Nach #MeToo, #MeTwo und Co.

Wie das Twittern die Öffentlichkeit verändert

Illustration Hashtag
Wenn es im Netz laut genug brodelt, hören alle hin: Der Hashtag ist das Emblem einer neuen Debattenkultur. © imago/Ikon Images
Moderation: René Aguigah · 23.09.2018
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Wie beeinflussen Hashtags und Likes bei Twitter den Verlauf öffentlicher Debatten? Die Kultur- und Medienwissenschaftler Andreas Bernard und Johannes Paßmann und die Publizistin Christiane Frohmann analysieren die Rhetorik sozialer Netzwerke.
Spätestens seit #Aufschrei und #MeToo ist klar: Hashtags prägen unsere Debattenkultur, Twitter verändert unsere Öffentlichkeit. Die Frage ist nur: wie? Tragen Kampagnen, die auf prägnante Schlagworte fokussiert sind, zur Pauschalisierung und Verflachung von Debatten bei, oder sorgen sie dafür, dass Stimmen, die bisher wenig beachtet wurden, überhaupt Gehör finden?

Hashtags verwischen Unterschiede

Seit 2007 werden Nachrichten bei Twitter unter Schlagworten gebündelt. Für den Lüneburger Kulturwissenschaftler Andreas Bernard ist die Hashtag genannte Raute, die solchen Schlagworten vorangestellt wird, eine "Chiffre der Gegenwart". Der Hashtag stehe für "das Versprechen, wahrgenommen zu werden, Gehör zu finden, Interessen zu bündeln", sagt Bernard, dessen neues Buch "Das Diktat des Hashtags" in Kürze erscheint.
Links: Der Journalist, Autor und Medienwissenschaftler Andreas Bernard, aufgenommen am 22.06.2014 in Köln.
Rechts: Johannes Paßmann
Hashtags spitzen Debatten zu, sagt Andreas Bernard (links), aber sie geben ungehörten Stimmen ein Forum, meint Johannes Paßmann.© dpa / picture alliance / Horst Galuschka / Campus Verlag
Aber die Aufmerksamkeit habe ihren Preis, betont er im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. Das zeige zum Beispiel der Hashtag #MeToo, der seit Herbst 2017 eine weltweite Debatte über sexuelle Gewalt entfacht hat. Besonders heftig sei dabei immer wieder über Grenzziehungen diskutiert worden:
"Wo hört ein ungelenker Flirt auf, wo beginnt Missbrauch, ist es überhaupt redlich, über diese Grenzziehungen zu sprechen? Und meine Ausgangsthese war, dass die Zentrierung dieser Debatte um den Hashtag das Problem der Grenzziehung schon mitgeprägt hat. Wenn alle Aussagen, wenn sie gehört werden wollen, diesen Hashtag #MeToo haben müssen, verschwimmen gewisse Heterogenitäten und Differenzen und es wird Nivellierungseffekten Vorschub geleistet."

Follower verleihen Autorität

Der Medienwissenschaftler Johannes Paßmann hält dagegen, dass die enorme Reichweite solcher Debatten erst durch das Prinzip Hashtag möglich werde: "Viele Stimmen, viele Fälle kommen dadurch erst zum Vorschein und können dadurch überhaupt debattiert werden." Der Eindruck, dass unter dem Schlagwort #MeToo allzu unterschiedliche Erfahrungen und Vorfälle dargestellt wurden, als seien sie alle gleich zu bewerten, habe sich gerade nicht bestätigt, wenn man sich die Mühe machte, die Diskussionen im Detail zu verfolgen:
"Natürlich gibt es da einerseits Fälle, die sind sehr schrill, und darüber kann man streiten, aber andererseits gibt es ganz viele Fälle, bei denen es möglich wird, so etwas wie eine Perspektivübernahme einzunehmen. Und das finde ich für Social Media, denen oft unterstellt wird, dass sie die Kommunikation verdinglichen, doch sehr erstaunlich. Gerade diese Hashtags wie #MeToo, aber auch #MeTwo oder #BlackLivesMatter, gestatten es doch, sich in sehr verschiedene Perspektiven hineinzuversetzen, wenn man sie sich auf Twitter anguckt und nicht nur die Talkshow darüber."
Paßmann, der an der Universität Siegen lehrt, untersucht in seinem Buch "Die soziale Logik des Likes", welche Effekte Anerkennung und Gefolgschaft auf Gemeinschaften haben, die sich in sozialen Medien bilden. Die "Quantifizierung auf Social Media Plattformen" mache Hierarchien stärker sichtbar und lade sie charismatisch auf, so Paßmann. Die messbare Anzahl von Followern verleihe Autorität. Dabei habe sich in den letzten Jahren gezeigt, dass Aufmerksamkeit sich immer stärker auf einzelne besonders erfolgreiche Twitter-Persönlichkeiten konzentriere. Davon hätten auch Rechtspopulisten profitiert wie der Politiker Geert Wilders, der in den Niederlanden schon um 2010 der Twitter-Nutzer mit der meisten Resonanz gewesen sei.

