"NATIVe Cinema"

Berlinale zeigt das Leben indigener Völker

Eine Szene aus "A Bride of the Seventh Heaven", einem finnischen Beitrag zur Berlinale-Sektion "Native".
Eine Szene aus "A Bride of the Seventh Heaven", einem finnischen Beitrag zur Berlinale-Sektion "Native". © Johannes Lehmuskallio
Von Christian Berndt · 16.02.2017
Die Berlinale-Sektion "NATIVe" konzentriert sich in diesem Jahr auf die Arktis. Die Botschaft: Klimawandel, Diskriminierung und staatliche Verdrängung gefährden das Leben der indigenen Völker.
Sergei sägt einem Rentier das Geweih ab – so kann es im Gestrüpp leichter nach Futter suchen. Man muss sich zu helfen wissen in der russischen Arktis, wo der Kälterekord bei minus 71 Grad liegt. Es ist ein hartes Leben, das der russische Film "24 Snow" sehr anschaulich zeigt, aber Tierzüchter Sergei liebt seinen Job. Seine erwachsenen Kinder dagegen werden die Familientradition nicht fortsetzen. Die Berlinale-Sektion "Native", die dieses Jahr der Arktis gewidmet sind, führt bedrohte Lebenswelten vor: Klimawandel, Naturraubbau und Generationenwandel machen den Völkern der Arktisregionen zu schaffen. Aber die Filme erzählen auch vom wachsenden Willen, die indigenen Kulturen zu bewahren.

Szenen aus den Erzählungen von Zeitzeugen

Zum Abschied vom Dorf singt die 14-jährige Elle Marja ihrer kleinen Schwester den Yoik vor. Zum letzten Mal für lange Zeit wird sie den traditionellen, samischen Gesang anstimmen, denn die beiden Mädchen müssen in ein Internat, und dort ist das Yoik-Singen untersagt. Es ist das Schweden der Dreißigerjahre, von dem der skandinavische Spielfilm "Sameblod" erzählt. Die Kinder des indigenen Volkes der Sami werden auf spezielle Schulen geschickt, in denen sie Schwedisch lernen und Samisch-Sprechen verboten ist. Elle Marja möchte gerne Lehrerin werden, aber die Lehrerin sagt, zum Studieren hätten die Sami zu kleine Gehirne. Es ist eine der Szenen, die die schwedische Regisseurin Amanda Kernell nach Erzählungen von Zeitzeugen geschrieben hat:
"Ich wollte verstehen, was es bedeutet, wenn alle Verbindungen zur Vergangenheit, Kultur, Sprache und Familie abgeschnitten werden, und was es mit Dir macht, wenn Du aufwächst mit dem Bewusstsein, auf einer niedrigeren Stufe der Evolution zu stehen, ein Untermensch zu sein. Das ist das, was Sami-Kinder in der Schule lernten. Wir denken, so etwas gab es nur in Deutschland, aber in Schweden gab es das erste staatliche Rassenbiologie-Institut. Und das inspirierte die Deutschen sehr stark."
Die Schulen sollten die Sami damals für einfache Arbeiten ausbilden - und ihre Kultur eliminieren. Elle Marja beginnt, ihre Herkunft zu verleugnen, um in der schwedischen Gesellschaft anerkannt zu werden. Amanda Kernell, deren Vater Sami ist, kennt dieses Verhalten:
"In meiner Familie gab es Ältere, die nichts mit Sami zu tun haben wollten, obwohl sie selbst Sami waren. Aber für meinen Vater war es sehr wichtig, uns alles über unsere Kultur beizubringen. Er liebte es, mich in seiner Sami-Tracht auf seinem Motorrad von der Schule abzuholen und dann auch noch eine Extrarunde zu drehen. Ich dachte nur, oh Nein. Das war nicht das, was ich als Teenager wollte."

Unkenntnis über die Sami

In Schweden, so Kernell, gebe es bis heute weitgehende Unkenntnis über die Sami – und Verachtung. Das erzählt auch die finnische Regisseurin Katja Gauriloff, die mütterlicherseits samischer Abstammung ist und den Filmessay "Kaisa’s Enchanted Forest" gedreht hat:
"Bis heute lehren sie in den Schulen nichts über Sami. Die Leute wissen mehr über nordamerikanische Indigene, als über ihre eigenen. That’s crazy."
Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte einer faszinierenden Freundschaft. In den Dreißigerjahren reiste der Schweizer Robert Crottet nach Finnland zu den Skolt-Sami, und dort wurde er im Haus von Kaisa, Katja Gauriloffs Urgroßmutter, aufgenommen. Kaisa war Analphabetin, aber eine bekannte Erzählerin. Crottet schrieb ihre Geschichten auf und filmte den Alltag im Dorf. Dieses Material konnte Gauriloff in Spanien aufspüren und collagierte aus den Aufnahmen und dem Text von Kaisas Geschichten ihren Film. Er zeigt eine untergegangene Welt, denn nach den finnischen Gebietsverlusten im Zweiten Weltkrieg wurde das kleine Volk der Skolt-Sami umgesiedelt und zur Anpassung gezwungen.
"Wegen der harten Finnlandisierungspolitik nach dem Krieg war es meiner Mutter verboten, in der Schule Samisch zu sprechen. Und als ich aufwuchs, dachten meine Eltern, es wäre nicht gut, Samisch zuhause zu sprechen. Das ist sehr traurig, ich wusste immer, dass mir etwas fehlt, dass ich nicht komplett bin. Und so begann ich, nach meiner anderen Hälfte zu suchen."

Filme als Heilungsprozess

In Finnland und Schweden müssen die Sami, die mehrheitlich von der traditionellen Rentierzucht leben, gerade heute um den Erhalt ihrer Kultur kämpfen - denn ihr Lebensraum wird immer stärker zum Objekt wirtschaftlicher Nutzungspläne. Das Filmemachen wurde für die Regisseurinnen zur Möglichkeit, die eigene Kultur wiederzugewinnen und zum Existenzkampf ihres Volkes beizutragen:
"Als ich anfing, Filme zu machen, begann ich, auch meine Kultur zu studieren. Das war ein wichtiger Heilungsprozess für mich. Ich hoffe, dass der Film hilft, meine Leute stärker zu machen. Sich zu erinnern, wer wir sind. Die Jungen vergessen unsere Geschichten, ich möchte nicht, dass sie das tun."