Nachbarschaft im Kiez

Wie Berliner die Anonymität der Großstadt überwinden

Das Pallasseum (ursprünglich Wohnen am Kleistpark, im Volksmund "Sozialpalast") ist ein Wohnblock im Berliner Ortsteil Schöneberg. Das Gebäude wurde 1977 nach Entwürfen des Architekten Jürgen Sawade errichtet.
Einsam neben vielen Nachbarn: Wohnblock im Berliner Ortsteil Schöneberg. © dpa / picture alliance / Markus C. Hurek
Von Susanne Schrammer · 19.12.2016
Das Leben in der Metropole kann sehr spannend sein, ist aber oft eher kalt und einsam. Gerade in der Hauptstadt Berlin leben viele Menschen in großen Mietshäusern, ohne ihre Nachbarn zu kennen. Wie lässt sich das ändern?
Quitterer: "Ja, der sieht schon gut aus. Noch zwei Minuten."
Stephanie Quitterer wirft einen zufriedenen Blick in den Backofen: Der dunkle Teig steigt langsam über die runde Metallform. Kuchenduft füllt die winzige Berliner Küche. Am alten Holztisch hat Töchterchen Marie ihre Filzstifte ausgebreitet und malt.
Quitterer: "Das wird eine Schokotarte und die ist unglaublich lecker und wahnsinnig einfach. Sie hat auch einen weichen Flüssigkern - das Ding ist … Eigentlich sollte das verboten sein."
Vor etwa fünf Jahren hat Stephanie Quitterer so gut wie jeden Tag einen Kuchen gebacken. Hat ihn in einen Korb gepackt, dazu Schraubdeckelgläser mit Kaffee, Tee, Kakao, Zucker und Milch. Dann ist die zierliche Frau mit den großen blauen Augen runter auf ihre Straße gegangen, hat allen Mut zusammen genommen und an vielen fremden Haustüren geklingelt - um ihre Nachbarn kennenzulernen.
Quitterer: "Ich hab mit mir selber gewettet, dass ich mich traue, in 200 Tagen 200 Leute in ihren Wohnungen zu besuchen – unangemeldet und spontan. Ich war noch in Elternzeit und ich hatte noch genau 200 Tage übrig. Wild geklingelt, jeden Tag, so lange bis mich tatsächlich jemand reingelassen hat."
Reporterin: "Hat Sie das gar keine Überwindung gekostet?"
Quitterer: "Oh doch, das hat mich auch bis zuletzt immer noch Überwindung gekostet. Und gerade, bevor ich zum ersten Mal losgezogen bin, hab ich 30 Kuchen gebacken, die ich dann immer und jedes Mal selbst und allein gegessen habe, weil ich mich dann doch nicht getraut hab', loszugehen. Es war dann immer eine Ausrede parat, warum: Es war dann schon zu spät, da kann man nicht mehr klingeln gehen oder der Kuchen war missraten oder was man sich halt so ausdenkt, um nicht losgehen zu müssen."
Stephanie Quitterer ist damals Ende 20, gerade Mutter geworden und zu ihrem Mann, einem Musiker, nach Prenzlauer Berg gezogen - einem Berliner Stadtteil, der in den vergangenen 20 Jahren einen starken Wandel vollzogen hat: vom alternativen Szeneviertel zur Gentrifizierungshochburg. Der jungen Frau, die bisher als Regieassistentin gearbeitet hat und noch kaum jemanden in der neuen Umgebung kennt, fällt kurz nach der Geburt von Marie die Decke auf den Kopf.
Quitterer: "Ich war plötzlich nicht mehr den ganzen Tag und Abend und die Nacht am Theater, sondern Kinderwagen schiebend auf der Straße und da ist mir aufgefallen, wie stark die Feindbilder sind, die hier so kursieren. Mit den Prenzlauer-Berg-Müttern, den Alteingesessenen, den Zugezogenen, den Süddeutschen, den Yuppies, den Schwaben und was man noch so für fröhliche Feindbilchen hat.
