Nach der Flut ist vor der Flut

Von Jan Uwe Stahr · 13.08.2007
Es war eine der schwersten Katastrophen, die Deutschland je erlebt hat: Gewaltige Wassermassen schieben sich im August 2002 durch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg und hinterlassen eine Spur der Zerstörung. An den Zuflüssen der Elbe reißt die Flut ganze Dörfer hinweg. Auch Dresden und vielen andere Städte versinken im Hochwasser.
Fünf Jahre danach sind die verheerenden Schäden an Häusern, Brücken und Straßen weitgehend behoben. Doch ist das Land vorm Wasser sicher? Können fluten dieses Ausmaßes nicht ein einmal solche Schäden an Menschen, Landschaft und Material anrichten?

"Wir haben Wassereinbruch, das Wasser läuft über, die Müglitz läuft über und die Brücken drohen wegzubrechen, unterhalb von Geising."

12. August 2002: Notruf aus dem Ort Geising im Erzgebirge. Sintflutartige Regenfälle haben in den sächsischen Gebirgsregionen Bäche und kleine Flüsse in reißende Ströme verwandelt.

Etwa 20 Kilometer unterhalb von Geising donnert die Müglitz durch das enge Tal von Weesenstein. Mit ohrenbetäubendem Getöse und infernalischer Gewalt reißt das Wasser nicht nur die Straßen und die Brücke des kleinen Ortes hinweg, sondern auch elf Häuser und damit fast die gesamte Ortsmitte. Nicht alle Bewohner können rechtzeitig fliehen: Eine Familie kauert hilflos auf ihrer Hausruine - inmitten der tosenden Flut. Die Bilder aus Weesenstein erschüttern ganz Deutschland. Sie sind der Auftakt zu einer Flutkatastrophe, die sich innerhalb der nächsten Tage und Wochen auf die gesamte Elbe und ihre Nebenflüsse ausdehnt.

Fröhlich plätschert die Müglitz durch Weesenstein. Vier Meter breit und gerade mal 30 Zentimeter tief.

"Damals hat das ganz einfach keiner für möglich gehalten, ich auch nicht, sag ich ganz ehrlich, dass soviel Wasser hier runter kommen kann."

Jörg Glöckner, Bürgermeister der Gemeinde Müglitztal, steht vor einer großen Schautafel . Sie zeigt Fotos der Weesensteiner-Ortsmitte vor der Flut. Jetzt kann man vergleichen. Weesenstein hat sich sehr verändert, sagt Glöckner.

"Ganz konkret hatten sie natürlich auf der anderen Seite dieser Strasse zum Fluss hin auch Häuser stehen, die zum Teil ganz zerstört wurden, wo nicht mal mehr ein Stein da war. Und diese Grundstücke hat man nicht wieder aufgebaut. Der Freistaat Sachsen hat diese Flächen aufgekauft."

Bürgermeister Glöckner zeigt auf die neue Uferpromenade. Wo bis zum Sommer 2002 elf, zum Teil Jahrhunderte alte Wohnhäuser standen, verläuft jetzt ein Spazierweg. Eingerahmt von jungen Lindenbäumen und Rasenflächen. Die jetzt so harmlos wirkende Müglitz wurde eingefasst in drei Meter hohe Stahlbetonmauern, die mit Naturstein verblendet sind.

"Und Sie sehen natürlich, dass der Fluss in seiner Größe, dass das Bachbett größer geworden ist, dass man dem Fluss mehr Raum gibt und diesem Raumbedürfnis des Flusses musste natürlich Rechnung getragen werden."
Bächen und Flüssen mehr Raum zum Ausbreiten geben – diese Maxime gehört zum neuen Hochwasserschutzkonzept, das sich der Freistaat Sachsen nach der Jahrhundertflut von 2002 verordnet hat. Außerdem wurden die sogenannten Hochwasserrückhalteräume stark vergrößert. Das heißt: In den vorhandenen Trinkwassertalsperren werden jetzt zusätzliche Staureserven freigehalten, die das Hochwasser auffangen sollen. Zusätzlich zu den vorhandenen Talsperren sind an den Oberläufen der sächsischen Gebirgsflüsse neue Hochwasserrückhaltebecken geplant. 13 Becken sollen bis zum Jahre 2013 gebaut werden 15 weitere in den Jahren danach.

