Nationales Heiligtum

Von Michael Marek und Sven Weniger · 18.09.2012
Der Panamakanal verbindet Pazifik und Atlantik. Dazwischen liegen Regenwälder, Mangrovensümpfe und Seen. Für Panama ist der Kanal die wichtigste Einnahmequelle des Landes. Jetzt soll er ausgebaut werden. Für die Regierung ein Akt nationalen Interesses - für Umweltschützer ein Desaster.
Amador Causeway, im Südwesten von Panama-Stadt: Dort, am pazifischen Ozean gleich hinter der Landzunge mit ihren Traumstränden, liegt die berühmteste Wasserstraße der Welt. An dieser engen Stelle muss jedes Schiff vorbei, wenn es in den Panamakanal einlaufen will. Links geht der Blick auf die historische Altstadt mit ihren prachtvollen Kolonialgebäuden. Dahinter schimmern die Wolkenkratzer aus Glas und Stahl im boomenden Finanzviertel. Rechts warten Tanker, Containerschiffe und Kreuzfahrer darauf, in das Schleusensystem einfahren zu dürfen.

Lider Sucre ist Umweltaktivist und Direktor des neuen Museums für Artenvielfalt, das direkt am Amador Causeway in Panama-Stadt entsteht:

"Hier sehen Sie den Kanal und die Brücke Puente de las Americas. Unter dieser Autobrücke fahren die Schiffe durch. Hier beginnt der Panamakanal auf der pazifischen Seite."

Es ist heiß und schwül an der berühmtesten Wasserstraße der Welt. Sie verbindet Pazifik und Atlantik. Dazwischen liegen 80 Kilometer dampfender Urwald und Mangrovensümpfe, Seen und Schleusen.

40 Schiffe am Tag, 14.000 pro Jahr, passieren den Kanal. Eine Milliarde Dollar Gebühren kassiert der Staat dafür. Jeder dritte Dollar in Panama wird direkt oder indirekt mit dem Kanal verdient. Monate im Voraus buchen die großen Reedereien die Durchfahrt ihrer Flotte. Gefahren wird stets im Konvoi - morgens in Richtung Karibik, ab mittags von dort aus zum Pazifik.

Der Radio- und Fernsehjournalist José Miguel Guerra wird im Land als unabhängige Stimme mit publizistischem Gewicht geschätzt.

"Der Panamakanal ist ein Nationalheiligtum. Weder Regierung noch Opposition stellen ihn in Frage. Denn der Kanal bringt eine Menge Geld."

Panamas Zukunft hängt auf Gedeih und Verderb von seinem berühmten Kanal ab. Deshalb wurde 2006 eine Volksabstimmung durchgeführt - mit dem Ziel, die Wasserstraße für größere Schiffe passierbar zu machen und so die Einnahmen zu erhöhen. 78 Prozent der Bevölkerung stimmten dafür. Bis 2014 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein - rechtzeitig zum 100-jährigen Bestehen des Kanals. Dann werden neue, modernere, vor allem aber größere Schleusen auf der pazifischen und atlantischen Seite in Betrieb genommen. Damit soll den Anforderungen der immer größeren Schiffe entsprochen werden, die die alten Maximalmaße von 300 Metern Länge, 32 Metern Breite und 12 Metern Tiefgang überschreiten.

Schlepperkapitän Cristóbal Ruiz steht im engen Führerhaus seines 4.800 PS starken Schiffs. Seit 15 Jahren arbeitet er für die Autoridad del Canal, die staatliche Kanalbehörde. Heute ist er auf einem der mehr als 30 blauen, bullig wirkenden Schlepper unterwegs zu einem Kreuzfahrtschiff.

"Wir warten auf das Schiff, das wir zur ersten Schleuse bringen sollen. Die Seeüberwachungsleitstelle hilft uns dabei. Unser Schlepper gehört zur neuesten Generation und ist sehr leistungsstark. Wir arbeiten im Schichtdienst und bekommen täglich unseren Arbeitsplan. Wir wissen dann zwei Tage im Voraus, wen wir an den Haken nehmen. Aber das kann sich natürlich jederzeit ändern."

Am Ufer gegenüber liegen die riesigen grünen Schwimmbagger, mit deren Hilfe die Fahrrinne vertieft wird. Zusätzlich werden die bestehenden Wasserwege verbreitert. Kurven werden begradigt, damit sich Schiffe auch an diesen Stellen im Gegenverkehr gefahrlos nebeneinander bewegen können.