Auf der anderen Seite sind hier aber auch noch sehr viele Häuser, zumindest hier bei uns in der Straße, die von außen zwar saniert aussehen, die aber dahinter - wenn man mal hinter die Fassade schauen mag – noch Kohleofen haben und Etagenklos, die auch noch in Benutzung sind bei einigen Parteien. Und da hat mich interessiert, was da wirklich so dran ist, an diesen Feindbildern und wer hier eigentlich wirklich wohnt. Und dann war ich natürlich auch neugierig auf die Wohnungen, das bin ich schon immer und dachte, das lässt sich doch vielleicht gut kombinieren."
Ausgerüstet mit ihrem Kuchenkörbchen steht Stephanie Quitterer wenig später vor den ersten unbekannten Türen. Dreimal hat sie kein Glück, doch die vierte Nachbarin lässt sie herein.
"Quitterer, und die hat die Tür nur einen Spalt weit aufgemacht, weil sie dachte, dass ich ihre Mitbewohnerin bin. Und ich stand also vor dieser spaltbreit geöffneten Tür und sie tauchte nicht auf, dann ging drinnen die Musik an, sehr laut und ich stand immer noch vor der Tür und ich so: Hallo? Hallo? Weil sie mich aber nicht gehört hat vor lauter Hausmusik, hab ich dann nochmal geklingelt und sie ist dann um die Ecke gebogen und kam aber offenbar grad aus der Dusche, denn sie war halbnackt.
Und ist wahnsinnig erschrocken, weil ich als fremder Mensch und nicht als ihre Mitbewohnerin vor der Tür stand. Und ich bin auch wahnsinnig erschrocken, weil’s mir total unangenehm war und sie hat mich aber reingelassen. War Italienerin und hat sich wahnsinnig gefreut und meinte: Was für eine lustige Idee und sie mag alle Leute, die eine Idee im Kopf haben und die dann machen. Natürlich trinken wir den Kaffee - komm' rein! Und dann war ich in ihrer Wohnung."
Es folgen Dutzende dieser Hausbesuche: Die heute 34-Jährige wird in chaotische Studentenbuden gelassen, sieht durchgestylte Designer-Appartements, trifft Ehepaare, die seit Jahrzehnten im Kiez wohnen und Zugezogene - nicht nur aus Schwaben. Quitterer beginnt, über ihre Erlebnisse zu schreiben. Erst in einem Internetblog, später erscheint ein Buch über ihr Experiment: "Hausbesuche: Wie ich mit 200 Kuchen meine Nachbarschaft eroberte".
Iris: "Hallo!"
Fünf Jahre später trifft Stephanie Quitterer erneut eine der Nachbarinnen, die sie auf diesem Weg kennengelernt hat: Iris Romen. Die gebürtige Niederländerin aus Maastricht wohnt nur wenige Häuser entfernt, doch bewusst begegnet waren sich die Frauen vorher nie. Bis Quitterer unerwartet vor der Tür stand.
Romen: "Ich fand das total schön. Ich hatte auch Zeit, weil mein Sohn Mittagsschlaf gemacht hat und das war total süß."
Reporterin: "Was ist Ihnen damals durch den Kopf gegangen? Es ist ja nicht unbedingt selbstverständlich, dass man jemanden reinlässt, der vor der Tür steht und sagt: Ich würde gern Kuchen mit Ihnen essen…Wieso haben Sie die Tür aufgemacht?"
Romen: "Sie klang total nett, einfach. Ich dachte, da kann nicht viel passieren, was ich nicht möchte, da kann ich schön plaudern, das mache ich ja auch gern."
Obwohl sich die beiden nach dem ersten Kuchenbesuch nur hin- und wieder zufällig auf der Straße getroffen haben, stimmt die Chemie sofort. Sie selbst, erzählt Iris Romen beim Kuchenessen würde sich nie trauen, einfach so an fremden Türen zu klingeln.
Romen: "Hattest Du auch manchmal Angst – zum Beispiel bei allein stehenden Männern oder so?"