Fertig gestellt wurde bisher erst ein einziges dieser Rückhaltebecken. Das 40 Millionen Euro teure Bauwerk bei Lauenstein soll nun die Sturzfluten in der Müglitz entschärfen. Trotz der kostspieligen Baumaßnahmen hat man den Weesensteinern nicht erlaubt, ihre elf zerstörten Häuser wieder aufzubauen. Denn vor einer "Jahrhundertflut", wie die vor fünf Jahren, könnten weder Hochwasserrückhaltrebecken noch Stahlbetonmauern sie ausreichend schützen, sagt Bürgermeister Glöckner.

"Das war natürlich schwierig, das den Leuten klarzumachen, dass man diese Grundstücke nicht wiederaufbaut. Aber letztendlich musste die Vernunft siegen und die hat, denke ich, auch gesiegt, weil eh man sich das noch mal antut, egal wann das jetzt passiert – sie wissen es nicht und auf diese Sachen müssen sie ganz einfach Rücksicht nehmen."

Die flutgeschädigten Weesensteiner bekamen neue Wohnhäuser in sicherer gelegenen Nachbarorten. Diejenigen, die blieben, können sich auch in Weesenstein nun sicher fühlen, sagt der Bürgermeister. Wenn heute ein Hochwasser droht, bekommt Jörg Glöckner nun frühzeitig Bescheid, kann dann die Feuerwehr alarmieren und die Bürger warnen.

"Ja, da kriegen sie ne SMS, die kommt von der Landeshochwasserzentrale und da gibt’s nen festgelegten Text, da steht drauf: Achtung Hochwasser Eilbenachrichtigung in diesem Fall für die Nebenflüsse der oberen Elbe. Da gibt’s ne vierstellige Codenummer dazu und auf diese Codenummer müssen sie sich innerhalb von 60 Minuten zurückmelden. Wenn sie das nicht tun, dann gibt es schlicht und ergreifend Ärger."

Die Flutschäden 2002 wären deutlich geringer ausgefallen, wenn die Behörden die Bewohner der gefährdeten Gebiete rechtzeitig und genau informiert hätten. Das ergab ein Untersuchungsbericht, den die sächsische Landesregierung nach dem verheerenden Hochwasser anfertigen ließ. Daraus hat man inzwischen die Konsequenzen gezogen.

"Information des Hochwasser-Schutzzentrums vom 22.Juli 2007. Für alle Flussgebiete konnte Hochwasserentwarnung gegeben werden."

Telefonische Informationen aus dem sächsischen Landeshochwasserzentrum. Deutschlands modernstes Hochwasser-Nachrichten und Meldezentrum befindet sich unweit des Dresdner Flughafens in einer unscheinbaren, ehemaligen Kommandantenvilla der Sowjet-Armee. Seine Existenz verdankt es der Flutkatastrophe vor fünf Jahren. Zuvor gab es in Sachsen vier Hochwasser-Warnämter. Aber die versagten kläglich, als es darauf ankam. Weil ihre Hochwasser-Messpegel durch den Stromausfall bei der Flut zum Teil lahmgelegt waren. Aber auch weil Informationswege viel zu lang waren, sagt Antje Peter stellvertretende Referatsleiterin im Landeshochwasserzentrum
"Vor 2002 hatten wir immer ein sogenanntes Schneeball-Prinzip, um Hochwasser-Informationen zu verteilen, wir haben das immer nur bis zum Regierungspräsidenten gegeben, vom Regierungspräsident ging's an die Landratsämter und vom Landratsamt an die Gemeinden."