Hashtags als Debattenimpuls

Angesichts der großen emanzipatorischen Utopien, die etwa die frühen Blogger mit sozialen Netzwerken verbanden, sei es "eine niederschmetternde Erfahrung", sagt die Autorin und Verlegerin Christiane Frohmann, dass auch rechte politische Bewegungen die neuen Medien erfolgreich für ihre Zwecke nutzen, und das "mitunter sogar tatsächlich origineller".
Christiane Frohmann
Provokante Hashtags locken Leute aus der Reserve, sagt die Publizistin Christiane Frohmann.© Deutschlandfunk Kultur
Was die polarisierende und pauschalisierende Wirkung von Twitter-Diskussionen betrifft, so betont Frohmann, die an der Freien Universität Berlin digitales Publishing lehrt, dass Hashtags nicht als inhaltliche Aussagen zu verstehen seien, sondern eher performativ: als "emotives Werkzeug, das die Leute aus der Reserve lockt". Ein provokativer Hashtag sei ein legitimes Mittel, um eine dringend nötige Debatte überhaupt in Gang zu bringen. Auf Twitter schreibt Frohmann:
"Freundliche Erinnerung: Begriffe sind das, was man definieren, Fakten das, was man belegen kann, Schlagworte (Hashtags) das, worüber man mit anderen reden möchte, obwohl man nur eine vage Vorstellung davon hat."

Cliquenbildung und "gerechter Zorn"

Twitter, sagt Christiane Frohmann, sei "kein Ort für letzte Worte oder für gültige Theorien". Auf Diskussionen, die dort beginnen, sollten möglichst ausführliche Artikel, Essays und Debatten im "Real Life" folgen. Angesichts einer zunehmend zersplitterten Öffentlichkeit, appelliert Frohmann an alle, die auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken unterwegs sind:
"Man muss sich klar machen, dass in der eigenen Clique im Netz ein Wissensstand herrscht, der schon einen Meter weiter links oder rechts nicht vorhanden sein kann, und sollte dann mit diesem gerechten Zorn, der sich gegen die Strukturen richtet, nicht einzelne Leute so stark attackieren, wenn man merkt, dass die gerade einfach auch einem Bären aufgesessen sind, den man vielleicht selbst drei Wochen vorher auch noch nicht gesehen hätte."
Wie sich die Grenzen von öffentlicher und privater Sphäre verschoben haben, seitdem Jürgen Habermas 1962 seine einflussreiche Analyse zum "Strukturwandel der Öffentlichkeit" publiziert hat, welche Agenten heute maßgeblich Öffentlichkeit herstellen und prägen und was politischer Aktivismus unter den Rahmenbedingungen sozialer Medien mit Marketing gemeinsam hat, auch darüber diskutieren Andreas Bernard, Johannes Paßmann und Christiane Frohmann.

Bücher zum Thema:

Andreas Bernard: Das Diktat des Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung
S. Fischer, erscheint: 24.10.2018, 96 Seiten, 10 Euro

Johannes Paßmann: Die soziale Logik des Likes. Eine Twitter-Ethnografie.
Campus Verlag, 2018, 388 Seiten, 29,95 Euro

Christiane Frohmann: Präraffaelitische Girls erklären das Internet.
Frohmann Verlag, 2018, 148 Seiten, 29,90 Euro

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