Quitterer: "Einmal, da hat mich einer eingesperrt."
Romen: "Huch! Ernsthaft? Bewusst?"
Quitterer: "Nein, ich glaube nicht. Es gibt ja so Leute, die hinter sich absperren, wenn sie in die Wohnung kommen. Der hat also hinter sich abgesperrt und ich dachte so: Oh Gott, das war’s jetzt, das ist das Ende. Sehr sehr skurrile Wohnung, sehr skurriler Typ und dann saß ich da und er hatte ein Maisonette und hat oben den Tee zubereitet und hat mir den Tee dann gegeben. Und ich war schon total im Tatort-Modus und dachte: Was ist da drin? Was hat er mir da reingerührt? Und dann saß ich da drei Stunden bei ihm und konnte diesen Tee nicht mehr runterkriegen, dachte nur: Kippe ich den Tee jetzt in meinen Korb?"
Stephanie Quitterer klingelt bei mehr als 2800 "Nachbarn"
Romen: "Und wie hat er Dich rausgelassen?"
Quitterer: "Ganz normal natürlich! Und dann hat er mich umarmt und hat gesagt, es war total schön, dass ich soll unbedingt wiederkommen und früher wären die Leute viel öfter losgegangen und hätten sich besucht und dann war ich wieder draußen."
Am Ende drückt Stephanie Quitterer auf insgesamt 2893 Klingeln und lernt 200 Nachbarn kennen. Aus manchen sind sogar Freunde geworden. Natürlich gab’s auch Abfuhren und zugeknallte Türen. Auf jeden Prenzlauer, der sie reingelassen hat, kamen etwa fünf Absagen. Doch am Ende, sagt Quitterer, zählen die, die so mutig waren, ihre Türen aufzumachen.
Quitterer: "Diese Freude und diese Neugier und diese Offenheit der Menschen zu erleben, war unglaublich toll. Jetzt fühle ich mich hier richtig wohl, jetzt ist es wunderbar und ich könnte jetzt auch nicht mehr so leicht wegziehen, weil ich wüsste, ich möchte dann noch mal 200 Tage losgehen und irgendwo klingeln und die Leute kennen lernen, denn jetzt bin hier angekommen und auch sehr glücklich."
Ortswechsel. Vom hippen Prenzlauer Berg geht es jetzt in den beschaulichen Stadtteil Berlin-Steglitz, genauer gesagt zum Markusplatz. Mit dem Namensvetter in Venedig hat dieser Markusplatz nichts gemein - vielleicht von der Kirche mit dem hohen Glockenturm mal abgesehen. Auf dem von Jugendstilvillen gesäumten Platz dominieren eine Rasenfläche mit Obstbäumen, Blumenbeete, Gartenbänke und ein Brunnen. Ein großer hagerer Mann mit Schiebermütze fegt gerade Laub zusammen.
Helmut Lübbecke: "Ich gehe eigentlich täglich mal über den Platz, schaue wie es aussieht, ob viel Müll da liegt und ich hab mir auch angewöhnt, den ganz groben Müll, der um die Müllbehälter rum auf der Erde liegt, einzusammeln."
Helmut Lübbecke, ein pensionierter Lehrer, lebt schon seit mehr als 20 Jahren am Steglitzer Markusplatz. Der 68-Jährige gehört zu den Initiatoren eines Nachbarschaftsgartens, der hier vor fast drei Jahren entstanden ist. Jetzt im Spätherbst sind die Sonnenblumen und Rosen längst verblüht, doch die zwölf Beete im Schatten der Kirche sind dank privater Paten aus der Nachbarschaft sichtbar gut gepflegt. Das war nicht immer so.
Helmut Lübbecke: "Der Brunnen war vollgeschmiert, voll mit Graffiti, er lief seit 15 Jahren nicht. Da, diese Pergola, war vollgetagt mit Graffitti. Die Hunde haben auch das Ihre dazu getan, dass sich niemand auf die Rasenflächen getraut hat, man musste auf der Wiese sehr vorsichtig sein, um nicht in Tretminen zu landen, also es war richtig unansehnlich."