An Bord des Ozeanriesen, der auf die Passage wartet, klicken derweil Fotoapparate, summen die Camcorder. Die Touristen auf dem Kreuzfahrtschiff nutzen die Durchfahrt, um das achte Weltwunder für die Sofafotoshow zu Hause festzuhalten. Aber jetzt klettern erst einmal die Lotsen an Bord und übernehmen das Kommando - begleitet von Cristóbal Ruiz und einem weiteren Schlepperkapitän:

"Gewöhnlich starten die Schiffe, die im Pazifik auf die Fahrt durch den Kanal gewartet haben, zwischen zwei und drei Uhr nachts. Ab Mittag geht es in umgekehrter Richtung los, abends verlassen die Schiffe den Kanal bei Panama City."

Ein Werbefilm der Kanalgesellschaft, der Geschichte und Funktionsweise des Kanals sogar auf Deutsch erklärt. Die Miraflores-Schleuse liegt kurz hinter Panama-Stadt. Ihre mächtigen, tonnenschweren Tore öffnen sich nur langsam - angetrieben von lächerlich kleinen 44-PS-Motoren. Seit 1914 ist die Anlage im Einsatz. Doch nicht mehr lange. Direkt daneben entsteht derzeit das neue Schleusensystem mit jeweils drei hintereinander gestaffelten Becken. Die gigantischen Wasserfahrstühle sind für bis zu 366 Meter lange Schiffe ausgelegt.

"In Miraflores, der ersten Schleuse vom Pazifik herkommend, werden die Schiffe 16,5 Meter angehoben.”"

Etwa 8.000 Angestellte arbeiten für die staatliche Kanalgesellschaft: Taucher für Unterwasser-Schweißarbeiten an den Schleusentoren, Sprengstoffexperten, Meteorologen, Ingenieure und Schlepperbesatzungen.

Auch Miroslava Herrera ist dort angestellt. Sie sitzt in einem klimatisierten Büro über dem Besucherzentrum, in dem Mitarbeiter Touristen mit Informationen über den Kanal versorgen. Die junge Frau im Businesskostüm dokumentiert die verschiedenen Bauphasen der Kanalerweiterung. Die Gesamtkosten sollen sich schon nach zehn Jahren amortisiert haben.

""Für die US-Amerikaner war der Kanal zunächst nur Militärgelände. 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, entschieden sie, dass er erweitert werden müsste. Aber dazu kam es nicht. Erst 1999 wurden die Pläne wieder aufgenommen. Bei der Volksbefragung 2006 stimmten 78 Prozent der Panamaer dafür. Zurzeit passieren täglich 30 bis 40 Schiffe den Kanal. Damit ist die Kapazitätsgrenze erreicht. Die Weltwirtschaft verlangt aber immer größere Lade-Volumen. Der Welthandel wird immer umfangreicher, intensiver und schneller. Das neue Projekt besteht aus dem Bau zweier Schleusenanlagen - einer auf der Pazifikseite und einer auf der Atlantikseite."

Draußen haben sich die Schleusentore hinter dem Kreuzfahrtschiff geschlossen. Wasser läuft ein und bringt den Touristendampfer auf die Höhe des Wasserstandes der zweiten Kammer. Dorthinein ziehen ihn zwei Lokomotiven, deren Schienen parallel auf beiden Seiten der Kammern laufen.

Mit dem Schlepper geht es weiter. Hinter der Miraflores-Schleuse wächst der Dschungel entlang des Ufers buchstäblich in den Kanal. Es gibt keinen freien Uferstreifen, die Pflanzen greifen direkt ins Wasser.

Weil der Kanal durch natürliche Seen und Flüsse verläuft, öffnen sich Lagunen und Seitenarme, die in den Regenwald hineinragen. Lebensader für dieses artenreiche Biotop entlang der Wasserstraße ist der Río Chagres, der die Region und den Kanal mit Wasser aus dem Landesinnern versorgt.

Kritiker sehen diese außergewöhnliche Naturlandschaft in Gefahr - weil für die Kanalausbau Ufer begradigt und Regenwälder abholzt werden. Vorsorglich ließ die Kanalgesellschaft Faultiere, Schildkröten, Krokodile und andere Tierarten umsiedeln. Allerdings sagt der Umweltschützer Lider Sucre:

"Etwa 500 Hektar Sekundärwald, der nach dem ersten Kanalbau gepflanzt wurde und keine große Artenvielfalt aufwies, musste gerodet werden. Wichtig ist, dass er anderswo im Einzugsgebiet des Kanalwassers wieder aufgeforstet wird. Die große Sorge beim Kanalausbau ist, dass durch den Schiffsverkehr ein Artenaustausch der beiden Ökosysteme von Pazifik und Karibik stattfinden könnte. Die Bevölkerung ist sich dieses Problems überhaupt nicht bewusst - vor allem, was es für die Tier- und Pflanzenwelt bedeuten könnte, wenn sich das Wasser der beiden Ozeane vermischen würde."

