Nach Jamaika-Sondierung

Lindners FDP setzt auf disruptive Politik

Christian Lindner nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen
Christian Lindners (FDP) Geschäftsmodell orientiere sich nicht an der Funktionsweise traditioneller Parteien, meint Stephan Detjen © dpa / Michael Kappeler
Von Stephan Detjen  · 25.11.2017
Mit einem Mangel an gegenseitigem Vertrauen hat FDP-Chef Christian Lindner den Abbruch der Jamaika-Sondierung begründet. Stephan Detjen dagegen sieht die FDP auf einem Anti-Establishment-Kurs, eine Partei, die sich als die bessere Alternative für Deutschland präsentiert.
Am Donnerstag verstrich ein Jahrestag, der im Trubel dieser irren Tage kaum Beachtung fand. Vor 25 Jahren, am 23. November 1992, beschlossen die Grünen ihre Vereinigung mit der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung Bündnis 90. Der Deutschlandfunk erinnerte in einem Beitrag der Reihe Kalenderblatt daran, welche inhaltlichen Konflikte und kulturellen Klüfte für diesen schwierigen Zusammenschluss überwunden werden mussten. Deswegen steht das Datum für eine Entwicklung der deutschen Parteiengeschichte, die in diesen Tagen auf so spektakuläre wie dramatische Weise in Frage gestellt wird.
Seit der Gründung der Bundesrepublik haben sich Parteien als gesellschaftliche Integrationsagenturen verstanden, als Kompromissmaschinen, die darauf angelegt sind, unterschiedliche Milieus einer zunehmend heterogenen Gesellschaft in sich zu vereinen, widerstreitende Interessen und Anliegen zusammenzuführen und die Ergebnisse dieser innerparteilichen Prozesse politisch wirksam zu machen. Auch die FDP lebte bis zu ihrem parlamentarischen Exitus von 2013 in einer immer wieder neu austarierten Balance eines wirtschaftsliberalen Flügels, bürgerrechtlicher Kräfte und Restbeständen ihrer nationalliberalen Wurzeln.

Lindners Vorbilder: Kurz in Österreich, Macron in Frankreich

Die neue FDP unter Führung von Christian Lindner hat vor einer Woche demonstriert, dass sie nicht nur ihre eigenen Traditionen, sondern auch die hergebrachten Spielregeln parteipolitischen Handelns radikal in Frage stellt. Der Abbruch der Jamaika-Sondierungen war ein Akt disruptiver Politik. Er folgt einem Geschäftsmodell der digitalen Gründerszene: Der Begriff der Disruption steht hier für den Erfolg kleiner Unternehmen, die mit innovativen Techniken und der radikalen Absage an etablierte Spielregeln die Geschäftswelt umpflügen und einstige Marktführer in den Ruin treiben. So hat Christian Lindner seine Partei aufgebaut und in den Bundestag zurückgeführt. Sein Geschäftsmodell orientiert sich nicht an der Funktionsweise traditioneller Parteien, sondern an den neuen, von jungen, charismatischen Führungsfiguren geprägten Bewegungsparteien, die in anderen Ländern Europas politische Märkte erobert haben. Sebastian Kurz in Österreich, Emanuel Macron in Frankreich haben ihre Konkurrenten in jeder Hinsicht so alt aussehen lassen, wie Christian Lindner Union und Grüne am Ende der letzten Verhandlungsnacht in der Landesvertretung von Baden-Württemberg zurücklassen wollte.

FDP: Die bessere Alternative für Deutschland?

Ob diese Rechnung tatsächlich aufgehen wird, steht heute in den Sternen. Nicht nur die düpierten Verhandlungspartner, sondern auch die journalistischen Medien haben Lindner mehrheitlich als verantwortungslosen Zocker an den Pranger gestellt. Das aber dürfte ihn eher in dem Kalkül bestärken, dass sich gerade Protest und Unverständnis eines Establishments, zu dem in weiten Teilen seiner neuen Klientel auch "die Medien" gezählt werden, am Ende nur für ihn auszahlen. Schon in der Endphase des Wahlkampfes zielte Lindner erkennbar darauf ab, sich als die bessere, ehrenwertere Alternative für Deutschland zu präsentieren.

Die Implosion der etablierten Parteien

Politische Disruption setzt auf die Ermattung traditioneller Akteure in Politik und Gesellschaft, die von den sozialen, ökonomischen und technologischen Dynamiken unserer Zeit überfordert werden. Dem Erfolg der neuen Bewegungsparteien und ihrer Anführer in Frankreich und Österreich ging überall die Implosion etablierter Parteien voraus. Soweit ist es in Deutschland noch nicht gekommen.

Kompromissbereitschaft – Steinmeier erinnert an politische Kardinaltugenden

Die Mechanik des politischen Apparates hat sich in dieser Woche in Bewegung gesetzt. Mit dem Appell, sich der Verantwortung zu stellen, die mit der Beteiligung an Wahlen einhergehe, hat der Bundespräsident an hergebrachte Kardinaltugenden in der Politik erinnert. Sie lassen sich nicht aus den geschriebenen Regeln einer Verfassung ablesen, sondern prägen die politische Kultur eines Landes: Kompromissbereitschaft, Integrationsfähigkeit und der Wille, politische Gegensätze sowie kulturelle Gräben zu überwinden, um sich in den Dienst eines größeren Ganzen zu stellen.

Der hohe Preis der SPD

Dass sich die SPD von ihrem Genossen Steinmeier nun tatsächlich noch einmal in diesen Dienst nehmen lässt und an den von der FDP geräumten Verhandlungstisch zurückkehrt, entspricht einer Tradition, die gerade die Sozialdemokraten immer mit Stolz für sich beansprucht haben: nämlich immer dann, wenn es darum geht, einen Trümmerhaufen aufzuräumen, mit hochgekrempelten Ärmeln bereit zu stehen. Die SPD hat in den vergangenen zwölf Jahren einen hohen Preis dafür bezahlt. Den größten Gewinn erhoffen sich derweil die disruptiven Zocker in der Politik, die ihre Wetten längst auf ein enggültiges Scheitern dieser Regierungsbildung abgeschlossen haben.

Stephan Detjen, Chefkorrespondent von Deutschlandradio. Studierte Geschichtswissenschaft und Jura an den Universitäten München, Aix-en-Provence sowie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Rechtsreferendariat in Bayern und Redakteur beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1997 beim Deutschlandradio, zunächst als rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe. Ab 1999 zunächst politischer Korrespondent in Berlin, dann Abteilungsleiter bei Deutschlandradio Kultur. 2008 bis 2012 Chefredakteur des Deutschlandfunk in Köln. Seitdem Leiter des Hauptstadtstudios Berlin sowie des Studios Brüssel.

© Deutschlandradio / Bettina Straub
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