Doch der Steglitzer Initiative ging es nicht allein darum, dem Platz eine frische Optik zu geben, er sollte auch eine Art Kieztreff werden. Denn obwohl es hier vielleicht kleinbürgerlich wirkt, eine echte Nachbarschaft gab es nicht.
Helmut Lübbecke: "Für mich ganz persönlich war eine Triebfeder - ich bin dann in Pension gegangen - mir wurde dann so klar: Ich werde den Rest meines Lebens hier an diesem Platz verbringen, es gibt keinen Grund, da weg zu ziehen – wie hätte ich’s denn gern? Was fehlt mir denn, damit ich mich hier wohl fühle. Und da kam der Gedanke: Es gibt so viele Leute hier in den umliegenden Häusern, die kenne ich vom Sehen her, aber wir gehen aneinander vorbei als würden wir uns zum ersten Mal sehen.
Das ist doch eine unwürdige Situation, die mir nicht gefallen hat. Und dann habe ich einfach mal angefangen und unseren Nachbarn gegrüßt. Wow, der hat ganz groß geguckt. Und es hat ne ganze Zeit gedauert, bis er zurück gegrüßt hat. Gut, das war jetzt nicht der Anfang dieser Aktion, aber es war für mich eine wichtige Erkenntnis: ich kann was dazu tun, dass ich mich hier wohl fühle."
Inzwischen sind mehr als zwei Dutzend Anwohner im Nachbarschaftsgarten aktiv, auch die Kinder der angrenzenden Grundschule und aus dem Hort. Die Steglitzer Bezirksverwaltung stellt das Material, die Anwohner ihre Arbeitskraft zur Verfügung. Regelmäßig wird zusammen gefeiert, zum Beispiel ein Weinfest im Sommer. Und der Markusplatz wächst - nicht nur, was die Bepflanzung angeht. Am Straßenrand hat die Initiative eine bunt bemalte Telefonzelle aufgestellt.
Danielewicz: "Ok, jetzt gehe rein in die Bücherbox, ich weiß nicht, ob wir beide reinpassen, das Mikro auf jeden Fall …"
Dorota Danielewicz quetscht sich in die Metallkiste. Dort, wo früher der Fernsprechapparat zu finden war, hängen heute mit Bücher gefüllte Regale.
Danielewicz: "Was haben wir? Fritz Rudolf Fries: Die Nonnen von Bratislava, was ganz Besonderes. John Steinbeck 'König Artus' - also, ich muss sagen, dass die Anwohner von dieser Gegend wirklich einen sehr guten Geschmack haben, dass man hier einige Schmöker findet. Unten: Auch nochmal Romane, Krimis und Science Fiction, 12plus – also Literatur für Jugendliche. Und was macht da Susanne Fröhlich 'Runzel-Ich' bei 12plus? Das wird gleich aussortiert und hochgepackt- das geht ja gar nicht. Jemand hat sich einen Scherz erlaubt."
Die in Polen geborene Autorin und Journalistin guckt regelmäßig in der Bücherbox nach dem Rechten. Das Prinzip ist einfach: Bücher, die die Anwohner nicht mehr brauchen, stellen sie den Nachbarn kostenlos zur Verfügung. Auch ein Beitrag, der den Platz als Begegnungsort attraktiv macht.
Und immer wieder gibt es neue Ideen: Auf dem Kirchturm wurde ein Nistplatz für den Turmfalken eingerichtet, an der Grundschule ein Bienenstock, und auch im nächsten Jahr will die Initiative aktiv bleiben. Mit dem Garten ist auch die Nachbarschaft in Steglitz aufgeblüht.
Unsere nächste Station auf der Suche nach nachbarschaftlichen Beziehungen in der Anonymität der Großstadt Berlin führt uns in den Schiller-Kiez. Genauer gesagt in einen Hausflur, der zufällig offen stand. Wir sind verabredet mit Joab Nist, dem Macher von "Notes of Berlin".
