Necla Kelek: Die Säkularen in der Türkei haben keine Stimme mehr

Necla Kelek im Gespräch mit Markus Pindur · 07.04.2009
Nach Einschätzung der deutsch-türkischen Soziologin Necla Kelek wird die Türkei immer stärker als ein muslimisches Land wahrgenommen. Die Schriftstellerin sagte, dies störe sie sehr, da die Türkei "seit 85 Jahren eine Republik" und laut Gesetz ein säkulares Land sei. Dass dies mittlerweile kaum noch erwähnt werde, sage viel über die Art, wie die Regierungspartei AKP das Land führe.
Marcus Pindur: Ich begrüße jetzt die in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene und lebende Soziologin und Publizistin Necla Kelek. Guten Morgen, Frau Kelek!

Necla Kelek: Guten Morgen!

Pindur: Obama fordert die Europäer auf, die Türkei in die EU aufzunehmen. Redet er da die politischen Verhältnisse in der Türkei nicht ein wenig schön?

Kelek: Nein, Obama bringt im Moment nur gute Botschaften. Er möchte gern moderat sein, er möchte vermitteln, das ist sein gutes Recht. Aber nach wie vor müssen die Europäer selbst entscheiden, wie sie weiter verhandeln wollen mit der Türkei.

Pindur: Was steht denn da noch in Ihren Augen gegen eine Aufnahme der Türkei?

Kelek: Es gibt ja Kriterien, die gestellt worden sind. Diese Kriterien müssen erfüllt werden. Außerdem stört es mich sehr, dass die Türkei mittlerweile als ein muslimisches Land genannt wird. Türkei ist seit 85 Jahren eine Republik, im türkischen Gesetz ein säkulares Land, dass das mittlerweile gar nicht mehr erwähnt wird, das finde ich sehr tragisch.

Pindur: Das mag so sein und es liegt vielleicht auch daran, dass sich das schlicht und ergreifend gewandelt hat, denn die jetzige Regierung ist eine islamische Regierung, eine prononciert islamische Partei und so führt sie auch die Regierungsgeschäfte.

Kelek: Ja, das ist so. Und dass die Säkularen in der Türkei gar keine Sprache mehr haben und gar nicht mehr überhaupt erwähnt werden, das sagt sehr viel über das Land und wie die AKP das Land führt, und zwar wirklich in die Richtung, ein islamisches Land zu werden. Und das sieht man auch in der Öffentlichkeit, in der Art und Weise und in der Masse von Bau von Moscheen statt zum Beispiel viel mehr in die Schulen und in die Wissenschaft zu setzen, aber auch inhaltlich die Menschen zu europäisieren. Damit verstehe ich auch die individuelle Freiheit, was Islam ja leider nicht kennt, sondern dass halt Religionsfreiheit nicht nach islamischer Vorstellung sein kann. Das ist die Religion des Landes geworden.

Pindur: Kommen wir noch mal zurück auf Obama und seine Forderung an die Europäer. Ist es denn in Ihren Augen dann angesichts dieser Islamisierungspolitik gerechtfertigt, die Aufnahme in die EU, die rasche Aufnahme in die EU zu fordern?

Kelek: Die USA macht ja Geopolitik und hat die Türkei immer auch geopolitisch gesehen. Aber das kann ja nicht im Interesse Europas sein. Außerdem, den Preis müssen ja dann auch die Europäer zahlen. Ich habe im Moment von Zahlen gehört, die in einem Jahr 17 Milliarden Europa kosten würde. Ob Obama das auch zahlen möchte, das, befürchte ich, nicht.

Pindur: Kommen wir auch noch mal auf das türkisch-amerikanische Verhältnis zu sprechen. 60 Prozent der Türken misstrauen den USA, obwohl die amerikanischen Regierungen schon immer zu den besten Verbündeten der Türken in der NATO zum Beispiel gehören. Wie passt das zusammen?

Kelek: Das ist ja auch interessant. AKP-Partei hat ja auch inhaltlich daran gearbeitet, und zwar dass sie gegen die westlichen Werte halt brüskieren, dass die gegen westliche Werte auch propagieren innerhalb der Partei. Und auch die USA gehören halt zu den Ländern, die eben gottlos sind und die eben keine Religion kennen. Und Obama tritt jetzt auch ein Stück als religiöser Mensch auf und versucht damit, auch die AKP und auch die Türkei zu gewinnen. Also diese beiden Brücken sollen gebaut werden. Und das sehe ich halt auch als die Schwäche dieser Partei, dass sie eben mit jemandem jetzt zusammenarbeiten wollen, gegen die sie eigentlich immer propagiert haben.

Pindur: Im Parlament hat er Applaus bekommen, Obama. Meinen Sie, dass sich durch diesen Besuch auch ein Stückchen etwas ändern wird?

Kelek: Ja, besonders Applaus hat er dafür bekommen, dass er Verständnis zeigt für ein muslimisches Land und dass damit sicherlich sehr viele jetzt mehr zufrieden sind, als wenn er als ein christlicher Amerikaner aufgetreten wäre. Aber die Versprechungen, die er gemacht hat, ob er sie alle halten kann, und die Türkei…

Er hat zum Beispiel in seiner Rede gesagt, dass er die Türkei in die Moderne begleiten möchte. Was er darunter ganz konkret versteht, wissen wir natürlich nicht. Und dass die Türkei eine historische Aufgabe hat und viel aufzuarbeiten hat, aber auch die individuellen Rechte endlich gewährleisten muss, ein Rechtsstaat werden muss, Sozialstaat werden muss, vor allen Dingen die Minderheiten endlich auch ihre Rechte bekommen müssen, es ist sehr, sehr, sehr viel zu tun. Und ob Amerikaner dabei die Türkei wirklich inhaltlich unterstützen möchten, das wissen wir ja nicht.

Pindur: Die historische Aufarbeitung spielt beim Völkermord an den Armeniern immer noch eine Rolle. Barack Obama hat zwar vor dem türkischen Parlament vermieden, darüber zu reden, aber er hat seine Ansicht, dass es sich um einen Völkermord handelte damals 1915, dann bei seinem Besuch in Istanbul noch mal bekräftigt. Nehmen ihm das viele in der Türkei übel?

Kelek: Das glaube ich nicht. Es ist ja in der Debatte, es wird immer wieder, öffentlich oder mittlerweile auch über die Bücher und über natürlich von der Forderung Europas, wird es immer wieder angesprochen, es schwebt ja in der Luft, diese Diskussion. Ich war sogar jetzt vor ein paar Wochen noch in Istanbul und habe auch darüber reden können. Ich glaube, es ist langsam, aber es geht in die Richtung, dass eine Auseinandersetzung darüber stattfindet.