Und wenn die Amtsstuben am Wochenende nicht besetzt waren, gingen die Alarmmeldungen gar nicht weiter. Das ist nun anders. Für das neue Landeshochwasserzentrum wurde ein neues, sicheres Messpegelnetz aufgebaut, das online frische Daten liefert, auch bei Stromausfall. Außerdem wurden die Informationswege radikal verkürzt. Nun werden die Flussanlieger sofort und direkt vor einem drohenden Hochwasser gewarnt. Per Fax und SMS.

"Sobald wir die Gefahr erkennen, hat der Bürgermeister zehn Minuten später oder eine viertel Stunde später eine Warnung von uns auf dem Tisch."

Über tausend Empfänger in allen sächsischen Flussgebieten sind an das System angeschlossen. Behörden, Städte, Gemeinden aber auch hochwassergefährdete Betriebe und Anwohner. Weitergehende, aktuelle Informationen finden sie dann auf den Internetseiten des Hochwasserzentrums. Dort sitzen bei Hochwassergefahr bis zu fünf Hydrologen an den Computern. Errechnen aus Niederschlagsprognosen der Wetterdienste und den Online-Daten ihres Messpegelnetzes blitzschnell die zu erwartende Hochwasserstände für die betroffenen Flussabschnitte.

Auch der Informationsfluss der Hochwasserdaten aus dem Nachbarland Tschechien, am Elb-Oberlauf, wurde deutlich verbessert. Dadurch können Hochwasserwarnmeldungen nun bis zu 60 anstatt wie früher 24 Stunden im Voraus gegeben werden, sagt Antje Peter. Auch für die sächsischen Nebenflüsse der Elbe soll das Landeshochwasserzentrum möglichst frühzeitige und gebietsgenaue Warnungen geben

"Wichtig ist dann aber auch, dass die Niederschlagsvoraussagen so präzise sind, dass wir darauf eine Warnung aufbauen können."

Doch genaue Niederschlagsprognosen sind noch immer ein Schwachpunkt. Zumindest im Sommer. Denn die sommerlichen Gewitter mit Starkregenfällen sind zumeist lokal sehr begrenzt. Und können von den Wetterdiensten oft nicht genau vorausgesagt werden. Ein kräftiger Gewitterregen kann aber ausreichen, um kleine Gebirgsflüsse, wie zum Beispiel die Müglitz, schnell und gefährlich anschwellen zu lassen.

"Sie können heute ins Internet gehen und entlang der Elbe flurstück-genau feststellen, bei welchem Hochwasser-Niveau ihr Grundstück betroffen ist. Ich glaube, das ist ne Leistung, die hat viel Geld gekostet das ist en Dienstleistung für den Bürger, für das Unternehmen, für die Katastrophenschutzkräfte, wenn es zum Beispiel um Fragen der Evakuierung geht oder ähnliches, wo man diese Medien benutzen kann."

Sagt Sachsens Umweltminister Stanislaw Tillich. 26 Millionen Euro hat er für die 545 neuen Hochwasser-Gefahrenkarten ausgegeben. Staatliche Vorsorge plus Eigenvorsorge – auf diesen beiden Pfeilern wurde das neue Hochwasserschutzkonzept gebaut. Deshalb investiert das Land nicht nur in neue Rückhaltebecken, sondern auch in technische Ausstattung freiwilliger kommunaler Wasserwehren und in die Schulung kleinerer und mittlerer Betriebe in Sachen praktischer Hochwasser-Schutz. Einen 100-prozentigen Schutz vor Hochwasser wird es niemals geben, sagt der Umweltminister, deshalb gehe es darum, die Schäden wenigstens zu begrenzen. Auf sechs Milliarden Euro wurden die Flutschäden von 2002 allein für Sachsen geschätzt. Da wirken die 215 Millionen Euro, die in Sachsen seit 2003 für den vorbeugenden Hochwasserschutz ausgegeben wurden, fast bescheiden. Weitere 240 Millionen sollen bis 2008 noch investiert werden. In weitere Wasserrückhaltebecken, in neue Deiche. Aber auch in den Aufkauf landwirtschaftlich genutzter Flächen, die den Flüssen zurückgegeben werden sollen, als Ausbreitungsraum für Hochwasser. Ein schwieriges Geschäft sei das, räumt Umweltminister Tillich ein

"Ich muss heute sagen, das war damals viel einfacher, nachdem das Hochwasser dort war. Weil viele das damals als wertlos betrachteten. Heute sieht die Situation fünf Jahre später schon wieder anders aus. Es ist wesentlich komplizierter. Ich glaube, dass wird einer der großen Herausforderungen insgesamt bleiben, wenn man mit dem Hochwasser umgehen will, dass man dort, wo es möglich ist, Raum schafft."