Nist: "Wir sind hier auf der Suche nach Zetteln, die sich Nachbarn gegenseitig schreiben. Es ist halt ein großes Phänomen, dass man gewissen Konflikten lieber aus dem Weg geht und auch anonym bleiben möchte oftmals und dann einen Zettel im Hausflur aufhängt: Von 'Wer hat mir gestern in den Kinderwagen gepinkelt?', es gibt Zeitungen, die verschwinden, es gibt Sachen, die die Leute einfach nur kurz im Hausflur abstellen – ob das Pflanzen sind oder Einkaufstüten, die dann abhanden kommen, Menschen, die nachts besoffen, laut den Hausflur hinaufkriechen. Ja, es ist halt alles da, was so den Alltag einer Großstadt ausmacht und Menschen, die dann auf engem Raum zusammenleben, bekommen davon eben alles mit."
"Notes of Berlin" ist ein Internetblog, der täglich vor Augen führt, worüber sich Berliner Nachbarn ärgern. Nist sammelt abfotografierte Zettel im öffentlichen Raum und stellt sie ins Netz - darunter auch viele in Berliner Hausfluren. Nachbarn beschweren sich über nächtliches Trommeln, laut streitende Paare, nackte Kiffer, beschimpfen Mülltrennungsverweigerer oder Kondom-aus-dem-Fenster-Werfer. Freundliche Entschuldigungen oder Danksagungen kommen auch vor, sind aber eher die Ausnahme.
Nist: "Auf dem Zettel kannst Du erstmal die ganze Wut rauslassen, den ganzen Frust über die nicht geschlafene Nacht und was auch immer und da fühlt man sich erstmal besser. Das beobachten wir schon, dass viele Zettel, dass man so das Gefühl hat, das ist aus dem Eifer des Gefechts heraus formuliert und würde man so wahrscheinlich gar nicht mehr drüber sprechen.
Aber es muss halt erstmal raus und das macht es umso kostbarer, weil das sind Formulierungen, da fallen Wörter, die kann sich keine Werbeagentur der Welt einfach so nachstellen, das muss halt so von der Person heraus kommen, die es gerade so empfunden hat und das ist ja auch ein Geheimnis, warum die Zettel so beliebt sind."
Notes of Berlin ist als Community-Blog angelegt, die meisten der Zettel erhält der 33-Jährige inzwischen von Lesern, etwa 15.000 Einsendungen sind in den vergangenen Jahren zusammen gekommen, gut ein Viertel schafft es auf den Blog. Doch Joab Nist ist auch täglich selbst auf der Suche. Auf unserem Spaziergang durch Neukölln schließt der gebürtige Münchner den Reissverschluss seines Parkas und hält die Handy-Kamera griffbereit.
Nist: "Ich kann gar nicht mehr durch die Stadt laufen ohne nicht überall nach Zetteln Ausschau zu halten, dann entwickelt man irgendwann ein Bewusstsein dafür: Da könnte was hängen, da schaue ich mal genauer hin. Ich wollte Berlin eigentlich so kennen lernen, wie man es nicht aufgeschrieben finden kann und da bin ich auf die Zettel gestoßen, weil ich mit meiner Kamera durch die Stadt gezogen bin und auch da eben neugierig war, was ist das eigentlich für ein Hinterhof, was ist das für ein Hausflur, was ist das für ein Kiez, wer könnte hier wohnen, was beschäftigt die Menschen hier und die Zettel haben mir dann Schritt für Schritt einen Einblick gegeben in die Alltagswelt von den Menschen, die hier wohnen. Dann ist auch die Idee entstanden: Haue ich das Ganze mal ins Netz und gucke, ob die Leute die Idee verstehen und an Notes of Berlin denken, wenn Sie einen Zettel sehen."
Reporterin: "Als ich mir das angeguckt habe, ist mir aufgefallen: Also beim Thema Müllentsorgung und vor allem Lärmbelästigung da kennen die Berliner echt überhaupt keinen Spaß, da sind die auch sehr drastisch in den Ausdrücken. Man hat wirklich das Gefühl, manche Berliner scheinen ihre Mitmenschen echt zur Weißglut zu treiben. Sind die Berliner rücksichtslose Nachbarn?"
