Navid Kermani: "Einbruch der Wirklichkeit"

Aus Thesen werden Menschen

Der Schriftsteller Navid Kermani.
Der Schriftsteller Navid Kermani. © picture alliance / dpa / Thomas Frey
Von Marko Martin · 25.01.2016
In der literarischen Reportage "Einbruch der Wirklichkeit" zeigt Navid Kermani, wie ein ernst zu nehmender gesellschaftlicher Diskurs über Migration aussehen könnte. Seine Erkenntnisse fußen auf eigenen Reiseerfahrungen auf den großen Fluchtrouten im Sommer 2015.
"Die Flüchtlingskrise hat nicht erst begonnen, als Deutschland sie bemerkte." Navid Kermani, Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, ist ein Freund klarer Sätze, die freilich das Gegenteil jener "klaren Ansagen" sind, die gegenwärtig wieder einmal durch die deutsche Publizistik bellen. Der Vielgereiste mit so genanntem "iranischen Migrationshintergrund" prunkt in seinem neuen Buch, der literarischen Reportage "Einbruch der Wirklichkeit", keineswegs mit seinen intimen Kenntnissen der nahöstlichen Konfliktregion.
Im Gegenteil: Dieser polyglotte, religiös und philosophisch gebildete Intellektuelle hat sich eine Kunst des Staunens bewahrt, die alles andere als naiv ist, sondern in erkenntnisfördernde Reflexion mündet. Im Spätsommer 2015 hatte er die großen Flüchtlingsrouten bereist – wenn auch in der Gegenrichtung, von Budapest und der griechischen Insel Lesbos über die Agäis hinüber ins türkische Izmir. Die schockierenden Szenen aus der ungarischen Hauptstadt, bekannt aus den Medien, erfahren bei ihm zusätzliche Analyse:
"Der Staat tat nicht nur nichts, sondern machte die Flüchtlingshelfer auch noch verächtlich, behauptete, sie würden von George Soros bezahlt, und bediente so das alte antisemitische Ressentiment, während er gleichzeitig Stimmung gegen Muslime machte."
Kermani gab sich als iranischer Flüchtling aus
Dabei stellt sich Kermani angesichts Hunderttausender junger Männer, die es – als die Stärksten und Durchsetzungsfähigsten unter den Schwachen – an Europas Gestade geschafft haben, durchaus manch ungemütliche Frage. Weder "Willkommens-Kultur"-Folklore noch deren zynische Ironisierung ist seine Sache, wohl aber pragmatische Skepsis:
"Warum strecken sich so viele Hände den auf Lesbos anlegenden Flüchtlingen entgegen, während im Hinterland, wo die Hilfe einen nicht mit den ganz großen Emotionen beschenkt, nur vergleichsweise wenige Aktivisten tätig sind?"
Kermani urteilt freilich nicht aus dem Ohrensessel heraus, sondern ist vor Ort und versucht selbst, auf der griechischen Insel den Flüchtlingen zu helfen, sie an Anlegestellen zu fahren, Wasserflaschen zu verteilen. In Izmir gibt er sich dann für einen iranischen Flüchtling aus, um Zeuge der gnadenlosen Flucht-Modalitäten zu werden, bei denen professionelle Schlepper den Heimatlosen oft noch das allerletzte Geld entwenden. Eine brutale Welt, in der auch die türkischen Moscheen keinen Schutz bieten, da man sich dort für nicht zuständig erklärt. Fazit eines syrischen Flüchtlings:
"Der Schuh von Frau Merkel ist mehr wert als alle arabischen Führer. Ich bin ein frommer Moslem, aber ein Islam, der keine Gerechtigkeit kennt, ist nicht einmal eine Notdurft wert."
Kein thesenhaftes Auftrumpfen
Bei alldem präsentiert Navid Kermani seine Erfahrungen und Begegnungen in keiner Zeile mit thesenhaftem Auftrumpfen – auch deshalb ist dieses schmale, gewichtige Buch ein Antidot zu den gegenwärtigen Aufgeregtheiten. Geschrieben noch vor den Ereignissen in Köln, jedoch bereits nach dem Massaker von Paris, wartet "Einbruch der Wirklichkeit" mit einer vorläufigen Schlussfolgerung auf, die nicht billig einlullend ist, sondern gerade ex negativo Hoffnung macht auf ein gedeihliches Zusammenleben:
"Wovor die Europäer Sorge haben, das macht den Flüchtlingen erst recht Angst."

Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa
C. H. Beck. München 2016
96 S., 10,00 Euro

Mehr zum Thema