Sonst schafft sich der Fluss – wie bei der Flut vor fünf Jahren - seine Ausbreitungsräume bei Hochwasser selber. Und zwar dort, wo die Deiche am schwächsten sind. Wie zum Beispiel in Röderau-Süd. Dem Neubaugebiet mit 450 Einwohnern, das 1990 in einer Elbaue errichtet worden war und im Sommer 2002 in der Elbe versank. Nach der Flut entschied das Land Sachsen den gesamten Ort umzusiedeln. Und in stark hochwassergefährdeten Gebieten keine Baugenehmigungen mehr zuzulassen. Auch im Nachbarland Sachsen-Anhalt eroberten sich die Elbe und ihre Nebenflüsse damals ihre Ausbreitungsräume. Mit verheerenden Folgen. Wie zum Beispiel in in Waldersee. Einem 2800 Einwohner zählenden Vorort von Dessau.

Fünf Tage kämpfen die Bürger von Waldersee gegen die immer höher steigende Flut, zusammen mit Bundeswehrsoldaten und Feuerwehrleuten. Versuchen die für Einsatzfahrzeuge unzugänglichen über 200 Jahre alten Deiche zu verteidigen. Vergeblich: Am Sonntag, dem 18. August, passiert es dann. Der Deich bricht.

Innerhalb von wenigen Stunden läuft das in einer Senke zwischen den Flüssen Elbe und Mulde gelegene Waldersee voll – wie eine Badewanne. Erst nach zwei Wochen dürfen die evakuierten Waldenseer zurück in ihren Ort. Er ist kaum noch wiederzuerkennen. Die blühenden Gärten sind unter einer graubraunen Schlammschicht erstickt. Grundmauern und Wände ihrer Häuser haben sich mit Wasser und ausgelaufenem Heizöl vollgesogen. 900 von 1000 Häusern sind vom Wasser schwer beschädigt. 21 davon so sehr, dass sie nicht mehr zu reparieren sind und abgerissen werden müssen.

Sommer 2007: Fröhliche Menschen schlendern über den Festplatz vor dem Rathaus. Ein großes Festzelt, Bier- und Imbissbuden sind hier aufgebaut. Dazu kleine Karussells, Geschenkartikel- und Infostände. Viele Männer tragen dunkelblaue Feuerwehruniformen.

"Heute wird gefeiert 100 Jahre Bestehen freiwillige Feuerwehr und fünf Jahre im Prinzip als Hochwasser-Dank-Fest, mehr oder weniger, also Hochwasserfest, nennt sich das."

Sagt Dirk Ryl. Stahlbauschlosser aus Waldersee. Manches in Waldersee ist heute viel schöner als vor der Flut findet er.

"Wir haben erstmal schöne Straßen dadurch, das war ja hier alles Standard Feldweg sage ich mal und dass natürlich alles schön bunt ist und wieder schön farbenfroh, im Prinzip schöner ist als vorher. Und die wenigsten hatten ja die Möglichkeit, finanziell jetzt, das Haus jetzt rundum in Stand zu bringen. Und durch die ganzen Leistungen von Versicherungen und Land konnte man das halt machen."
Über 40 Millionen Euro an öffentlichen Wiederaufbaugeldern flossen in den schwer beschädigten Ort mit seinen 2800 Einwohnern. Nicht gerechnet, die Gelder der Versicherungen und die privaten Spenden. "Die Walderseer haben jetzt goldene Türklinken" sagen manchmal die Neider aus Nachbargemeinden, die damals vom Hochwasser verschont blieben. Aber goldene Türklinken gibt es hier nicht. Und hinter vielen bunten Fassaden wohnen Menschen, die Unersetzliches verloren haben.