Nist: "Nee, Ich glaube, Berliner sind an sich sehr tolerant, aber ich glaube auch, dass einige Bewohner in Berlin sich vielleicht härter sozusagen gehen lassen, was das anbelangt, im Vergleich zu anderen Städten, weil man denkt: Ja, das kann man hier ja machen. Hier schmeißt doch jeder sein Zeug hin, jeder macht doch hier Party.
Ich kann doch im Hausflur kiffen, das macht doch jeder, dann mach ich’s halt auch. Und dann klar. Dann ist man irgendwann einfach mit den Nerven so am Ende und dann nimmt der Berliner aber auch kein Blatt vor den Mund. Muss er auch, weil sonst findet er kein Gehör."

"Wir haben keine Kohle, aber wir backen Euch einen Kuchen"
Der Blogger marschiert – den Blick immer auf die Häusereingänge gerichtet - zügig über die laubbedeckten Bürgersteige Neuköllns. Nists Blick fällt auf eine rote Backsteinwand, die über und über mit Plakaten, Graffiti und Zetteln bestückt ist. Ein selbstgemalter sticht besonders hervor: "Liebe Nachbarn", steht dort geschrieben," wir sind auf der verzweifelten Suche nach einer Drei-Zimmer-Wohnung, maximal 950 Euro warm. Wenn Ihr was wisst, gebt uns gern Bescheid, Ihr würdet eine kleine Familie sehr glücklich machen."
Nist: "Ja, das ist ein Klassiker. Wohnungssuche ist ein Riesen-Thema in Berlin, und viele suchen seit Jahren auch mit Zetteln. Wir haben da ganz unterschiedliche Wohnungsgesuchzettel: Leute, die bieten 2000 Euro Provision und glauben, damit kriegen sie den Zuschlag und andere versuchen es genau anders rum und sagen: Wir haben keine Kohle, aber wir backen Euch einen Kuchen oder wir bringen einen Kasten Bier vorbei. Wir finden natürlich immer die kreativsten am sympathischsten."
Reporterin: "Würde der Zettel das jetzt auf den Blog 'Notes of Berlin' schaffen?"
Nist: "Der ist jetzt zwar sehr sympathisch, aber er ist relativ Standard. Und wir versuchen schon immer möglichst Zettel zu posten, die man so vielleicht noch nicht direkt gesehen hat, von daher würden wir den wahrscheinlich eher nicht posten."
Reporterin: "Was sind denn die Kriterien?"
Nist: "Das Bauchgefühl muss anspringen, man muss selber das Gefühl haben, das würden auch andere gerne lesen wollen und dann sollte der Zettel Berlin in welcher Weise auch immer den Nerv treffen.
Ob das dann einfach die Wut ist, die jemand zum Ausdruck bringt, die Verzweiflung, die Hoffnung, die Dankbarkeit, die Einsamkeit - man sollte das Gefühl haben, wenn man den Zettel gelesen hat: Ja, stimmt. Det is Berlin."
Klose: "So, jetzt wird’s mal etwas lauter."
Kraftvoll drückt Stefan Klose den Staubsauger über den ockerfarbenen Teppich. Das eckige weiße Gerät stammt noch aus DDR-Zeiten, aber funktioniert noch ganz prima im Wohnzimmer von Erika Becker in Berlin-Mahlsdorf. Während Klose in seinen Birkenstocksandalen vorsichtig um die in die Jahr gekommene Ledercouch herumsaugt, darf die 77-Jährige mit dem markanten grauen Meckischnitt sitzen bleiben.
Becker: "Stefan Klose kommt ja schon über zwei Jahre so etwa einmal in der Woche für etwa drei Stunden und macht die schweren Sachen, die ich nicht so schaffe."
Reporterin: "Was denn zum Beispiel?"
