Nackt-Zensur beim CSD?

Mehr Perversion für alle!

Beim Christopher Street Day (CSD) in Berlin zogen am 22.07.17 tausende Teilnehmer vom Kurfuerstendamm zum Brandenburger Tor in Berlin.
Statt Freizügigkeit zu zensieren, sollte der Stuttgarter CSD die Ausweitung der Perversion auf alle fordern, findet Tobias Herzberg. © imago/epd
Von Tobias Herzberg · 28.07.2017
Beim diesjährigen Stuttgarter CSD-Umzug soll eine Jury darüber wachen, dass die Teilnehmer nicht allzu freizügig unterwegs sind. Völlig falsch, findet Tobias Herzberg. Denn maximale Auffälligkeit zu erzeugen für jene Lebensweisen, die nicht dem Mainstream entsprechen, war schließlich einmal genau das Ziel der CSD-Proteste
Wenn morgen die Parade zum Christopher Street Day durch die Stuttgarter Innenstadt zieht, wird erstmals eine sogenannte "Paradejury" darüber wachen, dass die Demonstrierenden nicht zu viel nackte Haut zeigen. Die Jury soll den "politischen Charakter" der Demonstration im Blick behalten, so heißt es auf der Website der Veranstalter. Und weiter ist dort zu lesen: "Auffälligkeiten werden dokumentiert und an den CSD-Verein übermittelt." Wer zu sehr auffällt, riskiert, im nächsten Jahr nicht mitlaufen zu dürfen.

Queere Selbstzensur ist neu

In der queeren Szene ist eine solche Form der Selbstzensur neu. Bloß nicht auffallen, "normal" sein wollen – das waren nicht die Motive der Befreiungsbewegungen von Lesben, Schwulen, von Trans- und Intersexuellen in den letzten 40 Jahren. Offenbar will man in Stuttgart nach der Bundestagsentscheidung über die "Ehe für alle" jetzt bloß nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.
"Endlich", so die Einstellung vieler bürgerlich orientierter Schwuler und Lesben, "können auch wir unter die Haube – und die Mehrheit hat gezeigt, dass sie vor uns keine Angst mehr hat. Lasst uns nun allen demonstrieren, wie normal und vernünftig wir sind, bevor der Wind sich wieder dreht."
Der Christopher Street Day in Berlin (2016).
Der Christopher Street Day in Berlin (2016).© dpa / Revierfoto
Klar, dass diese Sehnsucht nach Normalität und Anerkennung von all jenen gestört wird, die noch nie normal sein wollten: von all jenen Polygamistinnen, SM-Freaks und Lederlesben, die ihre Lebensweise hier feiern wollen. Alle Kerle, Tunten, Femmes und Butches, die ihre nackten Ärsche, Brüste und gepiercten Nippel zeigen wollen, haben jedes Recht der Welt, dies beim CSD zu tun!

Ziel: Sichtbarmachung anderer Lebensrealitäten

Maximale Auffälligkeit zu erzeugen für jene Lebensweisen, die nicht dem Mainstream entsprechen, war schließlich einmal genau das Ziel der ersten Proteste, die 1969 in der New Yorker Christopher Street begannen. Und darum geht es bis heute bei den Paraden rund um den Globus: um die Sichtbarmachung anderer Lebensrealitäten.
Dass ein solch schamloses Zurschaustellen fröhlich gelebter Perversionen die Stuttgarter Schaulustigen am Rande der Parade verstören könnte, gehört dazu. Denn der "politische Charakter" der Parade, um den das Organisationsteam offenbar derart besorgt ist, dass es in vorauseilendem Gehorsam eine Anstandsjury eingesetzt hat, zeigt sich unter anderem genau darin, dass hier die Moralvorstellungen unserer Gesellschaft herausgefordert werden und werden sollen.
Und wahrscheinlich findet der eine oder die andere Schaulustige genau durch die Nackten und Perversen Zugang zu seinem oder ihrem eigenen Begehren, zur eigenen Sexualität.

Minderheitenrechte sind kein Nischenthema

"Pervers" ist übrigens lateinisch und heißt, wie das ursprünglich aus dem Althochdeutschen stammende "queer": "verdreht", "verkehrt", "verquer". Die queeren Perversen feiern am Christopher Street Day Vielfalt, Sex und das Leben selbst. Wie die Befreiungsgeschichte jeder Minderheit hat auch die queere Emanzipation dazu beigetragen, die westlichen Gesellschaften liberaler und glücklicher zu machen.
Minderheitenrechte sind kein Nischenthema. Sex und Nacktheit sind kein Minderheitenthema. Dessen sollten sich die Stuttgarter CSD-Organisatoren bewusst sein. Es sollte darum gehen, dass viele, sogar die meisten, eine queere, eine perverse Seite an sich entdecken können. Und darum, dass das gar nichts Schlimmes ist.
Statt also Freizügigkeit zu zensieren, sollte der Stuttgarter CSD im Gegenteil die Ausweitung der Perversion auf alle fordern!

Tobias Herzberg studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Theaterregie in Hamburg und Zürich. Seit August 2016 arbeitet er am Studio Я des Berliner Maxim Gorki Theaters, wo er zum Beginn der neuen Saison die künstlerische Leitung übernimmt. In seinem Solostück "Feygele", das im Studio Я zu sehen ist, setzt er sich aus queerer Perspektive mit seiner eigenen jüdischen Identität auseinander.

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