"Ich hab meinen Mann noch dadurch verloren, der hat nen Herzinfarkt bekommen, der ist gar nicht wieder reingekommen in das kaputte Haus. Es war schon sehr schwer, aber es muss immer weiter gehen."

"Wir sehen hier Elbauelandschaften und weit und breit keinen Fluss, aber Waldersee ist ringförmig von Deichen umgeben. Im Norden etwa drei Kilometer entfernt fließt die Elbe und im Westen, im Südwesten fließt die Mulde direkt dran vorbei. Und die Flüsse, wenn sie Hochwasser führen bedrohen also den Waldersee."

Ortsbürgermeister Lothar Ehm steht auf dem Deich und schaut über grüne Wiesen und Weiden. Schon vor dem Hochwasser vor fünf Jahren hatte er die zuständige Landesregierung von Sachsen-Anhalt immer wieder gewarnt: Dass die über 200 Jahre alten Deiche marode sind und einer großen Flut nicht mehr standhalten können. Vergeblich. "Ich wurde nur belächelt" erinnert sich der 59-jährige Ehm. Nach der Flutkatastrophe im August 2002 belächelte ihn dann keiner mehr. Der dringend notwendige Neubau der nun endgültig zerstörten Deiche ließ dennoch auf sich warten.

"Es tat sich ja nichts, es tat sich einfach nichts. Es war nirgendwo ein Signal zu sehen, dass mit der Reparatur alsbald begonnen wird. Und das haben wir dann ein bisschen dringender und massiver gefordert."

Mit einer fünf Meter langen Unterschriftenliste fuhr eine Abordnung aus Waldersee erst in die Landeshauptsstadt Magdeburg, dann nach Berlin zum Kanzleramt und schließlich zur Vertretung der Europäischen Union. Das half: Im Frühjahr 2003 wurde endlich mit dem Deich-Neubau begonnen. Den Auftrag bekam ein Billig-Anbieter aus Niedersachsen. Die Walderseer waren skeptisch:

"Wir haben gesagt, es kann nicht sein, dass diese Firma insgesamt billiger anbietet als unsere Firmen überhaupt das Material einkaufen können."

Nach knapp einjähriger Bauzeit waren die Deiche fertig. Doch das neue, acht Kilometer lange Hochwasserschutzbauwerk entpuppte sich als einziger Pfusch: Meterlange und über einen Meter tiefe Risse zeigten sich. Die Walderseer wollten das nicht hinnehmen. Wieder gab es Ärger mit den Behörden. Gutachten und Gegengutachten wurden erstellt. Schließlich wurde der neue Deich nochmals aufgerissen und nachgebessert. Jetzt ist er dicht, versicherten die Gutachter dem kämpferischen Ortsbürgermeister Ehm.

"Man muss das glauben. Wir glauben das auch. Auch wenn man letztendlich kein gutes Gefühl dabei hat. Sie können sich vorstellen: Wenn sie irgendetwas kaufen und das hat Mängel und Sie lassen die Mängel reparieren. Sie sind am Ende nie so glücklich, als wenn sie etwas einwandfreies Neues bekommen."

Fast ein Drittel der 1300 Kilometer Deiche in Sachsen-Anhalt wurden nach der Flut von 2002 inzwischen verstärkt. Entsprechen jetzt der neuen DIN-Norm, in die bereits die Erfahrungen der Jahrhundertflut einflossen. Doch fast überall, wo der Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft - kurz LHW einen Deich ins Hinterland zurückverlegen will, um so dem Fluss mehr Raum zu schaffen, steckt man noch im Planungs- und Genehmigungsstadium. Auch im Biosphärenreservat Lödderitzer Forst. Hier arbeitet das LHW zusammen mit dem Naturschutzverband WWF an Sachsen-Anhalts größtem Deichrückverlegungsprojekt.