Ein Außenborder tuckert auf dem Rio Chargres, der den Kanal mit Wasser versorgt. Für Nordamerikaner ist Panama als Ruhesitz attraktiv - und berechenbar, weil es den US-Dollar als Währung hat. US-Tycoon Donald Trump hat 2011 im wirtschaftlich aufstrebenden Kanalland das höchste Gebäude Lateinamerikas errichten lassen.

Wie die meisten Staaten Mittelamerikas ist auch Panama im Wesentlichen eine Zwei-Parteien Demokratie. Wenn es um die politische Macht geht, wird dem rechtsliberalen Präsidenten Ricardo Martinelli nachgesagt, nicht wählerisch zu sein. Offiziell gibt es keine Pressezensur. Doch in Panama stehen die Medien unter dem Einfluss verschiedener Interessengruppen, die mit den Parteien verflochten sind. Berichte über Korruption in den staatlichen Behörden und ihrer Funktionsträger sind an der Tagesordnung. Zu den unabhängigen kritischen Journalisten gehört José Miguel Guerra:

"Von Anfang an hatte der Durchschnitts Panamaer keinen Zugang zu Informationen. Alles, was mit der Erweiterung des Kanals zu tun hatte, wurde geheim behandelt. Erst nachdem über die Wasserverschwendung der Schleusen spekuliert wurde, hieß es, es werde eine Vorrichtung geben, um das Wasser zu recyceln. Als weitere Gerüchte aufkamen, wurde zu möglichen Umweltproblemen Stellung genommen. Auch die Kosten des Ausbaus sind bis heute nicht klar. Ich halte Transparenz aber für unabdingbar. Die zuständigen Stellen müssen die Bürger offen informieren. Es ist schließlich nicht ihr Geld, das sie ausgeben, sondern das Geld aller."

Je weiter sich die Schiffe von der Hauptstadt Panamas entfernen, desto wilder präsentiert sich die Uferlandschaft. Der Dschungel Panamas gehört zu den artenreichsten Ländern der Welt. In den Nebel- und Regenwäldern wachsen rund 10.000 tropische Pflanzenarten. Es gibt Jaguare, Nasenbären, Brüllaffen.

Dort leben auch die Emberá, Indios, die seit Generationen in ihren traditionellen, an den Seiten offenen Rundhütten wohnen, die auf hohen Stelzen stehen und so geräumig sind, dass sie Platz für eine Großfamilie haben.

Seit das Flussgebiet vor Jahren zum Nationalpark erklärt wurde, dürfen auch die Indios dort keine Bäume mehr fällen. Doch die Emberá brauchen das Geld, das sie mit dem Holz verdienen, für Kleidung, den Schulbus, das Bootsbenzin. Für den Biologen Lider Sucre dürfen Artenschutz und Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung keine Gegensätze sein.

"Unsere Gesellschaft muss zuerst einmal das eigene Naturerbe würdigen. Wir brauchen mehr Rechtsstaatlichkeit, besonders in den abgelegenen Gebieten Panamas. Illegale Abholzung und Landnahme sind dort sehr verbreitet. Wir sollten den Landbesitzern etwas geben, damit sie den Wald erhalten. Aber gleichzeitig den Leuten auch einen Ersatz für den finanziellen Verlust geben. Sonst wird in einigen Jahren der Regenwald zerstört sein."

Panamas Tourismusbehörde schwärmt in Werbevideos von den Naturschönheiten der Kanalregion. Biologen haben über 900 verschiedene Vogelarten und mehr als 1.500 unterschiedliche Schmetterlingsarten gezählt - mehr als in ganz Nordamerika, ein Füllhorn der Natur:

"Panama ist eine Brücke des Lebens. Ich gebe Ihnen dafür nur ein Beispiel: In Panama gibt es allein 2300 Baumarten. Die USA und Kanada kommen zusammen gerade einmal auf 1000. Das Gleiche gilt für Vögel und Orchideen."

Am Ende der Passage durch den Panamakanal taucht die Stadt Colón auf. Draußen, im offenen Meer liegen die Containerschiffe und warten auf Kapitän Cristóbal Ruiz für die Fahrt Richtung Panama-Stadt. Die Schleppercrew hat den Kreuzfahrer vom Haken genommen, der Lotse verabschiedet sich und geht von Bord. Das Schiff passiert die Wellenbrecher am Ausgang der Bucht. Der Karibikhimmel leuchtet in strahlendem Blau. Auf dem Panamakanal geht der Schiffsverkehr weiter - und im Radio singt Rubén Blades von der Schönheit seiner Heimat.
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