Becker: "Gartenarbeit zum Beispiel und Hausputz - so auf der Leiter irgendwas machen, dazu bin ich zu kippelig. Also, ich hätte auch nie gedacht, dass ich im Alter nicht mehr so laufen kann und mich bewegen kann, aber das ist nun so und da ist es ne wunderbare Hilfe für mich."
Erika Becker und Stefan Klose bilden ein Tandem im Projekt "Wechselweise - Nachbarn helfen Nachbarn". Es wurde vor vier Jahren in Leben gerufen und richtet sich an Bewohner aus Berlin Hellersdorf-Marzahn und dem angrenzenden Siedlungsgebiet Kaulsdorf-Mahlsdorf.
Ehlert: "Alles klar - hallo Stefan!"
Klose: "Ja, watt denn?"
Becker: "Ich freue mich, dass Sie gekommen sind!"
Ehlert: "Frau Becker, wie machen Sie das? Sie sehen von Jahr zu Jahr jünger aus."
Becker: "Bitte?"
Ehlert: "Wie machen Sie das, Sie sehen von Jahr zu Jahr jünger aus!"
Becker: "Ach, Danke! Dit is aber leider nur äußerlich."
Projektleiter Uwe Ehlert ist heute vorbeigekommen. Der 52-Jährige ist das Herz des Projektes und bringt die Nachbarn zusammen, die Hilfe brauchen bzw. Lust haben, zu helfen.
Zwei Jahre lang wurde Wechselweise vom Bundesfamilienministerium gefördert, zurzeit werden neue Unterstützungsmöglichkeiten ausgelotet. Unser Ziel ist es, sagt Ehlert und greift nach den Marzipankartoffeln, die nachbarschaftlichen Beziehungen und das Miteinander im Bezirk zu verbessern.

Wie die Idee einer Nachbarschaftshilfe entstand
Ehlert: "Uns ist aufgefallen, dass wir immer mehr ältere Menschen und immer mehr ältere Menschen den Wunsch und den Willen haben, in ihren eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben, aber oftmals fehlt es an Unterstützung. Entweder sind die Kinder weggezogen oder man hat gar keine Kinder, und so sind wir auf die Idee gekommen, eine Nachbarschaftshilfe zu organisieren.
Ein Anlaufpunkt, wo sich Menschen, die helfen wollen, die Interesse daran haben, melden und dass wir diese Menschen weiter vermitteln. In der Regel sind es ältere Menschen, die unsere Hilfe suchen, weil jüngere Menschen haben ihren Bekanntenkreis, wo man sich untereinander hilft, ältere Menschen haben auch ihren Bekanntenkreis, da fällt die Hilfe aber aus, weil dieser Bekanntenkreis meist auch vor denselben Problemen steht: Es geht um Begleitung zum Arzt, es geht um Einkaufsmöglichkeiten, es geht auch darum, auch mal ne Glühbirne zu wechseln oder auch mal ein Loch zu bohren in der Wand – eine 87-Jährige ist dazu nicht mehr in der Lage."
Erika Becker wohnt in einem hübschen kleinen Einfamilienhaus. Als sie 1968 hier eingezogen ist, erzählt die ehemalige Keramikerin und rückt ihre Nickelbrille zurecht, habe es hier noch eine sehr lebendige Nachbarschaft gegeben. Doch mit den Zeiten hätten sich auch die Nachbarn geändert, pflichtet Stefan Klose bei.
Becker: "Als der Möbelwagen vor der Tür hielt, stand zum Beispiel vor meiner Tür ein großer Blumenstrauß von Nachbarn, es waren hier viele wunderbare Leute. Aber ich habe gemerkt, vielleicht auch mit der Wende, sind die Leute alle mehr mit sich selber beschäftigt und es ist weniger geworden mit den Kontakten zu Nachbarn.