"Wir sind jetzt also hier an der Alten Elbe, das ist so einer von meinen Lieblingspunkten. Weil man bei dem Job manchmal nicht immer bloß Freude hat. Sondern auch mal was braucht, wo man sich auch mal zurück sich lehnen kann und einfach diesen Stand einfach auf sich wirken zu lassen."

Astrid Eichhorn, Projektleiterin beim WWF steht auf einem alten Elbdeich, mitten im Wald. Blickt auf den grünen Dschungel des alten Elbarms und auf eine prächtige Biberburg. In Zukunft soll der Lebensraum der Flußauenbewohner hier um gut 600 Hektar vergrößert werden. Der altersschwache, über hundert Jahre alte Deich soll für die Elbe geöffnet und gut einen Kilometer weiter landeinwärts durch einen neuen nach neuester DIN-Norm gebauten Deich ersetzt werden.

"Wir versuchen durch diese Rückverlegung einmal aus der naturschutzfachlichen Sicht diese natürlichen Bedingungen wieder zu schaffen. Auf der anderen Seite haben wir natürlich eine Möglichkeit auch, wie zwei Fliegen mit einer Klappe, so will ich mal formulieren, einen Hochwasserschutz. Also Naturschutz und Hochwasserschutz sind hier im Einklang."

Insgesamt 15 Millionen Euro haben der WWF und das Land Sachsen gemeinsam für das Deichrückverlegungsprojekt zur Verfügung gestellt. Fünf Millionen kosten die Waldflächen, die künftig dem Elbhochwasser überlassen werden und zehn Millionen der neue Deich, der die Anwohner des Lödderitzer Forstes zukünftig schützen soll. Doch die wollen nicht, dass sich die Elbe zukünftig weiter ausdehnen kann.

"Bei uns kommt der Gedanke, was da kommt oder die Idee, nicht ganz so positiv, weil natürlich das Wasser sehr, sehr weit an unser Dorf heranrückt, was für uns natürlich sehr neu ist. Also wenn’s dann zur Überflutung kommt, dann steht das Wasser symbolisch gesagt bei uns vor der Haustür."

Sagt Bürgermeister Kromer von der 240 Einwohner zählenden Gemeinde Lödderitz. Die Lödderitzer – die bei der Flut vor fünf Jahren verschont blieben – befürchten, dass das Hochwasser künftig unter dem neuen Deich hindurch in ihre Keller sickern könnte. Sie sähen es daher viel lieber, wenn der alte Deich nahe am Fluss bliebe.

Die neuen Überschwemmungsgebiete im Lödderitzer Forst würden eine Flutwelle der Elbe ohnehin nur um wenige Zentimeter absenken, argumentieren die Anwohner. Davon hätten sie praktisch nichts. Nur einige wenige sehen das anders, wie zum Beispiel ein junger Agraringenieur aus dem Nachbardorf Kühren.

"Das ist das, was ich ganz wichtig finde, als Anwohner, dass ich einfach über den Tellerrand hinaussehe. Dass ich mir sage: Ja ,okay, wenn das hier auch nur drei Zentimeter sind, aber vielleicht sind es dann im Raum Dessau Wittenberg noch mal drei Zentimeter und im Raum Torgau fünf Zentimeter und plötzlich habe ich mehr als zwanzig Zentimeter – und zwanzig Zentimeter heißt …"

In vielen, teils feindseligen Bürgerversammlungen haben Astrid Eichhorn vom WWF und die Fachleute vom Landesbetrieb für Hochwasserschutz Kompromisse mit den Anwohnern ausgehandelt. Nun endlich, fünf Jahre nach der Flutkatastrophe, steht der Plan für die Deichrückverlegung am Lödderitzer Forst. Nächstes Jahr soll mit der Umsetzung begonnen werden. Weitere Deichrückverlegungsprojekte sollen folgen. In Sachsen-Anhalt und in Sachsen sind sich die Verantwortlichen einig. Das Ziel: Schutz vor einem neuen "Jahrhunderthochwasser" zu erreichen ist nicht in fünf Jahren zu schaffen.