Namenskunde als Kulturgeschichte

Vorgestellt von Georg Gruber · 14.06.2005
"Der Eigenname eines Menschen ist (…) wie (…) die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen", schrieb bereits Goethe. Auch dieses Zitat ist zu finden auf einer neuen CD-Rom zur Einführung in die Namenskunde, in der alles über Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebiet zu finden ist.
Sich Namen auszudenken ist ein beliebtes Gesellschaftsspiel unter werdenden Müttern und Vätern: Christine, 1978 noch auf Platz eins der weiblichen Vornamen in Westdeutschland, verschwand Anfang der 90er aus den Top-Ten, die nun schon seit Jahren von Marie und Maria angeführt werden. Bei den Jungen war zur Jahrtausendwende Leon der beliebteste Vorname - auch weil viele Eltern diesen Namen damals noch für ausgefallen hielten:

"Modenamen liegen gleichsam in der Luft. Kaum haben Eltern ihrem Kind einen ihrer Ansicht nach schönen und nicht sehr häufigen Namen gegeben, hören sie überraschend oft, dass in ihrer Umgebung sehr viele Kinder genauso heißen. Was Auftreten und Wechsel von Modenamen bewirkt, ist noch weitgehend offen."

Beobachten lässt sich freilich, dass der Rhythmus, in dem die Modenamen wechseln, immer kürzer wird.
Der Atlas Namenkunde gibt einen erstaunlich detailreichen Überblick über Entstehung, Geschichte und Bedeutung der Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachraum, ist also weit mehr als ein Namenslexikon für werdende Eltern. Eine wissenschaftliche Einführung, die bei den Germanen beginnt:

"In germanischen Rufnamen sind bestimmte semantische Bereiche wie Kampf oder Tierwelt stark vertreten. Dagegen treten andere Bereiche zurück, etwa Güte und Milde oder die Pflanzenwelt, aus denen andere Völker gern ihre Namen schöpfen. Germ. Frauennamen unterscheiden sich hinsichtlich der bevorzugten semantischen Bereiche nicht wesentlich von den Männernamen."

Der Autor, Prof. Konrad Kunze, lehrt deutsche Sprache und ältere deutsche Literatur an der Universität Freiburg (im Breisgau), ist ein Experte für Sprachgeschichte, Dialektologie und Namenkunde. Die Texte sind knapp und nüchtern, wissenschaftlich, ohne langweilig zu sein und auch für Laien verständlich.

"Jahrtausende … trug man bei den Germanen und anderen Völkern nur einen Namen: Wulfila, Moses, Platon."

Erst seit dem 12. Jahrhundert finden sich in Urkunden und anderen Quellen im deutschen Sprachraum vermehrt Ruf- und Beinamen:

"Dabei wird oft der Beiname ausdrücklich als solcher gekennzeichnet: Giselher genant Obstbauer. Damit beginnt der entscheidendste Einschnitt unserer Namengeschichte: der Übergang von der Einnamigkeit zur Zweinamigkeit."

Namenkunde ist immer auch Kulturgeschichte, die Namen ein Spiegel der Zeit. So war zum Beispiel die Christianisierung einer der Gründe für das Schwinden germanischer Rufnamen im Mittelalter, mit der Heiligenverehrung wurden biblischen Namen immer beliebter, die in protestantischen Gebieten zu Reformationszeiten wiederum nicht mehr so hoch im Kurs standen.
Der Atlas Namenkunde eröffnet so neue Perspektiven, gibt den Namen einen anderen Klang:

"Schiller zum Beispiel, kommt von Schielen. Und Schröder von "schroten", norddeutsch für schneiden. "

Über eine Suchfunktion lassen sich solche Details im Volltext recherchieren.
Die Installation der CD-Rom, die auf dem bei dtv erschienen gleichnamigen Standardwerk beruht, ist einfach, auf ausgefallene Gimmiks wurde gänzlich verzichtet. Der Aufbau ist klar strukturiert und übersichtlich, die Kapitel einzeln aufrufbar. Ein Register erschließt cirka 9000 besprochene Namen. Auch die 251 Grafiken, Tabellen und Karten lassen sich einzeln ansteuern. Die Karten zeigen regionale Besonderheiten der Namensgebung, eine Karte zeigt etwa, wie sich Schröder und Schneider auf Deutschland verteilen, die Grenze verläuft durch Kassel. Eine andere zeigt, in welchen Jahrhunderten Namen aus dem Ausland nach Deutschland kamen:

"Isabel und Ferdinand im 16. Jahrhundert, Annette und Babette im 17. und 18. Jahrhundert, Knut und Olaf erst im 19."

Der Atlas gibt auch Einblicke in die wissenschaftliche Arbeit:

"Telefonverzeichnisse bieten eine namenkundliche Datenbasis ersten Ranges. Sie wird hier erstmals umfassend für Deutschland genutzt."

Und aus 28,5 Millionen Einträgen ergibt sich dann auch, was man schon lange geahnt hatte: Müller, Schmidt und Meyer (in den verschiedenen Schreibvarianten) sind die häufigsten Familiennamen in Deutschland.
Die Anzahl der Vornamen wächst indessen immer weiter, Pan, Wayan, Thyra, und der regionale Bezug verliert sich immer mehr. Schon 1899 ließ deshalb Theodor Fontane im Stechlin den Titelhelden eine "Namensmanscherei" kritisieren:

"Was ein Märkischer ist, der muss Joachim heißen oder Woldemar. Bleib im Lande und taufe dich redlich."

Konrad Kunze: Atlas Namenkunde. Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebrauch
Digitale Bibliothek 124, Verlag der Directmedia Publishing GmbH
15 Euro