bindegewebe" schreiben wollen, hat Neel Mukherjee in Interviews geäußert. Und tatsächlich merkt man erst am Ende der Lektüre, dass die fünf in sich geschlossenen Erzählungen, aus denen sein neuer Roman besteht, ein Ganzes ergeben. Die Geistergestalt etwa, die durch den ersten Text des Romans spukt, ist eine Wiederkehr des fuchsgesichtigen Lakshman, der in einer späteren Erzählung mit seinem Tanzbären durch die Berge zieht. Auch die Leiche von Lakshmans Zwillingsbruder, der im letzten Teil des Romans von einem Baugerüst stürzt, haben wir bereits in dieser ersten Erzählung auf der Straße liegen sehen.

Tourist im eigenen Land

Was diesen Roman zusammenhält, sind Themen und Erfahrungen: Neel Mukherjee erzählt vom Fatalismus, von der Armut und der oft erzwungenen Migration. Alle Figuren des Romans haben ihren Geburtsort verlassen. Der Sohn, der als Designer in London lebt und sich bei seinem jährlichen Heimatbesuch in Mumbai als "Tourist im eigenen Land" fühlt, ist ebenso ein Migrant wie das Mädchen Milly, das mit acht Jahren von der eigenen Mutter in den Bus gesetzt worden und dazu verurteilt ist, zeitlebens als Dienstmädchen von einer Stadt in die andere zu ziehen.
Neel Mukherjee geht es um die Geschichten von Menschen, deren Leben in der hierarchischen Gesellschaft Indiens "ein Nichts" ist, wie es mehrfach heißt. Der aus London heimgekehrte Sohn will im Haushalt seiner Eltern das Dienstmädchen Milly als Gleichberechtigte behandeln, doch darüber ist Milly ebenso irritiert wie der Vater, der sich über den westlichen "Gleichheitsquatsch" seines Sohns aufregt. Später lernen wir Milly als Hauptperson einer Erzählung im Stil eines Romans des 19. Jahrhunderts kennen, und wir verstehen, warum sie sich ein anderes Leben nicht vorstellen kann.

Die geschundene Kreatur

Mukherjee zieht in diesem Roman alle stilistischen Register und wechselt von einem Teil zum nächsten geschmeidig die Form: Auch ästhetisch kommt die blumige Ich-Erzählung des verwestlichten Londoner Sohns aus einer völlig anderen Welt als die archaisch erzählte Geschichte vom Gebirgsbewohner Lakshman, der mit seinem Tanzbären das Schicksal der geschundenen Kreatur teilt und immer mehr zum Tier wird. "Das sind Tiere, ihr Schmerz ist nicht von langer Dauer", sagen die Männer – wie dem Bären die Nasenwand mit einem glühenden Eisen durchbohrt wird, gehört zu den Szenen, die man nicht mehr vergisst.
Das alles ist virtuos – und doch hat der Roman etwas Gemachtes. Der Roman endet mit einem Joyceschen stream of consciousness – "am Ende ist es nicht die Verzweiflung die dich umbringt sondern die Hoffnung", denkt der Bauarbeiter, bevor er vom Gerüst stürzt. Das formale Experiment ist so absichtsvoll wie die bisweilen sehr didaktische Sozialkritik: "(...), es war eben so, und sie kannten nichts anderes", heißt es ein ums andere Mal.
Wo Neel Mukherjee jedoch seiner Imaginationskraft die Zügel schießen lässt, ist er ein großer Erzähler.

Neel Mukherjee: "Das Leben in einem Atemzug". Roman
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Verlag Antje Kunstmann, München 2018
320 Seiten, 24 Euro

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