Also, es ist mit den Nachbarn nicht immer so, wie man sich’s wünschen würde und deswegen ist das natürlich ein gewisser Ersatz dafür. KLOSE: Naja, ich muss auch sagen, ich kenn’s ja noch aus DDR-Zeiten – sicherlich gab’s überall So und So – aber wir haben mehr miteinander geredet. Wir haben uns mehr im Haus, in der Hausgemeinschaft auch mehr geholfen und die Menschen waren mehr füreinander da, ist mein Gefühl heute."
Im Büro von Uwe Ehlert im Nachbarschaftszentrum "Klub 74" in Hellersdorf. Eigentlich ist der 52-jährige Projektleiter von "Wechselweise" ausgebildeter Fachinformatiker, doch die Arbeit mit Menschen liegt dem zupackenden und herzlichen Mann mit dem Schlüsselband um den Hals wesentlich mehr. Er ist ein Kümmerer mit offenem Ohr und einem Gespür für die Menschen - in einem Berliner Bezirk, der einerseits geprägt ist durch markante Plattenbausiedlungen. Auf der anderen Seite aber auch viel Grün bietet und Wohngebiete mit schmucken Einfamilienhäusern. Gegensätze, die das nachbarschaftliche Zusammenleben zwischen Hellersdorf-Marzahn und Kaulsdorf/Mahlsdorf erschweren.
Ehlert: "Vorurteile, dass man sagt – na ja – in der Großraumsiedlung. Wer weiß, was da für Leute wohnen. Genauso gibt es von der Großraumsiedlung welche, die sagen: Siedlungsgebiet, da wohnen doch nur eingebildete Schnösel, die haben alle ein Haus. Im Endeffekt haben die dieselben Probleme. unser Credo ist natürlich, wir helfen, wo es nur geht, aber auch ganz bewusst Nachbarschaften entstehen zu lassen. Auch unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zusammen zu bringen und Vorurteile abzubauen. Aus meinen über drei Jahren kann ich eine ganze Menge erzählen.
Wir hatten jemanden mit einem russischen Hintergrund gehabt, die hat sich hier bei "Wechselweise" gemeldet,. Ich konnte sie auch vermitteln an eine alte Dame, einmal die Woche beim Einkauf helfen. Die Dame war sehr skeptisch, nachher versteht die mich nicht, nachher bringt die mir irgendwas mit, die weiß doch gar nicht, was ich haben will. Ich hab gesagt, versuchen Sie es doch mal. Auch dieser Fall ist über zweieinhalb Jahre her, die verstehen sich mittlerweile so gut. Die feiern mittlerweile zusammen Geburtstag, da werden Sachen ausgetauscht, da werden Urlaubskarten geschrieben. Also auch da gilt es, Vorurteile abzubauen."
Becker: "Stefan, möchten Sie noch Kaffee?"
Klose: "Einen kleinen Schluck, gerne. Danke."
Zurück bei Erika Becker und Stefan Klose am Kaffeetisch. Wie so oft, wenn der 52-Jährige mit den Hausarbeiten, die die Seniorin aufgrund ihrer Herzprobleme nicht mehr allein schafft, fertig ist, sitzen die beiden noch bei einer Zigarette zusammen. Klose kommt jedes Mal extra aus Hellersdorf rüber.
Becker: "Ein bisschen schlechtes Gewissen habe ich, weil es ja heißt 'Wechselweise'. Und meine Hilfe für Stefan steht in keinem Verhältnis zu dem, was er für mich tut. Eine Arbeitshose, Jeans, die kaputt sind, zu flicken – sowas mache ich dann für ihn, aber das ist sehr unausgewogen, leider, aber so isses."
Klose: "Ich sag mal, ohne Frau Becker hätte ich sicherlich auch weniger Kuchen oder Eis im Sommer mal, so als kleine Belohnung. Ich bin jetzt seit einigen Jahren gesundheitlich angeschlagen – Bandscheibe, Herz, Psyche. Vor allem fällt mir die Decke zuhause auf den Kopf jetzt und hab mich da gemeldet und seitdem - tut mir gut, ich komme raus, helfen Menschen, merke auch, wie sie sich freuen und die Hilfe nötig ist - mir gibt es ein gutes Gefühl."
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